Schweizer Landessprache

Auf den Spuren des Rätoromanischen

Clà Riatsch im Gespräch mit Liane von Billerbeck · 11.03.2014
Rund 60.000 Menschen sprechen die rätoromanische Sprache. Auch eine eigene Literatur hat das Rätoromanische hervorgebracht. Dass sie mehr ist als "Alpenliteratur", hat uns Clà Riatsch von der Universität Zürich erklärt.
Liane von Billerbeck: Eigentlich sollte die Sprache, um die es jetzt gehen soll, längst ausgestorben sein – Irrtum. Allen Unkenrufen zum Trotz gibt es das Rätoromanische immer noch. Gesprochen wird es in dem Schweizer Kanton Graubünden, und dort wurde auch mein Gesprächspartner geboren. Clà Riatsch heißt er, Rätoromanisch ist also seine Muttersprache, und er lehrt sie auch als Sprach- und Literaturwissenschaftler an der Universität Zürich. Professor Riatsch, ich grüße Sie!
Clà Riatsch: Bun di!
von Billerbeck: Das war also Rätoromanisch?
Riatsch: Schi!
von Billerbeck: Wie hat sich denn diese Sprachfamilie entwickelt, dass man ihr dann auch das Totenglöcklein geläutet hat?
Riatsch: Sie wurde immer mehr im Alpenraum zurückgedrängt und mit der Industrialisierung im 19. Jahrhundert hat sie, wie man so schön sagt, große Gebiete verloren. Die Anzahl Sprecher wurde immer kleiner, die Bauernkultur, in der sie fußte und zum Teil noch immer fußt, wurde abgelöst durch eine industrialisierte Kultur und eine pluralistische Gesellschaft, die diese Sprache zum Relikt machte.
von Billerbeck: Nun ist ja das Rätoromanische nicht nur ein Ausdruck für mehrere Sprachen, sondern auch für eine ganze Kultur, Sie haben es eben erwähnt, die Bauernkultur. Was machte die vor allem aus bis zum Zweiten Weltkrieg?
Riatsch: Es war eine inneralpine Bauernkultur, die sich vielleicht nicht besonders oder jedenfalls nicht so besonders von anderen alpinen Bauernkulturen unterschied, wie man das immer sagt. Man sagt immer in einem Atemzug, die rätoromanische Sprache und Kultur, aber die eigentlich kulturellen Besonderheiten, die Exklusivlehren, die gibt es fast nicht.
von Billerbeck: Welche Rolle spielen dabei die Berge?
Das Gebiet, in dem Rätoromanisch gesprochen wird, war nie isoliert
Riatsch: Die Berge waren vielleicht wichtig bei der Entwicklung. Man sagt immer, das Rätoromanische sei ein geschlossenes, ein isoliertes Gebiet gewesen oder die Sprache habe sich in besonderer Weise entwickeln können, weil sie wenig Kontakt zu den Nachbarländern hatte. Weil sie eine Art Festung bildete. Das ist nur sehr bedingt wahr, weil die Alpenpässe waren offen, zumindest im Sommer, und das Gebiet des Rätoromanischen war immer, auch historisch, ein nach allen Seiten weit offenes Gebiet, via Emigration und via Immigration, schon immer, nicht erst seit dem 20. Jahrhundert.
von Billerbeck: Sie selbst sind in einem Graubündner Dorf geboren, in Ramosch – was bedeutet die Sprache für Ihre Identität?
Riatsch: Also, für uns war es …, als Kinder in Ramosch war es die Sprache, die unsere Sprache war, und wir haben nicht besonders das Gefühl gehabt, wir würden etwas pflegen oder etwas schützen oder wir würden etwas Besonderes sprechen. Es war unsere Familien- und Dorf- und Umgangs- und Schulsprache, ganz normal. Die ganze Sprachpflege, die ganze sogenannte romanische Bewegung, das kam dann später und hat eigentlich mit dem Leben vieler Leute im Alltag nicht so viel zu tun. Es ist nicht so, dass da die Sprecherinnen und Sprecher des Rätoromanischen das Bewusstsein hätten, sie müssten für etwas einstehen oder sie müssten etwas manifestieren oder sie müssten für etwas kämpfen. Sie sprechen einfach Romanisch.
von Billerbeck: Wie groß ist denn nun das Interesse in der ja durchaus mehrsprachigen Schweiz, auch diese Sprache, das Rätoromanische, zu pflegen?
Riatsch: Es gibt ein offizielles Interesse. Die Eidgenossenschaft setzt sich ein für diese Sprache, sie ist subventioniert, sie gehört zu den offiziellen Landessprachen der Schweiz. Sie ist auch Teilamtssprache seit einiger Zeit, Teilamtssprache des Bundes auch, also der Eidgenossenschaft. Und ein offizielles Interesse ist vorhanden, aber eigentlich – ob das Romanische lebt oder nicht, entscheiden letztlich die Sprecherinnen und Sprecher, nicht nur die, die im Gebiet wohnen. Es ist die Frage, ob diese Sprache für Menschen attraktiv bleibt oder ob sie die Attraktivität verliert. Und da kann man mit staatlichen Maßnahmen stützend helfen, sie zu brauchen, aber man kann nicht Leute dazu verknurren, eine Reliktsprache noch über Tausende von Jahren zu verwenden.
von Billerbeck: Nun sind Sie selbst Professor für Rätoromanische Sprache und Literaturwissenschaft in Zürich. Sie tun also etwas dafür, um diese Sprache zu erhalten. Wie viele Studenten haben Sie, wie viele Interessenten an dieser Sprache.
