Schwedens jiddische Renaissance

Von Katharina Schmidt-Hirschfelder · 04.06.2010
Seitdem Jiddisch in Schweden eine offizielle Minoritätssprache ist, ist die Jiddischkultur zu neuer Blüte erwacht. Seit Februar gibt es nun auch Jiddischunterricht an Stockholms jüdischer Schule.
Singer in der Übersetzung zu lesen, ist wie Gefillte Fisch aus der Konserve zu essen. Das findet jedenfalls Paula Grossman. Normalerweise unterrichtet die Pädagogin Schwedisch für Einwanderer. Doch seit der Staat ihre Muttersprache Jiddisch verstärkt fördert, sind Paula Grossmans Lehrkünste auch in der jüdischen Hillel-Grundschule Stockholm gefragt.

Während die meisten Schüler an diesem späten Donnerstagnachmittag fröhlich lärmend die Treppen hinunter rennen, stimmen im Klassenraum nebenan zwölf zaghafte Erstklässler-Stimmen in ein jiddisches Pessachlied ein. Auch wenn das Jiddisch ihrer jungen Schüler noch etwas holprig klingt, Paula Grossman ist begeistert.

"Bis jetzt war Jiddischunterricht bei Hillel kein Thema. Es gab immer diese ganz klare Linie mit Hebräisch und Zionismus. Aber ich glaube, man fängt an umzudenken. Jiddisch gehört zur aschkenasisch-jüdischen Kultur. Und zwar seit Jahrhunderten. Dass das also unsere Kultur ist, hilft den Kindern zu verstehen, warum sie überhaupt Jiddisch lernen. Schließlich geht es dabei auch um Geschichtskenntnisse, nicht nur um Sprache."

Als Paula Grossman zur Schule ging, in den späten 50er-Jahren, hat sie sich oft außen vor gefühlt. Zwar sprach die kleine Paula fließend Schwedisch, doch zu Hause tauchte sie wieder ein in die Jiddischwelt ihrer Eltern, Schoa-Überlebenden aus Polen und Rumänien.

"Mein Vater las Zeitungen und Bücher auf Jiddisch. Das war die Sprache, die ich hörte und die Kultur, mit der ich aufwuchs. In den Geschichten und Erzählungen meiner Eltern und ihrer Freunde ging es vor allem um die Zeit vor dem Krieg, um Menschen, die nicht mehr am Leben waren. Damals bekam ich Einblick in die Jiddischwelt."

Obwohl sie die Sprache ständig hörte, sprach Paula Grossman damals selbst kaum Jiddisch. Sie mochte nicht aus dem Rahmen fallen. Einzige Ausnahme: Besuche bei Verwandten in Israel.

"Als Kind war das total anstrengend. Ich verstand Jiddisch zwar passiv, aber habe es nie angewandt. Mit meinen Verwandten in Israel war ich zum ersten Mal gezwungen, Jiddisch zu reden. Ich hob mich zerbrochn di Zejn. Ich habe mir fast die Zähne zerstört."

Aktiv zurückerobert hat Paula Grossman die Sprache ihrer Kindheit erst seit 2000, dem Jahr, als Jiddisch Minoritätssprache in Schweden wurde – neben Romani, Samisch, Finnisch und Tornedalfinnisch. Immerhin fanden die ersten jüdischen Einwanderer aus Deutschland und Russland bereits im 18. Jahrhundert ein neues Zuhause in dem skandinavischen Land auf der anderen Seite der Ostsee – Grund genug für die Statusaufwertung der Sprache 300 Jahre später.

Der unerwartete staatliche Geldregen machte plötzlich alles möglich: Seminare, Sprachkurse, Chor, Lesungen, sogar ein Radioprogramm für Kinder im Schwedischen Rundfunk. Magiska Skrinet hieß das Wochenmagazin, "Der magische Schrein", das die junge Zielgruppe mit Geschichten vom Golem, Abzählreimen und Liedern vor den Radioapparat locken sollte. Jiddisch-Sängerin Anne Kalmering hat das Konzept mitgestaltet:

"Es steckt ein sehr schöner Gedanke dahinter – dass man nämlich zusammen mit den Eltern oder Großeltern zuhören kann. Dass man dieses Erlebnis miteinander teilt."

Als Kulturproduzentin der Jüdischen Gemeinde Stockholm und Interpretin jiddischer Lieder beobachtet Kalmering seit Jahren ein gewachsenes Interesse für Jiddisch:

"Heute sind sich mehr Leute dessen bewusst, dass es zwei Aspekte gibt – den kulturellen und den religiösen. Und viele Juden spüren, dass sie sich mehr mit dem kulturellen Aspekt assoziieren. Und da ist Jiddisch mit dabei."

