Schutzmechanismus des Gehirns

Warum es uns schwerfällt, Neues zu denken

03:44 Minuten
Zeichnung: Gehirn inmitten anderer Dinge, Daten und Formeln
Achtung Neues! Unser Gehirn warnt uns vor unnötigem Energieaufwand beim Verarbeiten neuer Informationen. © imago / Shotshop
Gedanken von Friederike Bornträger · 23.09.2021
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Neues zu verarbeiten, kostet Energie: Deswegen warnt uns unser Gehirn vor Veränderungen mit einem unguten Gefühl. Um dies zu überwinden, hilft Ausprobieren, meint die Psychologin Friederike Bornträger, sei es die vegane Currywurst oder das Gendern.
In vielen Gesprächen und Köpfen hat sich die Annahme breitgemacht, Menschen hätten etwas gegen Veränderungen. Aber das stimmt nicht. Das unangenehme Gefühl, das uns bei vielem Neuen beschleicht und uns Veränderungen manchmal verweigern lässt, ist ein Schutzmechanismus unseres Gehirns. Weil Neues zu verarbeiten dem Stoffwechsel mehr von unserer begrenzten Energie abverlangt, löst unser Gehirn einen negativen Affekt aus, oder sagen wir der Einfachheit halber: ein schlechtes Gefühl.

Wenn sich nun also jemand spontan unwohl fühlt mit etwas Neuem, zeigt das neuropsychologisch gesehen schlicht, dass der eigene Energiehaushalt gut überwacht wird. Wer nun aber nicht weiß, dass sich das negative Gefühl auf den Pegelstand der inneren Ressourcen bezieht, nimmt schnell mal an, dass an dem Neuen selbst etwas schlecht sei. In dem Fall ist es nachvollziehbar, dass sich jemand gegen die Veränderung wendet. Was da passiert, ist aber eine Verwechslung. Wir verstehen eine Meldung unseres Stoffwechselsystems als eine Meldung unserer Vernunft.

Neues denken kostet Energie

Mit dieser Verwechslung begehen wir einen im Wortsinn "unvernünftigen" Fehler. Die Vernunft, die etwas zur Sinnhaftigkeit der Veränderung melden könnte, ist viel langsamer als das negative Gefühl, das sich blitzschnell und stark meldet. Es will das Neue aber nicht abwerten (dazu hat es auch gar nicht die Grundlage), es meldet nur, dass ein hoher Energieverbrauch ansteht, weil es etwas Neues zu denken, zu lernen gilt. Und das gehört zu den energieintensivsten Handlungen. Wieso?
Lange wurde gedacht, Gehirne reagierten blitzschnell auf alle möglichen neuen Reize. Was aber eigentlich passiert ist: Gehirne bereiten sich aufgrund gemachter Erfahrungen in ähnlichen Situationen auf wahrscheinliche Reize in der aktuellen Situation vor. Und wenn keine ähnlichen Erfahrungen vorhanden sind, herrscht Unsicherheit über die Situation und damit möglicherweise Gefahr, auf die sich eingestellt werden muss. Damit wir den Aufwand, neue passende Reaktionen zu berechnen, nur betreiben, wenn das Neue Sinn und Zweck hat, meldet sich ein unangenehmes Gefühl bei uns, um quasi nachzufragen, ob es sich lohnt, dieses Neue?

Schutz vor sinnlosen Veränderungen

Menschen haben nicht von Natur aus etwas gegen Veränderungen. Im Gegenteil. Veränderung ist das Grundprinzip von allem Lebendigen. Menschen haben etwas gegen sinnlose Veränderungen.
Wenn sich im eigenen inneren Widerstand etwa gegen vegane Currywürste, das Gendern der Kolleg:innen oder die Kanzlerkandidatur einer Frau unter 50 aufbaut, kommt diese Abneigung nicht ausschließlich aus vernünftigen Quellen. All das ist nämlich neu, wir haben noch keine Erfahrungsdaten dazu und so werden wir durch ein negatives Gefühl gefragt, ob sich die bevorstehende Anstrengung für die Verarbeitung des Neuen wirklich lohnt.

Bewusst machen und ausprobieren

Wenn wir zu einer vernünftigen Einschätzung darüber kommen wollen, müssen wir das reflexartige Gefühl "herausrechnen". Wie geht das?
Durch Bewusstmachen und Ausprobieren.
Machen wir uns bewusst, dass das Neue Energie kostet und Energieverbrauch eine Warnung auslöst, die sich schlecht anfühlt. Durch das Bewusstwerden reduzieren wir die Wahrscheinlichkeit, die Stoffwechselbotschaft inhaltlich zu interpretieren.
Denken ist aber nicht genug. Sammeln wir Erfahrungen mit den neuen Dingen. Probieren wir die "Nicht-Wurst" oder das Gendern mal eine Weile aus. Dadurch generieren wir Erfahrungsdaten und die erleichtern uns den Umgang mit dem vormals Neuen. Energiewarnungen werden unnötig und die Vernunft, auf die wir zu Recht große Stücke halten, dringt zu uns durch.

Friederike S. Bornträger ist Psychologin und Mitgründerin der gesellschaftsorientierten Innovationsberatung zukunft zwei gmbh. Mit der Unternehmung begleiten sie und ihr überdisziplinäres Team Organisationen dabei, Dinge neu und anders zu machen.

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