Riatsch: Das sind ganz wenige, das sind etwa 20 Leute.
von Billerbeck: Nun ist Ihnen auch schon mal vorgeworfen worden, habe ich gelesen, Sie würden Steuergelder verschwenden, weil Sie Ihre Vorlesungen angeblich nur eben vor drei Studenten – es sind jetzt etwas mehr, haben Sie gesagt – halten. Das kennen sicher viele Forscher, die ein sogenanntes Orchideenfach unterrichten. Trotzdem, Sie finden es völlig in Ordnung, dass dieses Geld dafür eingesetzt wird und dass die Sprache erhalten wird?
In Zürich kann man Rätoromanische Literaturwissenschaft studieren
Riatsch: Also, die drei Studenten waren drei Doktoranden. Das war eine Fehlinformation einer Zeitung, die sich immer gegen Minderheiten wendet, und zwar gegen alle Minderheiten. Wer schwach ist, wird verprügelt, insofern ist das nichts Neues. Die Verschwendung von Steuergeldern – es ist da immer die Frage, woran Sie das messen. Wenn Sie das Militärbudget der Eidgenossenschaft nehmen, dann ist das, was die Eidgenossenschaft für das Rätoromanische tut, lächerlich klein. Wenn Sie dagegen schauen, wie viel wird für die Alphabetisierung von nicht alphabetisierten Migrantinnen investiert, dann sind die Subventionen groß.
Also, je nach Gesichtspunkt kann man sagen, es werden da Steuergelder verschwendet, oder es sei ein lächerlich kleiner Beitrag an die kulturelle Vielfalt. Es ist eine Frage des Gesichtspunktes. Ich habe dafür Verständnis, dass … – innerhalb der Universität sind wir natürlich auch unter Druck, weil die Orchideenfächer, die leistet man sich vielleicht gerne aus kulturpolitischen Gründen oder auch aus kulturellem Interesse. Aber es gibt die sogenannten Betreuungsnotstandsfächer, wo ein Professor, eine Professorin mit Hunderten von Studenten zu tun hat und auch völlig überlastet ist. Und da verstehe ich die Frage, die durchaus in guten Treuen gestellt werden kann: Braucht es denn wirklich Orchideenfächer, braucht es Rätoromanisch in Zürich? Ich habe für die Frage Verständnis.
von Billerbeck: Und haben Sie auch eine Antwort? Warum braucht es das Rätoromanische?
Riatsch: Also, wenn man die großen politischen Probleme nicht nur der Welt, sondern der Schweiz anschaut, dann kann man durchaus der Ansicht sein, dass die kulturelle Vielfalt groß genug ist, ohne dass man sie fördert. Wir haben nicht zu wenig Sprachen, wir haben viele Sprachen, auch viele Migrantensprachen in der Schweiz. Die Schweiz sagt seit 1938, sie habe vier Landessprachen, und warum soll es das Rätoromanische nicht geben? Solange es von etwa 60.000 Menschen mündlich und schriftlich genutzt wird, solange es in den Gemeinden gesprochen wird, solange es eine Jugend gibt, die sich via Rockmusik, via Literatur, via Theater, via sehr vielen kulturellen Manifestationen sich mit dieser Sprache auseinandersetzt, diese Sprache braucht, solange sollte doch das Romanische leben. Warum denn nicht, wäre die Gegenfrage.
von Billerbeck: Sie haben es gesagt, es gibt Musik, es gibt Literatur, die auf Rätoromanisch verfasst wurde. Was sind denn die Themen, welche Geschichten werden da erzählt?
Riatsch: Ich glaube, dass die Themen nicht mehr spezifisch sind. Die rätoromanische Literatur, die sich früher immer darauf berief, dass sie etwas Besonderes zu verteidigen hat, dass die eine Sprache schützen muss, dass sie erinnern muss an eine Kultur, die dahinsinkt – diese Literatur gibt es nicht mehr. Ich glaube, die jetzige rätoromanische Literatur versteht sich und ist eine Literatur, die sich mit den Themen unserer Welt in ihrer ganzen Breite auseinandersetzt und nicht mehr spezifisch regionale Themen aufgreift. Sie tut das auch, aber nicht mehr in dieser Absicht, das Besondere zu zeigen oder das Schützenswerte literarisch zu umreißen.
von Billerbeck: Wenn Sie sagen, nicht noch oder überhaupt 60.000 Menschen in der Schweiz sprechen Rätoromanisch, es ist ihre Sprache – welche Zukunft geben Sie dieser Sprache?
Riatsch: Da wage ich keine Prognosen. Nicht mal die Kollegen von der Linguistik wagen das. Das ist schwer zu sagen. Es gibt Konjunkturen, die unvorhersehbar sind. Plötzlich kann etwas, was verloren schien, wieder schick werden, aber tendenziell, glaube ich, ist die Prognose, dass sie irgendwann verschwinden wird. Aber nicht mittelfristig. Also, in 200 Jahren wird es das noch geben.
von Billerbeck: Clà Riatsch sagt das, Professor für Rätoromanische Sprache und Literatur an der Universität Zürich. Das Rätoromanische ist auch Teil des Schweiz-Schwerpunktes auf der Leipziger Buchmesse, die morgen eröffnet wird. Ich danke Ihnen für das Gespräch, Herr Riatsch!
Riatsch: Danke Ihnen!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.