Schwedens Corona-Strategie

Verkalkuliert oder vernünftig?

21:50 Minuten
Kunden in einem weihnachtlich dekorierten Warenhaus in Stockholm tragen keinen Mund-Nasenschutz.
Shopping, Restaurant, Kino, Kita - alles möglich in Schweden - auch ohne Maske. © imago / TT / Amir Nabizadeh
Von Carsten Schmiester · 01.12.2020
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In Schweden sind 6700 Menschen mit oder an den Folgen einer Corona-Infektion gestorben. Mehr als in den Nachbarländern. Die rot-grüne Regierung setzt auf wenige Verbote und Freiwilligkeit. Lockdown und Maskenpflicht sind kein Thema.
"Herzlich willkommen, wir fangen mit einem Blick auf die globale Lage an."
So geht das immer. Es ist das schwedische Corona-Ritual: Pressekonferenz bei der Gesundheitsbehörde "Folkhälsomyndigheten", anfangs noch an jedem Arbeitstag, jetzt nur dienstags und donnerstags.

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Im Mittelpunkt steht meist der Mann, der Schwedens Sonderweg durch die Pandemie maßgeblich vorgezeichnet hat: Staatsepidemiologe Anders Tegnell, international erfahrener Arzt mit dem Spezialgebiet Infektionskrankheiten, 64 Jahre alt, Familienvater. Er kommt gerne im Pullover, die Haare immer ein bisschen wuschelig, linke Hand in der Hosentasche, Kaffeebecher in der rechten.
Lässig finden das seine Fans, laut Umfragen mehr als 70 Prozent aller Schweden. Kritiker halten ihn dagegen für "fahrlässig", nicht wegen des Auftretens, sondern wegen seiner "Bloß-keine-Panik"-Politik in der Pandemie: So wenig Verbote und Einschränkungen wie möglich, stattdessen Empfehlungen. Das genüge, sagte er im März:
"Wir sind der Ansicht, dass die wirklich wichtigen Maßnahmen ergriffen wurden. Bleibt man zu Hause, wenn man sich krank fühlt, verhindert das die meisten Ansteckungen. Alle, die zu Hause arbeiten können, sollten dies tun und wir müssen die älteren Mitbürger schützen. Das ist das Wesentliche. Dann kann man an anderen Regeln schrauben, was zum Beispiel Restaurantbesuche oder Veranstaltungen angeht. Aber die großen Effekte bekommen wir, wenn sich alle an die grundlegenden Verhaltensregeln halten."
Porträt des schwedischen Staatsepidemiologen Anders Tegnell.
Hat Anders Tegnell in der Coronakrise wirklich alles richtig gemacht? In Schweden mehren sich kritische Stimmen, aber noch findet die Mehrheit den Kurs der Regierung gut.© imago / TT / Lotte Fernvall
Also alles halb so schlimm? Noch im Januar hatte Tegnell öffentlich erklärt, er rechne nicht mit einem größeren Ausbruch von Covid-19 im eigenen Land. Die in Schweden traditionell den praktischen Kurs bestimmende Gesundheitsbehörde reagierte auf die sich schnell ausbreitende Pandemie mit milderen Maßnahmen als die nordischen Nachbarn und viele andere europäische Länder.

