Schwaben-Amok

Die Tat ereignete sich am 4. September 1913.
Die Tat ereignete sich am 4. September 1913. © Stock.XCHNG / Nate Nolting
Von Wolf Reiser · 04.09.2013
Der Amoklauf des Hauptschullehrers Ernst August Wagner jährt sich zum 100. Mal. Damals brachte er seine Familie um und steckte ein Dorf in Schwaben in Brand. Der Täter gilt bis heute als Winnendens erster Amokläufer.
Am 4. September 1913 klingelt gegen 5 Uhr früh der Wecker bei den Wagners in Degerloch oberhalb Stuttgarts. Der 39-jährige Hauptschullehrer Ernst Wagner greift zu Totschläger und Dolchmesser und bringt mit der Routine eines Metzgermeisters seine Frau Anna und danach die vier gemeinsamen Kinder um.

Dies ist der erste Akt im Tages-Drama des schillerkundigen Pädagogen, der den heutigen Tag einem Motto des Räuberbruders Franz Moor widmet: "Ich muss alle um mich herum ausrotten, damit ich Herr sein kann. Herr muss ich sein, damit ich das mit Gewalt ertrotze, wozu mir die Liebenswürdigkeit gebricht."

In den folgenden Stunden streift er durch diverse Albdörfer, isst Semmeln und trinkt Radler, plappert leutselig über die zu Ende gehenden Ferien und beklagt sich bei der Schwägerin, dass die Sippe der Wagners einfach kein Glück im Leben habe.

Genau dies sollte sich mit Einbruch der Dämmerung erneut bestätigen. Zwar gelingt es ihm, das Dorf Mühlhausen an der Enz - dort war er früher Lehrer und von hier stammt auch seine Frau - an mehreren Stellen unter Feuer zu setzen. Bald brennen auch die vom Augustsommer strohtrockenen Heuballen lichterloh, während Wagner aus allen Rohren auf die herumirrenden Menschen schießt und acht Tote und zwölf Schwerverletzte hinterlässt.

Polizisten verhinderten Fortsetzung des Amoklaufs
Doch zwei Polizisten strecken ihn zu Boden und verhindern so den dritten Akt im Amok-Skript: er wollte sich nämlich den Weg ins opulente Ludwigsburger Schloss bahnen, es ebenfalls anzünden und sich dann sozusagen mitten im glühenden Barock im Bett der Herzogin erschießen; ein Symbolakt, den im späteren Verlauf auch die behandelnden Ärzte nicht schlüssig erklären konnten.

Womit gesagt ist, dass dieser Wagner weder gelyncht noch im Schnellverfahren zum Tod verurteilt wurde. Es war der aufkommenden Mode der Psychoanalyse geschuldet, dass Professor Robert Gaupp von der nahen Tübinger Uniklinik ein fast 400 Seiten fassendes Gutachten verfasste, Wagner darin als paranoid-geisteskrank schilderte und somit dessen Einweisung in die Heilanstalt Winnenden bewirkte – jenen Ort, der sich im März 2009 ein weiteres Mal ins nationale Amokarchiv eintrug.

Mit dem Fall Wagner begann hierzulande die Erforschung des Bösen, die bis heute durchaus umstrittene Hinwendung zur Täterpsyche und eine moderne Erfassung von Fragen wie Schuld oder Verantwortung. Gaupps Gutachten und seine ausufernden Untersuchungen legten frei, dass Wagner eine alkoholkranke Mutter hatte, dazu kamen der frühe Tod des Vaters, eine unglückliche Ehe, ein misslungenes Arbeitsleben in einem abgelegenen Kaff, eine etwas wirre Sexualität, ein Leben als verkanntes Dichtergenie sowie eine degradierende Strafversetzung. Doch muss man da zwangsläufig Amok laufen?
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