Schwelender Konflikt

Von Alexander Musik · 03.09.2009
Südtirol ist Italiens nördlichste Provinz und diejenige mit der größten Autonomie sowie drei offiziellen Sprachgruppen, die es zusammenzuhalten gilt: Deutsche, Italiener und Ladiner. Doch das harmonische Miteinander der Volksgruppen ist in Gefahr.
Bozen, Waltherplatz. Walther von der Vogelweide auf seinem Sockel überblickt den von gepflegten Bürgerhäusern gesäumten Zentralplatz der Altstadt. Sogar der berühmte mittelalterliche Minnesänger war hier ein Politikum, denn im faschistischen Italien sollte ein römischer Kaiser auf den Sockel. Unter Mussolini verschwand Walther einfach und durfte erst nach langen Debatten in den 80er-Jahren wieder von seinem angestammten Platz aus nach Süden schauen.
Heutzutage liegen Spannungen wie diese unter Wohlstand und Proporzbestimmungen verborgen. Verschwunden sind sie nicht.

Kralik: "Ein Zusammenleben ist nicht da! Es ist ein Schein-Zusammenleben zwischen Deutschen und Italienern und Ladinern und allem. Die ganze Politik vermittelt, dass es ein richtiges Zusammenleben ist, aber meines Erachtens ist das nicht so. In der Bevölkerung wird das als Druck gesehen, dass man mit den Italienern klarkommen muss . Man duldet sich zwar, aber so eine richtige Liebe kommt da nicht auf bei mir persönlich!"

Sagt Stefan Kralik und ist mit dieser Meinung nicht allein. Der 23-jährige Südtiroler arbeitet als Ingenieur in einer großen Baufirma. Wenn er über die Italiener spricht, schwingt Unverständnis mit: unzuverlässig und faul seien sie, die Zusammenarbeit sei schwierig. Dann macht er noch eine wegwerfende Handbewegung: Nur kochen können sie!
Der Kontrast zwischen der kleinteiligen Südtiroler Altstadt und dem Siegesplatz auf der jenseitigen Flussseite könnte nicht größer sein: Dort steht ein brachial gestalteter Triumphbogen aus weißem Marmor, der Mittelpunkt des riesenhaften Siegesplatzes im faschistischen Baustil. Stadtarchivar Hannes Obermair kommt oft hierher, um Schülern die Geschichte des Bauwerks näher zu bringen.

Obermair: "Auch, wenn das Denkmal umzäunt ist und abgeschlossen von der Südtiroler Gesellschaft, wenn man so will, gibt es doch manche, die sich Zutritt verschaffen und einen Kranz niederlegen ab und an, Rechtsparteien vor allem. Am auffälligsten ist neben dem Denkmal die Umzäunung und die Videokameras rund herum, die Situation der permanenten Bedrohung, die damit signalisiert wird."

Das Siegesdenkmal von 1928 wurde auf Mussolinis persönliche Initiative hin erbaut, Denkmäler aus der K.u.k.-Zeit wurden abgetragen. "Von hier aus bildeten wir die Übrigen durch Sprache, Gesetze und Künste," verkündet ein Fries in Lateinisch. Wir - Italiener, "die Übrigen" - das sind Barbaren - so mussten es die deutschsprachigen Einwohner Südtirols verstehen, als das Land 1919 von Italien annektiert und massiv italianisiert wurde: durch Zuwanderungswellen aus dem Süden und Industrieansiedlungen. Für Rom ist das Bauwerk noch heute ein Symbol des Sieges, für Südtirol eine Provokation. Es ist noch "heiß", wie es der Stadtarchivar ausdrückt.