Besuchssperre in Altenheimen, Ski-Pisten geöffnet

Noch am 7. März feierten 27.000 Zuschauer aller Altersgruppen ausgelassen den schwedischen Vorentscheid für den Eurovision Song Contest in der ausverkauften Stockholmer Friends Arena. Nachbar Norwegen verzichtete da schon auf Großveranstaltungen. Schweden zog am 11. März nach und untersagte Events mit mehr als 500 Leuten. Wenig später reduzierte die Regierung die Zahl auf 50. Zusätzlich appellierte die rot-grüne Minderheitsregierung an alle, wenn möglich von zu Hause aus zu arbeiten und die Kontakte einzuschränken. Besuche in Altenheimen wurden ab dem 31. März verboten.
Aber der Skibetrieb lief weiter wie gewohnt. Auch die Après-Ski-Kneipen blieben geöffnet. In Norwegens Bergen hatte längst alles geschlossen. Statt in einen mehr oder weniger harten Lockdown zu gehen, wie es viele andere Länder taten, setzte Tegnell weiter vor allem auf Verhaltensempfehlungen und Freiwilligkeit.
"Wenn wir uns die Kurven anschauen, sehen wir, dass sie bisher noch nicht katastrophal ansteigen. Wir sind noch zufrieden damit und glauben, dass wir so weitermachen können, wie wir normalerweise in Schweden Seuchen bekämpfen: nämlich mit freiwilligen Maßnahmen. Die Menschen sind sehr verantwortungsbewusst und treffen meist die richtigen Entscheidungen."
Erstes Stirnrunzeln im Ausland ließ die Schweden kalt. Tegnells Chef, der immer etwas blasse Leiter der Gesundheitsbehörde Johan Carlsson, äußerte sich zu unterschiedlichen Strategien in anderen Ländern:
"Ich hatte in der vergangenen Woche Kontakt mit einigen meiner europäischen Kollegen und viele sind unglücklich über die Beschränkungen. Zum einen werden sie nicht befolgt, weil das Verständnis fehlt. Warum darf nur einer mit dem Hund raus, wenn er zwei Personen gehört, die zusammenwohnen? Solche Regeln untergraben das Vertrauen in die Behörden. Ich finde, es ist ein wirklich heikles Experiment, die ganze Bevölkerung für vier, fünf Monate einzusperren."

Mit Schwedens Verfassung kein Lockdown

Geschäfte, Kitas und Schulen bis zur neunten Klasse blieben offen, Restaurants, Fitnessstudios, Clubs und Kulturveranstalter auch. Bis heute. Und Masken? Kein Thema! Das hörten nicht nur die meisten Schweden gerne. Im Lockdown-Ausland bildete sich der Mythos vom alternativen Sonderweg, auf dem das Zehn-Millionen-Land im Norden mit weit weniger strikten Einschränkungen unterwegs war, anscheinend, ohne dabei direkt in eine Katastrophe zu laufen. Das passte wunderbar ins weit verbreitete Sehnsuchts-Klischee der schönen, heilen und besseren schwedischen Welt. Und es passte auch ins Konzept der Politik, die sich lange nicht einmischte. Warum auch? Es gab ja keine allzu unangenehmen Maßnahmen und deshalb keine Proteste! Und dann war und ist da ja noch die schwedische Verfassung mit ihren vier Grundgesetzen, erklärte Elisabeth Marmorstein, Politikjournalistin beim öffentlichen Sender SVT:
"Regierung und Gesundheitsbehörde haben eine Strategie gewählt, die auf Freiwilligkeit basiert, weil man glaubt, dass dies länger durchzuhalten ist. Es gibt aber auch eine Reihe von gesetzlichen Hindernissen, deretwegen wir keinen Ausnahmezustand, Lockdown und kein Ausgangsverbot ausrufen können. Die Freizügigkeit ist durch das Grundgesetz geschützt. Da müsste man erst das Gesetz ändern oder neue Gesetze machen."

