Schweizer Künstlerin Dessa

Stolpersteine in der Kritik

Im Hof eines Hauses in München sind in den Boden Stolpersteine eingelassen
Statt an den Tod - wie die Stolpersteine - möchte die Künstlerin Dessa an das Leben der Juden erinnern. © picture-alliance / dpa / Andreas Gebert
Von Alice Lanzke · 05.02.2016
Die Stolpersteine sind das größte dezentrale Mahnmal der Welt. Kleine Messingquadrate, in Bürgersteige eingelassen, die an jüdische Schicksale erinnern. Neben großer Unterstützung gibt es auch kritische Stimmen - wie die der Schweizer Künstlerin Dessa.
Das Mahnmal Levetzowstraße im Berliner Stadtteil Moabit ist ein widersprüchlicher Ort: Obwohl Autos an der Gedenkstätte vorbeidonnern, strahlt es eine eigene Stille aus. Auf einer großen Eisenwand sind 63 Transporte aufgelistet, die von hier in osteuropäische Vernichtungslager rollten, ein Relief davor zeigt alle 36 Berliner Synagogen als Symbol ausgelöschter deutsch-jüdischer Kultur. Das eigentliche Mahnmal besteht aus einem Eisenbahnwaggon und einer Gruppe steinerner Gefangener auf einer Rampe - ein Anblick, der unmittelbar berührt. Auf diese Weise wirkt die Gedenkstätte gleichzeitig didaktisch und emotional.
"Wenn ich dort hin gehe ... Ich kann das gar nicht in Worte fassen. Ich muss mich hinsetzen, fühlen und dankbar sein, dass es das Mahnmal gibt."
Für die Schweizer Künstlerin Dessa, mit bürgerlichem Namen Deborah Petroz-Abeles, gehört das Mahnmal Levetzowstraße zu den eindrücklichsten Beispielen dafür, wie Kunst den Holocaust verarbeiten kann. Ganz anders geht es ihr mit den Stolpersteinen, die 1992 von Gunter Demnig ins Leben gerufen wurden.
"Meine Kritik an den Stolpersteinen hat mit meiner jüdischen Identität zu tun. Außerdem ist mir die Frage wichtig, wie wir des Holocausts gedenken."
Dessa, 1948 im heutigen Simbabwe geboren, lebt abwechselnd in der Schweiz und Berlin. Sie liebt die Stadt. Umso mehr schmerzen sie die Stolpersteine, die für sie keine würdige Form des Gedenkens sind.
"Ich fühle die Stimmen und Seelen meines Volkes und meiner Großeltern, die leider das Schicksal von so vielen in den Lagern teilten. Und es schmerzt mich zutiefst. Ich liebe diese Stadt und habe mich entschieden, hier zu leben. Aber wenn ich durch die Straßen gehe, muss ich aufpassen, wo ich meine Füße hinsetze. Menschen laufen über die Steine, fahren mit dem Fahrrad darüber, Tiere verschmutzen sie. Das tut weh. Und ich denke nicht, dass die Macher des Projekts es bis zum Ende durchdacht haben."
Stolpersteine für Dessa kein Gedenken auf Augenhöhe
Dessas Kritik an den Stolpersteinen umfasst mehrere Punkte. Zum einen konzentrierten sich diese auf den Tod der Menschen, an die sie erinnerten, nicht auf ihr individuelles Leben. Ihre Lage auf dem Boden erlaube kein Gedenken auf Augenhöhe, zumal die Menschen in den Häusern und nicht auf den Straßen gelebt hätten. Außerdem gab es bis zur Nazizeit das deutsche Sprichwort: "Hier liegt ein Jud begraben", um auszudrücken, dass jemand gestolpert ist.
Einen weiteren Aspekt bringt der Erfurter Literaturwissenschaftler Holt Meyer ein:
"Also ich behaupte, dass jeder bibelfeste Deutsche, der dieses Wort hört, an eine Verwendung des Wortes Stolpersteine denkt, die damit verbunden ist, dass der Stolperstein eben Christus bezeichnet. Erster Korintherbrief 1.23 ist es so, dass gesagt wird, dass der gekreuzigte Christus gerade für die Juden ein Stolperstein ist. Was eben ein Prophetenwort aufnimmt und gewissermaßen umdreht – nicht auf den jüdischen Messias mehr bezogen, sondern eben gerade gewissermaßen Christen gegen Juden, wenn man das etwas zuspitzt."
Dessas Kritik geht noch weiter: In ihrem Zorn über die Stolpersteine scheut sie auch vor Provokation nicht zurück:
"Ich fordere jeden Deutschen auf, sich zu überlegen, wie die Nazis der 30er-Jahre die Stolpersteine sehen würden. Meiner Meinung nach materialisiert dieses Projekt ihren größten Wunsch: Schaut, wie viele ermordete Juden es gab – das haben wir geschafft."
Dessa betont, dass sie mit ihrer Kritik niemanden persönlich angreifen wolle. Vielmehr gehe es ihr um die Frage, wie man den Gräuel der Shoah künstlerisch auf eine würdige Weise begegnen könne. Ihre Antwort: "Stolzesteine". Unter diesem Titel kreiert sie Bilder und Collagen, in denen sie zunächst das Leben und Wirken der Berliner Familie Israel verarbeitet, der vor der NS-Zeit das größte Kaufhaus der Stadt gehörte. Die abstrakten Werke schaffen mit ihren wirbelnden Farben einen intensiven Bezug. In jedes ist zudem mindestens ein Stein eingearbeitet, der Einfluss auf die Gesamtkomposition nimmt.
"Ich wünsche mir ein Projekt, das an das Leben der Menschen erinnert, an die Zeit, bevor sie in die Gaskammern gezerrt wurden. Sie hatten ein Leben! Mit meinem Projekt will ich daraus etwas Einzigartiges schaffen, auf Augenhöhe an diese Menschen erinnern, mit Hoffnung und einer Art Ehre."
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