Schwere Jungs am runden Tisch

Von Arndt Peltner · 13.12.2012
Los Angeles hat jahrzehntelang blutige Gangkriege erlebt. Au dem Höhepunkt des Terrors durch Jugendbanden wurden fast 2000 Menschen pro Jahr ermordet. Inzwischen ist die Jugendgewalt drastisch zurückgegangen - nicht zuletzt durch verstärkte Zusammenarbeit von Polizei, Kirchen und Hilfsorganisationen.
"Gangs waren schon immer ein Teil von LA. Viele Leute beschreiben Los Angeles als die Gang-Hauptstadt der Welt. Innerhalb der Stadtgrenzen haben wir schätzungsweise 40.000 Gang Mitglieder in rund 400 Gangs. Im Los Angeles-Bezirk mit etwa 10 Millionen Einwohnern schätzt man die Zahl auf 100.000 Mitglieder in rund 1000 verschiedenen Gangs. Das ist also ein vielschichtiges und komplexes Problem für uns."

Susan Lee ist die Direktorin einer gemeinnützigen Initiative im Bereich Gewaltprävention in Los Angeles. LA ist die erste amerikanische Großstadt, die das Problem der Ganggewalt offen und global angeht. Nicht nur mit polizeitaktischen Manövern, sondern durch Prävention und Intervention. Schon vor ein paar Jahren wurde ein Zusammenschluss wichtiger städtischer, gemeinnütziger und kirchlicher Gruppen gegründet, die alle im Bereich Gewaltprävention arbeiten, gegründet von Billie Weiss, die das Gewaltproblem als Problem der allgemeinen Gesundheit einstuft:

"Der öffentliche Gesundheitsansatz besagt zuallererst, dass wir herausfinden müssen, was in der Kommune passiert, damit wir die Frage beantworten können, warum die Leute nicht gesund sind. Wenn man so auf die Dinge schaut, sieht man, dass Gewalt die Haupttodesursache für 44-Jährige und Jüngere ist. Es gibt also mehr Opfer der Altersklasse durch Gewalt als durch AIDS, Krebs oder Herzerkrankung oder sonstwas. Wir haben sogar mehr Wirbelsäulenverletzungen durch Schusswaffen als durch Autounfälle. Das ist das größte Problem in den betroffenen Vierteln. Also müssen wir es so einstufen wie jede andere Epidemie."

Eine weitere Initiative, die sich mit der Jugendgewalt befasst, sind die Homeboy Industries, vor mehr als 20 Jahren vom damaligen Pastor Gregory Boyle gegründet. Er wollte in den frühen 90ern nicht länger zusehen, wie sich in seinem Stadtteil junge Menschen selber umbrachten. Anfangs als Jobtrainingprogramm gedacht, entwickelte sich Homeboy Industries schnell zu einem umfassenden Hilfsangebot für aussteigewillige Gangmitglieder.

"Ich hatte damals die Wahl, entweder meinen Kopf in den Sand zu stecken oder meine Ärmel hochzukrempeln. Ich habe mich dafür entschieden, die Ärmel hochzukrempeln. Schritt für Schritt haben wir überlegt, was wir machen können. Seinerzeit gab es acht Gangs, die sich bekriegt haben. Wir haben mit einer Schule für Gangmitglieder angefangen, danach Job-Programme angeboten, dann Entfernung von Tätowierungen ermöglicht, Geschäftsmodelle aufgebaut, psychologische Fallbetreuung angeboten."

Der Neubau, in dem Homeboy Industries untergebracht ist, liegt am Rand von Downtown Los Angeles. Ein einstöckiges Gebäude. Links der Eingang zum Homegirl Café, daneben geht es in den kleinen Laden, wo Shirts und Baseball-Kappen mit dem Logo des Projekts verkauft werden. Rechts ist die Tür zum Servicebereich von Homeboy: Beratung, Jobhilfe, erste Kontaktmöglichkeiten, Therapieangebote, Tätowierungsentfernung.

Auf dem Fußgängerweg und im Eingangsbereich stehen Dutzende tätowierte und zumeist muskulöse junge Männer, vor allem Latinos. Dennoch wirkt die Lage eher entspannt. Besucher werden freundlich begrüßt.

Daniel, ein Anfang Zwanzigjähriger sitzt auf dem Stuhl im kleinen Untersuchungsraum von Homeboy Industries. Es ist die einzige Einrichtung in den USA, die kostenlos Gang-Tattoos entfernt. Der Arzt Adrian Asaveda erklärt ihm genau, was passieren wird.

Asaveda ist einer der zahlreichen Ärzte, die hier ehrenamtlich mehrmals im Monat arbeiten. Zwei Jahre lang muss Daniel alle paar Wochen wiederkommen, damit das Tattoo endgültig verschwindet.

