Schwarzbuch über die Festung Europa

Rezensiert von Andreas Baum · 04.07.2006
Die österreichische Journalistin Corinna Milborn hat Menschen auf ihrer Flucht begleitet – zum Beispiel von einem Dorf in Afrika bis nach Paris. Gemeinsam mit einem Fotografen geht sie in "Gestürmte Festung Europa. Einwanderung zwischen Stacheldraht und Ghetto. Das Schwarzbuch" an Orte, die keiner sehen möchte.
Corinna Milborn will mit diesem Buch einen Teil unserer Welt zeigen, den keiner sehen will. Sie beleuchtet die skandalösen Umstände der illegalen Arbeitsmigration nach Europa und tut dies, indem sie – mit ihrem Fotografen Reiner Riedler – an die Orte geht, an denen diese Wanderungsbewegung stattfindet – nicht selten vor unseren Augen, ohne dass wir dies bemerken: Auf den Kanarischen Inseln etwa, wo hunderttausende Deutsche Urlaub machen, werden Flüchtlinge wie Treibgut an die Strände gespült.

Zunächst reist Corinna Milborn an die Grenzen des Kontinents, nach Ceuta und Melilla, den spanischen Exklaven in Nordafrika, wo die Dritte von der Ersten Welt durch einen meterhohen Stacheldraht getrennt wird. Sie besucht die Slums der afrikanischen Einwanderer unweit der Grenze, die monate- oder jahrelang auf eine günstige Gelegenheit warten, den Zaun zu überklettern. Viele bezahlen mit ihrem Leben dafür, auch wenn die spanische Guardia Civil der Autorin gegenüber behauptet, die Metallzacken an den Zäunen würden beim Überklettern abbrechen und die Gummigeschosse, mit denen sie die Flüchtlinge auf Abstand zu halten versuchen, täten nicht weh.

Die Autorin lässt sich die Narben, die zerschnittenen Arme der Gescheiterten zeigen und hört Geschichten von Todeslagern in der algerischen Wüste, in der schwarzafrikanische Flüchtlinge, die den Weg nach Europa nicht schaffen, verhungern und verdursten. Sie lässt sich die Seelenverkäufer zeigen, mit denen viele Tausend Menschen bei dem Versuch, das Mittelmeer zu überqueren, ertrinken.


Und sie besucht die Orte, an denen die Karawane der Arbeitssuchenden ihren langen Marsch beginnt, zum Beispiel in Dörfern in der Sahelzone, wo die Lebensgrundlage der Menschen verschwindet und die ältesten Söhne in der Pflicht stehen, ihr Glück im Norden zu suchen, um ihre Familien zu retten.

Angetrieben werden sie von den Geschichten derjenigen, denen es gelungen ist, die Barrieren zu überwinden: Denn wer einmal in Europa ist, das weist die Autorin nach, dem gelingt es, innerhalb von wenigen Wochen Arbeit zu finden. Natürlich keine legale, sondern unterbezahlte, gefährliche und schmutzige Jobs, an denen in allen europäischen Ländern kein Mangel herrscht. Es gibt einen verdeckten Markt für illegale Arbeit, ganze Wirtschaftszweige in Europa hängen von den Migranten aus Afrika und Asien ab.

Auch dort, wo mit der Notlage der Einwanderer Geld verdient wird, schaut Corinna Milborn genau hin, zum Beispiel im so genannten Plastikmeer von Almeria. Dort, im Süden Spaniens, wird in Gewächshäusern Obst und Gemüse gezogen, das das ganze Jahr geerntet werden kann. Die Fläche, die die Plastikplanen bedecken, ist so groß, dass man sie vom Mond aus sehen kann. Bearbeitet werden die Gewächshäuser fast ausschließlich von illegalen Migranten aus Afrika. Wer Glück hat, verdient knapp 30 Euro an einem 10-14 Stundentag. Ohne diese Menschen könnten wir weder Tomaten im Dezember noch Erdbeeren im März essen. Im Plastikmeer gibt es primitivste Baracken für die Arbeiter, die an Slums in afrikanischen Großstädten erinnern, und von denen schon im nächsten spanischen Ort keiner weiß.

Die Autorin zeigt, dass unser Umgang mit den Illegalen so widersprüchlich ist, dass es kaum zu ertragen ist. Europa, sagt sie, braucht sie und weist sie dennoch an den Grenzen ab, nimmt in Kauf, dass viele von ihnen sterben. So gelingt es, den Preis für illegale Arbeit extrem gering zu halten, zwischen einem und drei Euro pro Stunde, gleichzeitig muss niemand Verantwortung für Arbeiter übernehmen, die krank werden oder anderweitig schutzbedürftig sind. Da dies aber den hochmoralischen "europäischen Werten" widerspricht, darf dieser Skandal nicht sichtbar werden und wird hinter Ghettomauern versteckt. Jeder weiß, sagt Milborn, dass diese Verhältnisse vor unserer Haustür existieren, aber keiner will sie sehen.

Milborns Analyse ist gut und genau, sie beschreibt das Problem aus eigener Anschauung, ohne uns eine Weltanschauung aufzudrängen. Eine Lösung aber bietet sie nicht, resignierend stellt die Autorin am Ende ihres Buches fest, dass alle Konzepte, wie mit Migration umzugehen ist, von Ausgrenzung bis Multi-Kulti, gescheitert sind. Nun baut Europa angesichts des Ansturms aus der Dritten Welt eine Festung – dieses Buch zeigt, dass das Problem so nicht zu lösen ist, denn die große Wanderung, sagt Milborn, hat noch gar nicht begonnen. Ein Buch, das seine Leser ratlos und erschrocken zurücklässt – und gerade deshalb lesenswert ist.

Corinna Milborn, Reiner Riedler (Fotos):
Gestürmte Festung Europa. Einwanderung zwischen Stacheldraht und Ghetto. Das Schwarzbuch.

Styria Verlag, 280 Seiten, 19,90 €