Schule zu Hause

Freilerner im Wendland

Unterricht an der Heinz-Brandt-Sekundarschule in Berlin-Weißensee.
Das Lernen im Klassenverband nach Lehrplan kommt für Freilerner nicht infrage. © picture alliance / dpa / Stephanie Pilick
Von Katrin Albinus · 27.10.2014
Lernen abseits des Schulsystems. Dafür entscheiden sich hierzulande immer wieder Eltern für ihre Kinder, obwohl sie damit gegen das Gesetz verstoßen. Wie zum Beispiel eine Freilerner-Familie im niedersächsischen Wendland.
Jara Rempf hat Besuch von ihrer Freundin Liv aus Schweden. Die 17-jährigen Mädchen sitzen am Küchentisch und schneiden Gemüse, bereiten das Essen vor. Zwei Jahre hat Jara mit ihrer Familie in Schweden gelebt, als sie hinzogen, war sie neun.
Schwedisch lernt Jara damals ganz nebenbei von ihrer Freundin Liv. Wie gut ihre Tochter spricht, fällt Mutter Jessica nach ein paar Monaten bei einem Schwimmbadbesuch auf.
"Weil sie hat nämlich mit ihren Freundinnen Schwedisch gesprochen, und als sie mich getroffen hat, mit mir natürlich Deutsch, und das hatte die Bademeisterin beobachtet und da wurde Jara gefragt: Warum kannst du denn so gut Deutsch?"
Nicht zur Schule zu gehen - das lag für Jara nah, weil auch ihre ältere Schwester Chalina keine Schule besuchte. Die ist mittlerweile Anfang 20 und macht eine Schneiderlehre, auch ohne Schulabschluss. Mit dem Schulsystem selbst hatte Chalina eigentlich gar kein Problem, auch mit den Lehrern kam sie gut aus. Der dauernde Streit zwischen Lehrern und Schulkameraden aber, das Mobbing und tätliche Auseinandersetzungen setzen Chalina irgendwann so stark zu, dass sie eines Tages ihre Mutter anschreit, als die versucht, sie wieder einmal zu besänftigen.
Jessica Rempf: "Und dann hat sie mich richtig... (wird laut) ja ich weiß das, ich weiß das, aber Scheiße, ich kann das nicht mehr, ich kann nicht das alles so miterleben und dann selber nicht aggressiv werden. Ich schaff das nicht mehr, ich will nicht mehr. Ja – die hat richtig mit voller Kraft das rausgebrüllt."
Ein Schlüsselerlebnis hat die Mutter überzeugt
Für Jessica Rempf ein Schlüsselerlebnis. Sie bricht ihr Lehramtsstudium nach zehn Semestern ab, nimmt die 12-jährige Chalina und ihre kleine Schwester aus der Schule, zieht mit den Kindern von Hamburg aufs Land, und zwischenzeitlich auch nach Schweden. Die Mutter will ihre Töchter zunächst selbst unterrichten, zu Hause. Chalina aber sperrt sich gegen all zu viel Theorie, will nicht stur Formeln und Grammatik pauken - Dinge lieber selbst ausprobieren und lösen. Und erst fragen, wenn sie nicht weiter weiß.
Chalina: "Da gibt’s ja auch Plattformen, wo man sagen kann: Hey, ich würd gerne das und das und das lernen, kann ich mal ein paar Wochen zu euch kommen und da drüber was lernen, oder mir was erklären lassen, oder man telefoniert, man schreibt. Es gibt ja so viele Möglichkeiten heute, man findet dann so heraus, wen man fragt bei welchen Fragen."
Freilerner zu sein – das bedeutet meist, in Projekten zu lernen, statt in Fächern. Die ganze Bandbreite der Schulfächer interessiert sie nicht, sagt Chalina, das meiste würde man ohnehin wieder vergessen. Daher konzentrieren sich Freilerner nur auf das, was sie wirklich interessiert: Bei Chalina sind das Musik machen und alles rund um Textilien: stricken, filzen und nähen. Jara dagegen beschäftigt sich leidenschaftlich gerne mit Pferden. Morgens versorgt sie die Tiere, Nachmittags trainiert sie mit ihnen.