Es ist keine rein kosmetische Prozedur: Das Entfernen von Gang-Tattoos kann lebensrettend in einer Stadt wie Los Angeles sein. Denn nach wie vor werden aussteigewillige Gangmitglieder von ihren ehemaligen Gruppen gejagt: Ein Tattoo wirkt da wie ein Mitgliedsausweis auf der Haut.

"Ich habe allerhand Gang-Tattoos, Ethno-Ästhetiks, ein 666 auf dem Kopf, ein englisches E, Doppelhörner auf der Stirn. Das schmerzt, glaub mir. Jedes Mal, wenn der Laser dich trifft, bringt das Tränen hoch, es tut total weh. Wenn ich das früher gewusst hätte, wie die Tätowierungen auf andere wirken und wie sehr es schmerzt sie wegzubekommen, hätte ich es nicht gemacht."

Ivy Navarette ist eine Mittzwanzigerin. Sie arbeitet im Homegirl Café, ein Programm, das sich gezielt an aussteigewillige Frauen und Mädchen wendet. Immerhin sind fast 30 Prozent der Gangmitglieder weiblich. Nur wenige Hilfsprogramme konzentrieren sich auf sie.

"Ich bin hierhergekommen, nachdem ich aus dem Gefängnis entlassen wurde. Damals wusste ich nicht, wohin. Ich erzählte Father G. dass ich arbeiten wolle, dass ich clean und nicht auf Drogen sei. Er meinte 'Ok, Mädel, du willst einen Job, hier hast du einen Testtag. Und hier ist eine Sears-Einkaufskarte, kauf dir ein paar Klamotten.' Father G. war der erste Mann, der mir half, mit Kleidung und allem, was ich brauchte."

Eine kleine Kirche an der South Normandie Avenue, oberhalb von South Central LA. Noch sind die Türen verschlossen. Links neben dem Gotteshaus gibt es eine christliche Schule. Auf der anderen Seite der Straße liegt der Pausenhof mit spielenden Kindern, die Schuluniform tragen. Ein großer SUV fährt vor. Kelly Dillon steigt aus.

Sie ist eine der Mitarbeiterinnen von Second Call, einer Organisationen, in der Männer und Frauen arbeiten, die selbst jahrelang Angehörige von Gangs waren. Sie alle haben ihre Leben neu ausgerichtet. Jetzt versuchen sie, aufgrund ihrer Erfahrungen anderen zu helfen. Kelly Dillon saß wegen Mordes hinter Gittern.
Sie selbst hat das Gang-Leben auf den Straßen von LA und im Gefängnis durchlebt:

"Im Alter von neun Jahren hing ich schon mit den Gangs in meiner Nachbarschaft rum. Ich war auf der Straße, mit anderen kämpfend, Marihuana rauchend, trinkend, leichtsinnig. Darum bin ich hier, um andere davon abzuhalten. Ich verstehe ja, warum ich da draußen war, die Gründe und Motive, warum ich da mitgemacht habe. Aus Wut und Ablehnung, eine kaputte Familie, was auch immer. Da gab es viel, warum ich da draußen war. Und weil ich das verstehe, kann ich vielleicht helfen."

Im Keller der kleinen Kirche treffen sich an jedem Donnerstagabend die Mitglieder der Gruppe, um aussteigewilligen Jugendlichen und ihren Angehörigen zu helfen. Die Kirchenleitung stellt die Räumlichkeiten zur Verfügung, einige Mitglieder von Second Call sind hier in der Gegend zu Hause. Die Veranstaltungen sind öffentlich. In einer Reihe von sogenannten Lebensschulungen werden ehemalige Gangmitglieder auf ein Leben jenseits der Gruppe vorbereitet. Es geht um Aufarbeitung der Vergangenheit, aber auch um ganz alltägliche Dinge wie Kontoführung, Einkaufen, Jobsuche.

Heute ist rund ein Dutzend junger Männer und Frauen gekommen. Geleitet wird das Treffen von John Hario Jr., einem übergewichtigen Schwarzen mit breitem Lächeln im Gesicht. Er spricht jeden an, bohrt nach, will zum Reden bringen.

"Es hilft einem, sein Leben zu ordnen und Lebensgrundlagen zu erlernen, damit man raus in die Welt gehen und produktiv sein kann. Meine Zielgruppe setzt sich aus jungen Männern und Frauen zusammen, die in gestörten Familien aufgewachsen sind. Wir sind jetzt hier, um sie darin zu bestärken, ihre Ausbildung zu machen, Babies erst dann zu bekommen, wenn man auch dazu in der Lage ist, zu heiraten und eine Familie zu haben - und nicht schon mit 15."