Kritik am Sonderweg von Wissenschaftlern und Rechtspopulist

Doch Ende März änderte sich die Lage: Die Neuinfektionen nahmen zu. Die Zahl der Menschen, die mit oder an Corona starben, schnellte in die Höhe. Mitte April waren es manchmal mehr als 100 pro Tag – damals hatte Schweden weltweit mit die meisten Todesfälle pro 1000 Einwohner. Gestorben waren meist Bewohner in Altenheimen, angesteckt von schlecht ausgebildetem und ausgerüstetem Personal, und viele Migranten, vor allem Somalis.
Hörbare Kritik am Sonderweg gab es trotzdem zuerst aus dem Ausland. Schweden wurde unterstellt, auf eine schnelle Ausbreitung der Krankheit und als Ergebnis auf Herdenimmunität zu setzen, um die sozialen und wirtschaftlichen Folgen der Pandemie abzuschwächen. Was offiziell bis heute bestritten wird, auch wenn es Hinweise darauf gibt, dass das durchaus eine Überlegung war. In Schweden selbst gab es dagegen lange Zeit keinen lauten Protest, auch die politische Opposition blieb still.
Dann griffen Mitte April 22 namhafte Wissenschaftler in einem Artikel die Gesundheitsbehörde scharf an. Jan Lötvall, Professor für Allergieforschung an der Uni Göteborg, war einer der Unterzeichner. Im Interview mit der Zeitung Aftonbladet bekräftigte er seine Kritik:
"Es ist besorgniserregend, dass die Bevölkerung nicht wirklich den Ernst der Lage verstanden hat, weil sie zweifelhafte Aussagen von der Gesundheitsbehörde und vielleicht auch von unserer politischen Führung hört. Wir müssen offen für das sein, was in der Welt passiert und unsere eigene Strategie in dieser Pandemie an das anpassen, was anderswo erfolgreich war."
Ein anderer Vorwurf der 22 Wissenschaftler war, dass die Gesundheitsbehörde in Wahrheit gar keine wirkliche Strategie habe und dass die Todeszahlen in Schweden auf dem gleichen Niveau lägen wie in Italien. Tegnell konterte scharf:
"Als erstes will ich entschieden zurückweisen, dass wir keine durchdachte Strategie hätten. Natürlich haben wir das. Auch sind die Zahlen der Todesfälle, die hier genannt werden, falsch. Sie stimmen nicht mit den schwedischen Ziffern überein. Wir wissen außerdem, dass in Italien nur Todesfälle in Krankenhäusern registriert werden. Es gibt also eine Reihe grundlegender Fehler in diesem Artikel. Mehr habe ich dazu nicht zu sagen."
Während die oppositionellen bürgerlichen Parteien noch immer in Deckung blieben, versuchte Jimmy Åkesson, Vorsitzender der Schwedendemokraten, im Umfeld einer Fernsehdebatte einen ersten Angriff. Untypisch für einen Rechtspopulisten forderte er striktere Corona-Maßnahmen:
"Es ist Zeit, nicht zuletzt die Regierung für das Scheitern verantwortlich zu machen, das wir in den Altersheimen und allgemein mit vielen Todesfällen sehen. Viele sollten zurücktreten, die Regierung mit ihrem Chef Stefan Löfven natürlich auch. Und Anders Tegnell. Er ist ein Symbol für alles, was wir in dieser Situation bisher gemacht haben."

Natürlich trat niemand zurück, weder Tegnell noch der sozialdemokratische Ministerpräsident Löfven. Aber die Stimmung in Schweden wurde gereizter, so der politische TV-Kommentator Mats Knutson nach der Sendung:
Premierminister Stefan Löfven steht vor einer schwedischen Flagge am Rednerpult.
In der Coronakrise gerät Schwedens Regierung, auch Ministerpräsident Stefan Lövfen, wegen ihrer liberalen Coronapolitik allmählich mehr unter Druck.© imago / TT / Jonas Ekströmer
"Jetzt ist der Burgfrieden endgültig gebrochen. Die Attacken vor allem gegenüber Löfven waren hart und man bezeichnete die Handhabung der Coronastrategie ebenso wie die Durchführung der Tests als gescheitert. Insbesondere das Agieren der Regierung zu Beginn der Krise wurde in Frage gestellt und für die hohe Anzahl an Todesfällen in Schweden verantwortlich gemacht."