Obermair: "Die Denkmäler der Zeit der Faschismen, der totalitären Zeit, die wurden italienweit kaum historisiert, was auch Ausdruck dessen ist, dass die Geschichte letztlich unabgeschlossen ist und diese Denkmäler geradezu heiß noch sind, sie stellen offene Fragen, die nicht beantwortet sind. Fragen nach der Kriegsschuld Italiens, nach der Kontinuität nach 45, Fragen gerichtet an die jetzige Regierung, wo ja durchaus ein gewisser Revisionismus Platz greift. Es ist keine günstige Zeit, um diese Historisierung zu fordern!"

Der Südtiroler Landtag tritt an diesem Morgen im Regionalratsgebäude in Trient zusammen. Der Vorsitzende ruft die Namen der Abgeordneten auf: Alessandro Urzì verspätet sich. Der prominente italienische Rechtsaußen-Politiker provoziert gerne und legt vor dem Siegesdenkmal regelmäßig Kränze ab. Er sitzt für den "Popolo della libertà" im Parlament. Die Berlusconi-Partei ist die stärkste Interessenvertretung der Italiener in Südtirol.
Urzì weiß natürlich, dass er mit seinen faschistischen Huldigungen Öl ins Feuer gießt. Im Interview spielt er die Provokationen am Siegesdenkmal aber lieber herunter.

Urzi: "Für mich persönlich und für meine Partei ist es nur ein Zeichen der Vergangenheit, ein Denkmal, das an die Gefallenen erinnert. Es wurde für einige Gefallene aufgebaut, heute ist es für uns ein Denkmal für alle Gefallenen von allen Kriegen der verschiedenen Länder. Wir sollen an die Zukunft denken, nicht mehr an die Vergangenheit."

Umstritten ist auch der Name des Platzes. 2001 wurde er in Friedensplatz umbenannt. Der damalige Bürgermeister wollte ein Zeichen setzen, wollte, dass die Bozener in die Zukunft schauen, nicht immer nur in die unaufgeklärte Vergangenheit. Ein Jahr später wurde die Umbenennung per Volksabstimmung rückgängig gemacht. "Piazza della Vittoria / Siegesplatz" steht oben auf dem Schild, und: "già Piazza della Pace / ehemals Friedensplatz" darunter. Zweisprachig, wie alle Ortsnamen und Straßenschilder in Südtirol.

Am 10. Oktober 2008 demonstrierten Tausende in Bozen. Sie forderten den Abriss des Siegesdenkmals und anderer faschistischer Relikte. Ein Großaufgebot von Carabinieri verhinderte Zusammenstöße mit Anhängern der italienischen Rechten. Tonangebend bei solchen Aufmärschen sind die Südtiroler Schützen. Der Heimatverein empfindet sich als Garant Südtiroler Identität. Einer ihrer Wortführer heißt Sven Knoll.

Knoll: "Es hat ja (...) die Aussage des italienischen Außenministers gegeben, dass man mit aller Härte gegen Südtirol vorgehen wird und dass man daran denkt, wesentliche Teile der Autonomie kurzerhand zu streichen, und das hat zu Besorgnis in der Bevölkerung geführt. Auch wenn es nach außen hin oftmals so scheint, dass es hier ein friedliches Zusammenleben gibt, dann spricht das ja nicht dagegen, dass sich die Bevölkerung trotzdem für eine Eigenstaatlichkeit oder für eine Wiedervereinigung Tirols aussprechen kann. Wer sagt denn, dass es ein friedliches Zusammenleben nur in Italien geben kann?"

Sagt der 29-jährige Knoll beim Ortstermin im Büro der rechtsgerichteten Bewegung "Süd-Tiroler Freiheit", für die er im Bozener Landtag sitzt. Oberstes Ziel der Gruppierung: die Selbstbestimmung, zu erreichen über eine Volksabstimmung.

