Schule ist nicht alles
Seine Idee heißt „Entschulung“, Hartmut von Hentig stellt das soziale Lernen als Lernziel in den Vordergrund. Der inzwischen 81-jährige Nestor der Reformpädagogik in Deutschland möchte, dass Jugendliche außerhalb der Schule erleben, was es heißt, Verantwortung füreinander zu übernehmen. Doch laufen seine Vorschläge auch Gefahr, sich auf Lagerfeuerromantik zu beschränken. Außerdem bedient sich der gelernte Altphilologe einer nicht immer unbedenklichen Sprache.
Hartmut von Hentig plädierte auch in früheren Werken schon für ein neues Selbstverständnis der Schulen (1969: Systemzwang und Selbstbestimmung), fragte in den 70er Jahren, was eine „humane Schule“ sei, um schließlich in den 90er Jahren Schulpolitiker, aber auch Eltern und Lehrer mit dem Appell zu konfrontieren, sie mögen „Schule neu denken“.
Die Schule – so das durchgängige Argument – sei Bewahranstalt und Treibhaus, Schonraum, Sozialstation, Sortieranstalt oder Startmaschine oder auch alles auf einmal, aber nichts richtig: Sie entlasse ihre Schüler kenntnisreich, doch erfahrungsarm, erwartungsvoll, aber orientierungslos in die Gesellschaft.
Der inzwischen 81-jährige Nestor der Reformpädagogik in Deutschland beklagt die fortschreitende Ökonomisierung der Gesellschaft und stellt fest, dass Jugendliche bereits in der Schule vorwiegend darauf getrimmt werden „zu funktionieren“. Was aber in ihrer Erziehung zu kurz komme, seien Erfahrungen im Umgang miteinander. Von Hentig möchte, dass Jugendliche in der Pubertät erleben, was es heißt, Verantwortung füreinander zu übernehmen.
Der Untertitel seines „Manifests“ lautet denn auch „Von der nützlichen Erfahrung, nützlich zu sein.“ Jugendliche sollen eben nicht allein Fertigkeiten und Wissen erwerben, sondern sich zugleich in der Gemeinschaft bewähren. Das soziale Lernen stellt von Hentig als Lernziel in den Vordergrund.
Seine Idee heißt „Entschulung“, und er unterbreitet zwei Vorschläge, wie das soziale Lernen außerhalb enger Schulmauern praktiziert werden sollte. Zum einen plädiert er für ein verpflichtendes soziales Dienstjahr für alle im Anschluss an die Schule, für einen verbindlichen „Ehrendienst“ zum Beispiel in der Sozialarbeit oder dem Umweltschutz. Zum zweiten entwirft er ein „Lebensexperiment“ für 13- bis 15-Jährige: wie kann der Unterricht der Mittelstufe für zwei Jahre außerhalb der Schule organisiert werden? Aufgabe einer Projektgruppe wäre zum Beispiel, ein verlassenes Bauernhaus für sich bewohnbar zu machen – unter Anleitung von besonders einfühlsamen Erwachsenen, aber eben selbstverantwortlich.
Zudem schlägt er vor, die Sommerferien auf drei Monate zu verlängern und im gewonnenen Zeitraum Jugendlichen längere Studienfahrten zu ermöglichen oder auch den Dienst in einer humanitären Einrichtung. Die Bürger der Städte sollen zu Partnern der Schüler werden. Und diese sollen ihrerseits den Sinn kooperierender Gemeinschaften erleben und begreifen.
Auch in der nicht-schulischen Umgebung könnten die Kinder englische und französische Konversation treiben, sich spielerisch mit Latein beschäftigen oder Lieder übersetzen. Doch laufen solche Vorschläge auch Gefahr, sich auf Lagerfeuerromantik zu beschränken. Außerdem bedient sich der gelernte Altphilologe einer nicht immer unbedenklichen Sprache. Wenn er das verpflichtende soziale Dienstjahr propagiert, spricht er von „Ehrendienst“, ganz so wie einst die Nationale Volksarmee der DDR. Und Ziele wie die Bewährung bei Ordnung und Disziplin in Lagern wecken ungute Erinnerungen nicht nur an Pfadfinderabenteuer.
Von Hentig entgeht dabei nicht, dass er falsch verstanden oder in die Nähe brauner Ideologen gerückt werden könnte. Deren Gedankengut ist ihm wahrlich fremd, das beweist sein Lebenswerk nachdrücklich. Stets wollte er die Entfaltung des Individuums befördern – der starke Einzelne ist von jeher der Feind totalitärer Regime. Dass sich der 81-Jährige hier nun in Träumereien von Jugendlagern ergeht, ist nicht nur provokant, sondern auch verwunderlich.
Zugegeben: die Sprache irritiert bisweilen und auch von Hentigs idealistisches Bild der Stadt als polis mag mit der Handy- und H&M-Realität der Kids heute schwer zu vereinbaren sein. Warum von Hentig außerdem Anleihen beim sowjetischen Pädagogen Makarenko nimmt, bleibt unerklärlich. Andererseits ist es mehr als überfällig, dass sich die Gesellschaft einen Begriff davon macht, was und wie Jugendliche lernen, und wie sie soziale Kompetenz erlangen, auch wenn sie ihren Eltern abgehen sollte.
Wenn jetzt ein erfahrener Pädagoge wie Hartmut von Hentig den streitbaren Vorschlag eines verpflichtenden Dienstjahres macht, so sollte man das nicht einfach abtun mit dem Hinweis, dass doch das Grundgesetz dafür geändert werden müsste. Der Bundespräsident hat in seiner Berliner Rede die Idee aufgegriffen – wohl wissend, dass hier Fallstricke liegen: Freiwilligendienste und bürgerschaftlich Engagierte haben inzwischen hohe Professionalität erreicht, der durch bloßen Pflichtdienst keine Konkurrenz entstehen sollte.