Echtes Interesse statt Lehrplan
Vor dem Essen ist noch etwas Zeit, mit der Stute Lola an ihrem Lieblingsthema zu arbeiten: Der Tier-Mensch-Kommunikation, eine Verständigung, die hauptsächlich über Körpersprache funktioniert. Und als Freilernerin macht Jara natürlich auch mit ihren Pferden hauptsächlich: Frei-Arbeit.
Jara: "Freiarbeit basiert darauf, dass ich denen zeige: Ich bin hier, ich lauf jetzt hier rum und ich hab Lust, was mit euch zu machen. Ich lade sie dann ein, mit mir eine Bewegung zu machen, oder einfach nur zu mir zu kommen. Und wenn sie dann bei mir sind, kann ich eben auch das Halfter anziehen oder auch nicht, und dann mit dem Halfter durch Signalgebung noch einige Aufgaben mit denen üben."
Alles, was Jara schon kann, hat sie sich angelesen, es mit den Tieren selbst erarbeitet oder in Kursen gelernt, die sie sich gezielt sucht. Die Kommunikation mit der Stute wirkt schon sehr fein abgestimmt – sie reagiert auf Bewegungen, Geräusche, Berührungen – wenn auch noch nicht immer so, wie Jara sich das wünscht. Ein paar mal steigt Lola, zeigt so ihren Unwillen.
Jara: "Und jetzt zum Beispiel hat meine Kommunikation gerade versagt, weil sie es nicht von mir lesen konnte, was ich von ihr wollte. Und da muss ich jetzt erst mal noch in meinem Buch nachschlagen, gucken, was für Zeichen kann ich ihr noch geben, um ihr zu signalisieren: Ich würde gerne, dass du seitwärts gehst."
Auf dem Heimweg erzählt Jara, dass ihr Schulfreunde nicht wirklich fehlen, weil ihre Familie gut vernetzt ist mit anderen Freilerner-Familien. Die Jugendlichen besuchen sich, tauschen sich aus, bringen sich gegenseitig Dinge bei.
Und auf die Frage, ob sie denn mit dem, was sie jetzt lernt, einmal Geld verdienen kann, antwortet sie, dass das ja auch viele nicht wüssten, die eine "richtige" Ausbildung gemacht haben. Wie sie gerne leben würde, davon hat sie jedenfalls eine ziemlich konkrete Vorstellung.
Jara sieht sich auf einem Bauernhof und möchte von Urlaubsvermietungen leben und davon, ihr Wissen weiter zu geben.
"Wie funktioniert das wirklich, Mensch-Tier-Kommunikation. Ich würde schon gerne unterrichten und Kurse geben und klar – dafür muss ich mich erstmal selber weiter bilden."
Die Behörden fragen nicht nach den Gründen
Und das tut sie auch jeden Tag – nur nicht in einer Schule. Ein paar Jahre bleibt das unbemerkt, vor einigen Monaten aber wird die Behörde aufmerksam, als die Familie umzieht. Ein Bußgeld wird verhängt, Jessica Rempf schaltet einen Anwalt ein - wie es jetzt weiter geht, ist noch offen, erzählt sie, bevor sich die Familie zum Essen setzt. Was Jessica Rempf besonders stört in dem Verfahren: Keiner kommt vorbei und spricht mit Jara, schaut, wie es ihr geht oder fragt nach Gründen, warum sie der Schule fern bleibt.
Jessica Rempf: "Weder die Frau beim Schulamt, noch die Schulleiterin, noch der Richter, also das ist zum Beispiel was, wo ich in Schweden ganz andere Erfahrungen gemacht habe – dass die Schulleiterin uns eben eingeladen hat und wirklich interessiert gefragt hat: Jara, was machst du denn eigentlich den ganzen Tag?"
Da hätte Jara jedenfalls einiges zu erzählen.
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