Freiheiten in der staatsindividualistischen Gesellschaft

Vier Mal im Jahr, immer an einem Montag, heulen in ganz Schweden die Sirenen. Der Alarm im Krisen- oder Kriegsfall wird getestet und zugleich wird Alarmbereitschaft suggeriert. Corona hat allerdings gezeigt, dass es mit dieser Bereitschaft nicht besonders weit her ist. Schweden hat seit mehr als 200 Jahren keinen Krieg auf eigenem Boden mehr erlebt und auch keine wirklich schwere Krise. Das gilt heute als einer der Gründe dafür, dass es auf dem "schwedischen Weg" Opfer gab und gibt: ältere Menschen in Heimen und Senioren, die zu Hause von Pflegediensten betreut wurden. Da fehlte es an Schutzausrüstung, an Gefahrenbewusstsein und – auch an Empathie.
Schweden ist eine staatsindividualistische Gesellschaft. Um die Einzelnen frei zu machen, hat der Staat viel soziale Verantwortung übernommen, ist ihr in vielen Fällen aber nicht gerecht geworden. Zeitungen berichteten, dass Covid-Kranke, die älter waren als 80 oder stark übergewichtig, nur palliativ angeblich mit einem Cocktail aus Morphium und Beruhigungsmitteln behandelt wurden.
Ein Drittel der Toten soll auch noch ganz alleine gestorben sein. Angehörige oder Freunde durften sie selbst in den letzten Stunden ihres Lebens nicht sehen. Wie in anderen Ländern wurde das auch in Schweden als "unmenschlich" kritisiert.
Und "unverantwortlich" nennen viele die Versäumnisse und Pannen bei der Diagnose von Infektionen und der Nachverfolgung von Infektionsketten. Beides laut Dr. Tedros Ghebreyesus, Generalsekretär der Weltgesundheitsorganisation, wichtige Waffen im Kampf gegen das Virus:
"Unsere Botschaft an alle Länder ist einfach: testen, testen, testen." Inzwischen räumen auch Regierung und Gesundheitsbehörde da Fehler ein. Schwedens Behördenchef Johan Carlsson hat aber eine ihn entlastende Erklärung: Das sei gar nicht Sache seiner Behörde in Stockholm!

Versäumnisse bei Gesundheitsbehörde oder Regionen?

Die Regionen haben nicht geleistet, was von ihnen erwartet wurde. Einige schon, aber andere waren zu spät dran. Es haben nicht alle eingesehen, dass Testen in ihren Verantwortungsbereich fällt, was wir sehr eigentümlich finden.
Auch Lena Hallengren, Sozialministerin der rot-grünen Minderheitsregierung, wies im Sender SVT alle Schuld von sich:
"Es gab Geld, eine Strategie und Kapazitäten für Tests. Außerdem 21 Regionen, die sonst aktiv für den Ansteckungsschutz arbeiteten. Warum sie ihren Beitrag zu den Tests nicht geleistet haben, kann ich nicht sagen. Ich bin nicht für das Gesundheitswesen in den Regionen verantwortlich."
Schwarzer Peter auf Schwedisch: Regierung gegen Regionen, am Ende war niemand schuld? Doch, sagte Harriet Wallberg in der Sendung und deutete vor allem auf die Gesundheitsbehörde. Die offenbar zu unbequeme Medizinprofessorin war vom 8. Mai bis zum angeblichen Vertragsende nur gut drei Wochen später nationale Corona-Testkoordinatorin. Ihr zufolge hat es anfangs gar keine Pannen gegeben, sondern nicht einmal die Absicht, in großem Umfang zu testen:
"Man hatte sich gegen Tests und die Nachverfolgung von Ansteckungsketten zur Eindämmung der Pandemie entschieden."