Knoll: "... weil wir sagen, die Annexion Südtirols an Italien ist ja gegen den Willen der Bevölkerung erfolgt. Ist aufgrund der Kriegsereignisse im Ersten Weltkrieg, nicht einmal aufgrund der Kriegsfolgen, sondern nur aufgrund des Vertrages ausgehandelt worden. Die Bevölkerung empfindet das heute zu einem großen Teil einfach immer noch als Unrecht, dass Tirol geteilt wurde, dass immer noch in Europa ein Gebiet aus Staatsräson-Gründen in zwei Teile geteilt wurde und dass dieses Land nicht die Möglichkeit hat, wieder zusammen zu wachsen und zur Einheit zu finden, so wie in Deutschland ja auch man wieder zur Einheit gefunden hat."

Auch Sven Knoll war bei dem Protestzug gegen die faschistischen Relikte dabei. Steine des Anstoßes gibt es einige: ein Standbild Mussolinis hoch zu Ross ein paar Straßen vom Siegesplatz entfernt; Hunderte während der Italianisierungsphase mehr schlecht als recht erfundene Namen für die alten Südtiroler Gemeinden, Neuschöpfungen, die quasi unantastbar sind. Oder auch die Verherrlichung eines grausamen italienischen Kolonialfeldzugs in Äthiopien durch ein Denkmal in Bruneck von 1938.

Knoll: "... und in diesem Äthiopienkrieg - das muss man sagen, das wissen die wenigsten - wurde ein Völkermord begangen. Dort wurde, obwohl es bereits die Ächtung des Giftgases gab, von Italien Giftgas angewendet, nicht gegen das Militär, sondern gegen die Zivilbevölkerung, und dort wurde eine halbe Million Zivilisten niedergemetzelt mit Giftgas. Und zur Verherrlichung dieses Sieges wurde dieses Denkmal gebaut."

Nicht nur die Süd-Tiroler Freiheit verfolgt das Ziel eines selbständigen Südtirol. Auch die Partei der "Freiheitlichen" setzt sich dafür ein und gibt Umfragen in Auftrag. Ergebnis: Nur eine knappe Mehrheit der Südtiroler Italiener ist dafür, dass Südtirol weiter zu Italien gehöre! 41 Prozent finden es legitim, darüber abstimmen zu lassen. Bezahlt hat die Umfrage die sogenannte "Arbeitsgruppe für Selbstbestimmung", zu der auch die Süd-Tiroler Freiheit gehört.
Ein paar Straßen weiter vom Büro der "Süd-Tiroler Freiheit", gleich am Flussufer, ist "Eurac" angesiedelt, die Europäische Akademie, ein internationales Forschungszentrum. Die Juristin Carolin Zwilling, eine Deutsche, leitet hier das Institut für Föderalismus- und Regionalismus-Studien. Konfliktforscher aus Ex-Jugoslawien kommen zu Besuch, Gesandte aus Tibet: Sie wollen wissen, wie das viel gerühmte Modell Südtirol, in dem die Volksgruppen nach außen hin so friedlich zusammenleben, funktioniert.

Zwilling: "Seit dem aktuellen und zweiten Autonomiestatut von 72 leben wir in einem Modellstaat.(...) Dass da immer Leute kommen und mehr fordern oder was anderes fordern, kann man nicht verhindern. Die breite Masse steht da nicht hinter! Das Ganze ist jetzt noch mal ein bisschen hoch gekocht, dadurch dass Italien sich auf dem Weg zu einem Föderalstaat befindet, das kann man nicht mehr bestreiten."