Ähnlich wie Kalmering ist auch Alexander Freudenthal so etwas wie ein Allround-Talent – tagsüber unterrichtet er Jüdische Studien am Gymnasium, in der Großen Synagoge Stockholm kümmert er sich um die monatlichen Familienveranstaltungen, und am Abend spielt er auf seiner Klarinette selbst komponierte Stücke - zusammen mit der Freudenthal Yiddish Big Band.

"Es muss einen Weg geben, musikalische jüdische Kultur zu erneuern. Was Jiddisch angeht, naja, eigentlich bin ich ein Jecke. Meine Großeltern sprachen deutsch zu Hause, nicht jiddisch. Aber es ist doch so, dass Jiddisch ein Teil unseres europäischen Erbes ist."

Schon als Teenager spielten er und sein Bruder auf Bar Mitzwas und Hochzeiten und kamen so in Berührung mit Jiddisch und Klezmermusik. Heute spielen die Brüder mit ihrer Big Band in ausverkauften Konzertsälen und trendigen Stockholmer Jazzklubs.

"Es gibt eine Renaissance, was Unterhaltung, Gesang, Poesie betrifft. Viele Leute sind fasziniert davon und wollen das als exotisches Gewürz haben."

Mit seiner großzügigen Unterstützung für Minoritätskulturen reagierte Schweden in den letzten Jahren vor allem immer wieder auf internationale Kritik, es würde seine Minderheiten vernachlässigen. Der Effekt: je größer das Angebot, desto höher die Nachfrage. Warum sich heute vor allem junge Juden zu Jiddisch hingezogen fühlen, erklärt Anne Kalmering so:

"Ich glaube absolut, dass viele junge Leute ihr Erbe suchen und dabei eine Generation überspringen. Waren die Eltern nicht sonderlich interessiert, sind es die Enkel umso mehr."

Dass es nun sogar die Urenkel sind, die in Paula Grossmans Jiddischkurs strömen, empfindet die Pädagogin als Erleichterung und Verantwortung zugleich.

"Das war auch dieses Gefühl – das hatte ich ganz stark – man ist das letzte Glied in der Kette. Mit mir stirbt die Sprache. Das ist eine sehr traurige Geschichte, dass man selbst weiß, man hat eine Verantwortung dafür, dass die Sprache weiterlebt. Weil man weiß, ich könnte ihr letzter Sprecher sein."

Haftete Jiddisch früher das Stigma von Gettosprache und Schwäche an – Selbstbilder, die man vor allem in Israel abstreifen wollte, um den zionistischen Diskurs zu stärken – besinnt man sich heute wieder auf die vielen Facetten von Jiddischkultur. Anne Kalmering erinnert sich noch gut an die skeptischen Blicke, als sie vor rund zehn Jahren begann, für Jiddisch die Werbetrommel zu rühren:

"Das ist die gleiche Diskussion, die es früher in Israel gab. Aber das Blatt hat sich nun gewendet. Das hier hat nichts mehr mit Gettosprache zu tun. Wir gehen weiter. Ich glaube, das Interesse wird noch mehr steigen, je mehr Möglichkeiten es gibt."

Mit ihrem Engagement hat die singende Kulturproduzentin Jiddischkultur dem breiten Publikum in Schweden zugänglich gemacht. Das Gleiche gilt für Alexander Freudenthal, der das jiddische Kulturerbe für die Gegenwart erschließen will.

"Wir dürfen Jiddisch nicht vergessen, indem wir es in die 'alte Welt' verbannen. Wenn wir das zulassen, stirbt die Kultur. Jiddisch ist so unglaublich reich an Ausdrücken, Kommentaren und Gedanken, die man eben nur auf Jiddisch sagen kann. Das müssen wir bewahren. Wenn wir das schaffen, kann Jiddisch sicher als eine Art Kultursprache fungieren.”"

Der Musiker will aber noch mehr. Neben Renaissance muss es Raum für Erneuerung und Weiterentwicklung geben, meint Freudenthal.

"Musik entsteht in der Begegnung zwischen Musiker und Publikum. Oder wie Martin Buber es in seinem Buch 'Ich und du' ausdrückt – Mensch wird man in der Begegnung. Deshalb glaube ich, dass die Jiddischkultur erneuert werden muss. Sonst stagniert sie. Und das passiert auch, nicht nur in den USA. Auch hier in Schweden sind es nur sehr wenige, die altbackene Klezmermusik spielen. Die meisten wagen etwas Neues."

Ein Wagnis, das auch Paula Grossman eingegangen ist. Mit dem Jiddischkurs für Grundschüler hat die Pädagogin Neuland betreten. Was die Kinder ihr geben, sind nicht nur neu erlernte Schabbatwünsche auf Jiddisch, sondern auch die Hoffnung auf eine Fortsetzung der Jiddisch-Renaissance in Schweden.