South Central LA. Der Stadtteil gehört zu den sozialen und kriminellen Brennpunkten der Stadt. Haustüren und Fenster der Bungalows und Wohnhäuser sind vergittert. In den Corner Stores, den kleinen Lebensmittelläden an der Ecke, sitzt der Verkäufer hinter dickem kugelsicheren Glas. In den Seitenstraßen bellen in unzähligen Vorgärten Hunde, zumeist Pitbulls und Kampfhunde. Tagsüber an einem sonnigen Nachmittag wirkt alles friedlich, doch jeder weiß hier, dass man genau aufpassen muss, was um einen herum geschieht. Polizeisirenen heulen auf, Polizeihubschrauber überwachen 24 Stunden am Tag das Gebiet. Hier begannen vor 20 Jahren die Los Angeles Riots, die Unruhen nach dem Freispruch der Polizisten im Rodney King Prozess.

"Unsere Arbeit hat sich seitdem drastisch verändert. Wenn ich das vergleiche mit den 80er-, 90er-Jahren, als Crack-Kokain, PCP weit verbreitet waren und der Drogenkrieg eine Gewaltwelle hervorrief. Das Polizei Department war damals viel kleiner. Deshalb beschränkte sich die Polizeiarbeit in Bezug auf die Gangs nur auf Zerschlagung. Nach einer Schießerei fuhren wir in eine Nachbarschaft mit Bewährungshelfern. Wir waren vor Ort und schrieben jedem für alles Strafzettel. Jeder, der das Gesetz brach, wurde verhaftet. Damit haben wir allerdings auch einen Großteil der Community gegen uns aufgebracht."

Bob Green ist mit Ende 50 Veteran der Polizeiarbeit. Er ist von der Richtigkeit des neues Weges in Los Angeles überzeugt, um der Ganggewalt Herr zu werden. Polizeiarbeit, unterstützt von Prävention und Intervention, Zusammenarbeit mit ehemaligen Gang-Mitgliedern, die Zugang zu Gangs und Nachbarschaften haben. Was lange Zeit für Polizisten undenkbar war, wird jetzt erfolgreich praktiziert.

"Es geht um Vertrauen. Was ich gelernt habe, ist: Egal, wer du bist, jeder will das gleiche. Wenn man Vertrauen aufbauen kann und Brücken schafft, arbeitet man auf ein gemeinsames Ziel hin. Niemand in diesen Nachbarschaften will seine Kinder ermordet sehen. Es geht mir darum, die Gewalt zu reduzieren, also warum nicht gemeinsam daran arbeiten. In den 80ern glaubten wir noch, wir sind die Ritter, die auf Pferden da einreiten und der Community helfen. Es war alles gut gemeint, aber wir haben es für die Community gemacht und nicht mit ihr."

Polizisten wie Officer Green richten die Polizeiarbeit neu aus, sie sind weggekommen von dem Frontdenken, hier die Polizei, dort die Straftäter.

"Das brachte uns genug Glaubwürdigkeit ein, damit wir uns gemeinsam mit Gang-Mitgliedern und ehemaligen Straftätern an einen Tisch setzen konnten, um über die Reduzierung von Gewalt zu sprechen. Über die Jahre wurde daraus ein Interventionsprogramm, das im Bürgermeisteramt angegliedert ist. Dabei werden ehemalige Straftäter und Leute mit Einfluss auf Gang-Mitglieder und die Community angeheuert. Sie schaffen es, Waffenstillstände auszuhandeln, um uns Zeit zu geben, damit wir richtig ermitteln und die Täter finden können."

Ein Notruf über Funk, zwei junge Männer sind am hellichten Tag an einer Straßenecke überfallen worden. Der Täter hatte eine Knarre dabei, hielt sie seinem Opfer an die Schläfe und verlangte Geld. Immer noch Alltag in Teilen von Los Angeles.

"Wenn ein Kind von seinem Häuserblock vier, fünf Blocks zur Schule laufen und dabei jedes Mal andere Nachbarschaften queren muss, ist das nicht leicht. Es ist besser, in einer Gruppe von Kindern zu gehen, eine Allianz zu bilden. Viele der Kinder in dieser Gegend leiden Todesangst, wenn sie zur Schule gehen, weil sie durch verfeindete Gegenden müssen. Werde ich zusammengeschlagen, angeschossen, fragen sie sich. Das ist immer noch die Realität in einigen dieser Gegenden. Wenn man das aus ihrer Perspektive betrachtet, dann ist die Frage nicht, warum sie Gang-Mitglied werden, sonder eher, sondern warum jemand kein Gang-Mitglied ist."

Auch wenn Los Angeles neue Wege sucht, um die Ganggewalt eindämmen zu können und erste Erfolge zu sehen sind - rosarote Bilder malt hier noch niemand.
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