Umso mehr gilt aber: Für neue Bewegung in der Bildungsdebatte können wir Hartmut von Hentig dankbar sein.
Hartmut von Hentig: Bewährung. Von der nützlichen Erfahrung, nützlich zu sein
Hanser Verlag, München, Wien 2006
12,50 Euro
Die Schule – so das durchgängige Argument – sei Bewahranstalt und Treibhaus, Schonraum, Sozialstation, Sortieranstalt oder Startmaschine oder auch alles auf einmal, aber nichts richtig: Sie entlasse ihre Schüler kenntnisreich, doch erfahrungsarm, erwartungsvoll, aber orientierungslos in die Gesellschaft.
Der inzwischen 81-jährige Nestor der Reformpädagogik in Deutschland beklagt die fortschreitende Ökonomisierung der Gesellschaft und stellt fest, dass Jugendliche bereits in der Schule vorwiegend darauf getrimmt werden „zu funktionieren“. Was aber in ihrer Erziehung zu kurz komme, seien Erfahrungen im Umgang miteinander. Von Hentig möchte, dass Jugendliche in der Pubertät erleben, was es heißt, Verantwortung füreinander zu übernehmen.
Der Untertitel seines „Manifests“ lautet denn auch „Von der nützlichen Erfahrung, nützlich zu sein.“ Jugendliche sollen eben nicht allein Fertigkeiten und Wissen erwerben, sondern sich zugleich in der Gemeinschaft bewähren. Das soziale Lernen stellt von Hentig als Lernziel in den Vordergrund.
Seine Idee heißt „Entschulung“, und er unterbreitet zwei Vorschläge, wie das soziale Lernen außerhalb enger Schulmauern praktiziert werden sollte. Zum einen plädiert er für ein verpflichtendes soziales Dienstjahr für alle im Anschluss an die Schule, für einen verbindlichen „Ehrendienst“ zum Beispiel in der Sozialarbeit oder dem Umweltschutz. Zum zweiten entwirft er ein „Lebensexperiment“ für 13- bis 15-Jährige: wie kann der Unterricht der Mittelstufe für zwei Jahre außerhalb der Schule organisiert werden? Aufgabe einer Projektgruppe wäre zum Beispiel, ein verlassenes Bauernhaus für sich bewohnbar zu machen – unter Anleitung von besonders einfühlsamen Erwachsenen, aber eben selbstverantwortlich.
Zudem schlägt er vor, die Sommerferien auf drei Monate zu verlängern und im gewonnenen Zeitraum Jugendlichen längere Studienfahrten zu ermöglichen oder auch den Dienst in einer humanitären Einrichtung. Die Bürger der Städte sollen zu Partnern der Schüler werden. Und diese sollen ihrerseits den Sinn kooperierender Gemeinschaften erleben und begreifen.
Auch in der nicht-schulischen Umgebung könnten die Kinder englische und französische Konversation treiben, sich spielerisch mit Latein beschäftigen oder Lieder übersetzen. Doch laufen solche Vorschläge auch Gefahr, sich auf Lagerfeuerromantik zu beschränken. Außerdem bedient sich der gelernte Altphilologe einer nicht immer unbedenklichen Sprache. Wenn er das verpflichtende soziale Dienstjahr propagiert, spricht er von „Ehrendienst“, ganz so wie einst die Nationale Volksarmee der DDR. Und Ziele wie die Bewährung bei Ordnung und Disziplin in Lagern wecken ungute Erinnerungen nicht nur an Pfadfinderabenteuer.
Von Hentig entgeht dabei nicht, dass er falsch verstanden oder in die Nähe brauner Ideologen gerückt werden könnte. Deren Gedankengut ist ihm wahrlich fremd, das beweist sein Lebenswerk nachdrücklich. Stets wollte er die Entfaltung des Individuums befördern – der starke Einzelne ist von jeher der Feind totalitärer Regime. Dass sich der 81-Jährige hier nun in Träumereien von Jugendlagern ergeht, ist nicht nur provokant, sondern auch verwunderlich.
Zugegeben: die Sprache irritiert bisweilen und auch von Hentigs idealistisches Bild der Stadt als polis mag mit der Handy- und H&M-Realität der Kids heute schwer zu vereinbaren sein. Warum von Hentig außerdem Anleihen beim sowjetischen Pädagogen Makarenko nimmt, bleibt unerklärlich. Andererseits ist es mehr als überfällig, dass sich die Gesellschaft einen Begriff davon macht, was und wie Jugendliche lernen, und wie sie soziale Kompetenz erlangen, auch wenn sie ihren Eltern abgehen sollte.
Wenn jetzt ein erfahrener Pädagoge wie Hartmut von Hentig den streitbaren Vorschlag eines verpflichtenden Dienstjahres macht, so sollte man das nicht einfach abtun mit dem Hinweis, dass doch das Grundgesetz dafür geändert werden müsste. Der Bundespräsident hat in seiner Berliner Rede die Idee aufgegriffen – wohl wissend, dass hier Fallstricke liegen: Freiwilligendienste und bürgerschaftlich Engagierte haben inzwischen hohe Professionalität erreicht, der durch bloßen Pflichtdienst keine Konkurrenz entstehen sollte.
Umso mehr gilt aber: Für neue Bewegung in der Bildungsdebatte können wir Hartmut von Hentig dankbar sein.
Hartmut von Hentig: Bewährung. Von der nützlichen Erfahrung, nützlich zu sein
Hanser Verlag, München, Wien 2006
12,50 Euro