Zwilling hält eine Abspaltung Südtirols von Italien für genau so unwahrscheinlich wie eine Angliederung an Österreich, schon juristisch. Aber auch die ewige Drohung Roms, der Provinz den Geldhahn zuzudrehen, sei "Quatsch", eine leere Drohung! Denn auch die finanzielle Ausstattung Südtirols sei verfassungsmäßig verankert und könne nicht einseitig geändert werden. 20 lange Jahre, von 1972 bis 92, dauerte es, bis die 173 Artikel des Autonomiestatuts nicht nur unterzeichnet, sondern umgesetzt waren. Und nun wollen ein paar Extremisten und Leitartikler an diesem so mühsam erreichten Status herum schustern?
Zwilling: "Ich persönlich fühle mich sprachlos und ein bisschen traurig. Weil ich von außen noch viel mehr sehe als der Südtiroler, der immer hier gelebt hat, wie gut es der Bevölkerung eigentlich geht! Hier sind Gelder, und diese Gelder sieht man! Eine Stadt, die nicht wahnsinnig an Geldmangel leidet und sich gewisse Sachen leisten kann und gerade mal wieder zig Kilometer asphaltiert, nur weil der Giro d'Italia vorbei kommt, was andere Städte sich so gar nicht mehr leisten können. (...) Auf der anderen Seite seh ich, dass viele Südtiroler sagen: Ich kann's nicht mehr hören! (...) Es war doch eigentlich schon so schön ruhig geworden."

Die derzeitige aufgeladene Atmosphäre in Bozen sei nicht der Alltag, sagt Zwilling. Der Proporz, vom Autonomiestatut vorgesehen, hat mehr Verteilungsgerechtigkeit gebracht: Nach Sprachgruppen getrennte Kindergärten, Schulen und Vereine; nach Sprachgruppen vergebene Jobs in der Verwaltung. Das fördert zwar das Nebeneinander, hilft aber gegen böses Blut.

Auch die 35.000 Sprecher des Ladinischen im Lande haben vom Autonomiestatut profitiert. Die mit ihrer eigenständigen rätoromanischen Sprache früher kaum wahr- und ernst genommenen Ladiner sind seit einigen Jahren deutlich sichtbarer in der Gesellschaft: eine Wochenstunde Ladinisch-Unterricht in der Schule, Förderung von Kulturprojekten, dreisprachige Ortstafeln im ladinischen Sprachgebiet und dreisprachige amtliche Websites, zwei Kulturzentren.

Derweil sorgt derweil Luis Durnwalder, Chef der Südtiroler Volkspartei und seit 20 Jahren Landeshauptmann, eine Art Ministerpräsident, dafür, dass das Zusammenleben aller funktioniert. Jedenfalls das friedliche Nebeneinander.

Durnwalder: "Ich glaube, es ist noch nie so vielen Südtirolern und Südtirolerinnen so gut gegangen wie in der heutigen Zeit, und trotzdem muss ich sagen, wenn man dann mit den einzelnen Kategorien redet, so hat man das Gefühl, dass noch nie so viel Unzufriedenheit da war wie in der heutigen Zeit. Das heißt, wir haben es wirklich noch nicht geschafft, dass wir den Wohlstand in Wohlbefinden umgewandelt haben."

Die Menschen wurden zu wenig eingebunden in eine Politik, die Südtirol einen beispiellosen wirtschaftlichen Aufschwung brachte: durch massive Investitionen und Subventionen. Vielen ging der Wandel einfach zu schnell, übt sich Durnwalder in Selbstkritik.

Seit sie bei den Wahlen im vergangenen Oktober 7,5 Prozentpunkte verlor, sind jetzt auch in der allmächtigen Volkspartei Diskussionen darüber, ob etwas nach der Autonomie kommen kann, erlaubt. Durnwalder selbst ist es wichtig, das Ohr am Volk zu haben. Jeden Tag empfängt er in aller Frühe in seinem Amtssitz - wie ein König, spotten manche.

Durnwalder: "Um sechs Uhr früh bin ich dort, jeder der kommen will – es muss ja niemand kommen! Weil die Opposition gesagt hat, die Leut müssen hingehen und betteln, ich sag ja nur, ich bin da!"

20 bis 30 Leute kommen jeden Morgen, um dem Luis, wie ihn alle nennen, von ihren Problemen zu erzählen. Man redet miteinander, das wollen die Leut', gerade in der heutigen Zeit, sagt Durnwalder. Ihm sei das jedenfalls lieber, als wenn sie mit ihren Sorgen zum Psychiater gingen.