Schwedens Wirtschaft schrumpft weniger als Deutschlands

Eine der Hoffnungen des schwedischen Sonderweges war es, ohne Lockdown die Wirtschaft des Landes möglichst zu schonen. Das ging teilweise auf. Schwedens Wirtschaft wird laut Prognose der Zentralbank in diesem Jahrnur um 4,0 Prozent schrumpfen. Beim Nachbarn Finnland sind es schon 5 Prozent, bei Deutschland 5,5 Prozent und bei Spanien sogar 12 Prozent Rückgang. Im Vergleich mit Dänemark oder Norwegen hat die die schwedische Wirtschaft nicht besser abgeschnitten. Das liege am Weltmarkt, analysiert Christina Nyman, Chefökonomin der Handelsbank:
"Wir hatten ja keinen Lockdown, da könnte man glauben, dass wir die Krise wirtschaftlich deutlich besser meistern. Aber wir sind eine kleine exportabhängige Wirtschaft und werden meist härter von Ereignissen jenseits unserer Grenzen getroffen. Außerdem sind die schwedischen Haushalte hoch verschuldet. Schaut man auf den Gesamteffekt der Coronakrise, liegt Schweden voraussichtlich im europäischen Durchschnitt."
Aktuell gibt es Schweden mehr als 150.000 Langzeitarbeitslose, knapp 600.000 Menschen sind in Kurzarbeit. Finanzministerin Magdalena Andersson wollte Hoffnung machen und wies auf positive Entwicklungen seit dem Spätsommer hin, die aber wohl nur ein Zwischenhoch waren:
"Im Vergleich zu meiner letzten Prognose vom August hat sich die Wirtschaft besser erholt als gedacht. Auch der Arbeitsmarkt hat sich im dritten Quartal stabilisiert, aber die Lage ist weiterhin ernst."
Besonders für die direkt betroffenen Branchen in Gastronomie, Kultur und Tourismus sieht es jetzt im Winter durch die zweite Welle düster aus.

Zweite Welle in Schweden: mehr Infektionen, weniger Tote

Die täglichen Neuinfektionen in Schweden liegen derzeit im Schnitt bei 4000 pro Tag. Viermal mehr als im Frühjahr. Wobei die Todeszahlen von 20 pro Tag weitaus niedriger sind als damals.
Staatsepidemiologe Anders Tegnell hatte diese Entwicklung der Neuinfektionen selbst in seinen "Worst-Case"-Szenarien nicht beschrieben, weil er sie offenbar nicht für möglich hielt. Lange sah es auch so aus, als würde die zweite Welle nicht kommen. Noch im September war die Lage im Land entspannt. Wenige Neuinfektionen, kaum Todesfälle. Die Disziplin der Menschen ließ weiter nach. Doch dann gingen die Zahlen plötzlich hoch. In der Studentenstadt Uppsala gab es mit Beginn des Herbstsemesters immer mehr Neuinfektionen, kurz darauf auch andernorts. Spätestens Anfang November wurde klar, dass es keine regional begrenzten Ausbrüche waren, es war ein landesweiter Trend. Fredrik Sund, Chef der Infektionsklinik des Akademischen Krankenhauses in Uppsala und Kritiker des sanften Sonderweges, schlug Alarm:
"Mit der derzeitigen Ansteckungsrate befindet sich Schweden nahezu im freien Fall. Wir müssen entschiedener reagieren. Es ist Zeit, ernsthaft über einen Lockdown nachzudenken und die Restriktionen gesetzlich zu verankern."
Während Anders Tegnell in Stockholm weiter seinen Kurs steuerte und dazu aufrief, die grundlegenden Verhaltensempfehlungen konsequenter zu befolgen, meldeten sich weitere Fachleute wie der Virologe Professor Fredrik Elgh aus Umeå im Norden Schwedens warnend zu Wort:
"Wir sind auf einem steilen Weg nach oben. So wie viele europäische Länder schon vor uns: Tschechien, Belgien, die Niederlande. Wir sehen die Belegung in den Krankenhäusern dort und da kann man sich leicht ausrechnen, dass auch wir bald wieder in der gleichen Situation sein werden wie im April, als es hier am Schlimmsten war."

