Schutz von Zivilisten im Krieg

Die Genfer Konvention ist ein leeres Versprechen

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Das Bild zeigt die Hände eines Kindes, das an einem Zaun im Lager im Nordosten Syriens versucht ein Band zu befestigen.
In den heutigen Kriegen sind 90 Prozent der Opfer Zivilisten. © AFP/Delil Souleiman
Ein Standpunkt von Andreas Zumach · 12.08.2019
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Am 12. August 1949 - nach zwei Weltkriegen - wurde die 4. Genfer Konvention unterzeichnet: 70 Jahre später ist der Schutz von unbeteiligten Zivilisten in Kriegssituationen alles andere als gewährleistet, kritisiert der Journalist Andreas Zumach.
Im Juni 1859 beobachtete der Genfer Geschäftsmann Henry Dunant, wie auf den Schlachtfeldern im norditalienischen Solferino fast 40.000 verwundete Soldaten aus Frankreich und Österreich mangels medizinischer Versorgung elendig verreckten.
Aus Entsetzen über das grausame Geschehen initiierte Dunant die Gründung des Roten Kreuzes und die erste Genfer Konvention zum Schutz verwundeter und kranker Soldaten. Geboren war das humanitäre Völkerrecht - auch Kriegsvölkerrecht genannt.

Weiterentwicklung des humanitären Völkerrechts

Es lebt von dem Glauben, wenn sich Kriege schon nicht verhindern lassen – auch nicht seit ihrem Verbot durch die UNO-Charta von 1945 –, könnten sie zumindest zivilisiert werden. Durch verbindliche Regeln zur Versorgung von verwundeten Soldaten, zur Behandlung von Kriegsgefangenen und zum Verbot besonders grausamer Waffen.
Unterzeichnung der Genfer Konvention vor 70 Jahren.
Unterzeichnung der Genfer Konvention am 12. August 1949© picture alliance/ Keystone / Photopress-Archiv
Und vor allem durch Bestimmungen zum Schutz unbeteiligter Zivilisten. Auf Letzteres konnte sich die Staatengemeinschaft allerdings erst nach den beiden Weltkriegen verständigen – mit der am 12. August 1949 vereinbarten 4. Genfer Konvention.

Was würde Henry Dunant heute sagen?

Doch was würde Henry Dunant sagen, könnte er die Schlachtfelder unserer Tage erleben, im Kongo, im Jemen oder im syrischen Mehrfrontenkrieg der letzten acht Jahre?
Abwurf von Fassbomben, Einsatz von Chemiewaffen, jahrelange Belagerung und das Aushungern ganzer Städte, gezielter Beschuss von Krankenhäusern und anderen überlebenswichtigen zivilen Ziele – all das sind schwerwiegende Verstöße gegen die 4. Genfer Konvention.
Die Hilfsorganisation "Ärzte ohne Grenzen" erlebte im Syrienkrieg mehr Angriffe auf Krankenhäuser und musste mehr getötete Mitarbeiter beklagen als je zuvor seit ihrer Gründung 1971.

90 Prozent der Kriegstoten sind heute Zivilisten

Im Ersten Weltkrieg waren rund 90 Prozent der Opfer tote und verwundete Soldaten. In den heutigen Kriegen sind 90 Prozent der Opfer Zivilisten. Müsste Dunant nicht einräumen, dass das humanitäre Völkerrecht gescheitert ist, zumindest mit Blick auf den versprochenen Schutz der Zivilbevölkerung?
Seit Ende des Kalten Krieges vor 30 Jahren werden Kriege immer häufiger innerhalb von Staaten zwischen Regierungssoldaten und bewaffneten Gruppen geführt und nicht mehr zwischen regulären Streitkräften von Staaten, deren Regierungen die Genfer Konvention unterschrieben haben.
Zwar gilt die Konvention seit ihrem Zusatzprotokoll von 1977 ausdrücklich auch für nichtstaatliche Kämpfer. Ihre Einhaltung ist aber noch schwerer durchzusetzen als gegenüber Regierungen. Und Kämpfer von Terrororganisationen wie der Islamische Staat oder Al-Qaida fühlen sich ausdrücklich nicht an irgendwelche Regeln des Völkerrechts gebunden.

Verstöße werden fast nie geahndet

Im sogenannten "Krieg gegen den Terrorismus", der seit den Anschlägen vom 11. September 2001 geführt wird, haben aber auch Staaten durch schwerwiegende Verstöße gegen die 4. Genfer Konvention zur Erosion des humanitären Völkerrechts beigetragen.
Zunächst die USA im Irak und in Afghanistan und dann auch Russland in Syrien. Allerdings werden Verstöße gegen die Genfer Konvention fast nie geahndet oder auch nur aufgeklärt, weil die Großmächte den dazu eigentlich geeigneten Internationalen Strafgerichtshof missachten oder den UNO-Sicherheitsrat per Veto blockieren.
So ist die 4. Genfer Konvention in den letzten drei Jahrzehnten zunehmend zu einem leeren Versprechen verkommen. Und dennoch, würde Henry Dunant wahrscheinlich sagen, ist es richtig und notwendig an der Konvention festzuhalten, selbst wenn auch nur ein einziger Zivilist tatsächlich durch sie geschützt würde.

Andreas Zumach, Journalist und Buchautor, studierte Sozialarbeit, Volkswirtschaft und Journalismus in Köln. Seit 1988 ist er Korrespondent am Sitz der UNO in Genf für die Berliner "tageszeitung" (taz) sowie andere Zeitungen, Rundfunk-und Fernsehanstalten und Internetplatformen in Deutschland, der Schweiz, Österreich und den USA. Sein letztes Buch "Globales Chaos Machtlose UNO- ist die Weltorganisation überflüssig geworden?" erschien im Rotpunkt Verlag Zürich.

© Kristin Flory
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