Maximal acht Personen, Alkoholverbot ab 22 Uhr

Mitte November griff die Regierung erstmals entschlossen ein – und durch. Sozialministerin Lena Hallengren verkündete ein neues Verbot: Keine Veranstaltungen mit mehr als acht Personen. Dabei war die Obergrenze erst kurz zuvor von 50 auf 300 angehoben worden. Wenig später gab es auch grünes Licht aus Stockholm für lokale oder regionale Einschränkungen beim Besuch von Senioren in Altenwohnheimen. Die Risikogruppen zu schützen war immer eines der obersten Ziele der Regierung:
"Im Frühjahr hatten die damals eingeführten Maßnahmen einen deutlichen Effekt. Die Menschen veränderten ihr Verhalten radikal. In den vergangenen Wochen wurden die Richtlinien weiter verschärft, aber leider werden die strengeren Maßnahmen bisher nicht ausreichend befolgt, um die Entwicklung zu stoppen. Deshalb hat die Regierung neue Maßnahmen vorgelegt, die außergewöhnlich hart und zwingend sind."
Diesmal also die Regierung, nicht Anders Tegnell und die Gesundheitsbehörde. Ein erstes Zeichen des Misstrauens? Ja und nein, meinte Politikjournalistin Elisabeth Marmorstein:
"Man hat nicht aufgehört, dem Rat der Gesundheitsbehörde zu folgen, aber die Begrenzung auf acht Personen und das Alkoholverbot nach 22 Uhr waren eine Initiative der Regierung. Zum einen hofft man, dass die Verbote auch zu einer besseren Beachtung der Empfehlungen führen, aber natürlich will man auch Tatkraft beweisen und Kritikern entgegenwirken, die Regierung verlasse sich zu sehr auf seine Behörde."
Und die Leute? Nach Monaten des schwedischen Weges mit seinen vielen Freiheiten und wenigen Verboten taten sie sich schwer mit den neuen aus schwedischer Sicht harten Ansagen. Passanten auf der Straße:
"Man soll sich ja eigentlich nicht in Einkaufszentren aufhalten, aber ich denke, einmal in der Woche ist vielleicht in Ordnung."
"Wir wollen shoppen, essen gehen und Freunde treffen!"
Aber es gab und gibt auch eine Menge Menschen, meist etwas ältere, die sagen, dass es ganz so locker auch in Schweden nicht durch den Winter geht:
"Man sollte alles tun, um das zu stoppen. Man hätte ruhig früher damit anfangen sollen."

War der schwedische Weg der richtige?

Hätte man früher anfangen sollen? Oder müssen? War und ist der schwedische Weg richtig oder falsch? Die Frage wird seit Beginn der Pandemie immer wieder gestellt. Auch, weil es keine abschließende Antwort gibt. Anders Tegnell, der Weg-Bereiter, hat keinen Zweifel daran, dass er für sein Land und seine Landsleute genau das Richtige entschieden hat.
"Es geht darum die Ansteckung so niedrig wie möglich zu halten mit Maßnahmen, die der Gesellschaft und der Volksgesundheit möglichst wenig schaden. Es ist also keine Frage, wie viel Ansteckung man zulässt, sondern mit welchen akzeptablen Maßnahmen man diese bremsen kann. Einzelne Länder zu vergleichen und daraus Schlussfolgerungen zu ziehen, ist da nicht besonders relevant."
Die Schweden sind bisher mit deutlich weniger vor allem auch sozialen Einschränkungen durch die Pandemie gekommen. Zwar wächst in der zweiten Welle die Unsicherheit, aber auch, wenn immer mehr Leute freiwillig Masken tragen, obwohl Anders Tegnell sie weiter nicht vorschreibt, bleiben dessen Umfragewerte gut. Sein Sonderweg war für die meisten eben weniger steinig.
Allerdings sind mehr als 6700 Menschen gestorben. Pro 1000 Einwohner gerechnet, ist das inzwischen europäischer Durchschnitt. Länder wie Belgien, Spanien, Italien, Großbritannien, Frankreich oder Tschechien haben trotz Lockdowns weit höhere Todeszahlen.
Aber im Vergleich der nordischen Staaten schneiden die Schweden schlechter ab. Und das kritisieren die Tegnell-Gegner, die in Schweden allerdings nur eine Minderheit sind. Für sie sprach unter anderem der Vorsitzende der Ärztevereinigung in Stockholm, Johan Styrud:
"Es ist eine unglaubliche menschliche Tragödie, daran kommt man nicht vorbei. Wir sollten uns fragen, was wir in der Gesellschaft getan haben, um dies zu verhindern. Es ist erschreckend, wenn man Schweden mit Norwegen, Dänemark und Finnland vergleicht, so schlecht steht Schweden da."
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