Schule in Zeiten von Corona

Unterricht mit Abstand

29:28 Minuten
Schüler mit Masken auf dem Pausenhof, Wiederaufnahme des Schulbetriebs an der Realschule Benzenberg unter Auflagen des Corona Infektionsschutzes.
Für viele Schülerinnen und Schüler sind die neuen Regelungen noch gewöhnungsbedürftig. © picture alliance / imageBROKER
Von Felicitas Boeselager  · 21.06.2020
Audio herunterladen
Alle Schülerinnen und Schüler in Deutschland kehren seit ein paar Wochen tageweise zurück in ihre Schulen. Ihr Alltag ist geprägt von neuen Regeln und Unsicherheiten. Was macht das mit jungen Menschen und ihren Lehrern?
"Hallo Emma."
"Hallo"
"Du bist solo heute, oder kommt deine Mama auch?"
"Nee, meine Mama ist heute noch im Telefonat."
Es ist ein schwüler Frühlingstag Mitte Mai. Wie jeden Montag, seit in Bremen wegen Corona die Schulen geschlossen wurden, besucht Klassenlehrer Frank Dopp gemeinsam mit der Sozialpädagogin Astrid Möllmann seine Schüler und Schülerinnen vor ihrer Haustür.
"Erstmal das Allerwichtigste für uns, damit wir dich morgen an der richtigen Stelle zum richtigen Zeitpunkt finden: Das ist der Brief für Euch, das ist der Fahrplan. Du guckst dir jetzt gleich oben in Ruhe an, was muss ich am Montag noch machen. Wie verbringe ich dann den Dienstag, bis ich dann um 13.00 Uhr auf dem Schulhof sein werde, okay?"

Nach acht Wochen wieder Schule

Mit einem gelben Textmarker streicht Dopp die wichtigen Stellen in seinem Brief für die Klasse an. Morgen ist ein besonderer Tag für Emma und alle anderen: Nach acht Wochen geht es zum ersten Mal wieder in Schule.
"Das ist es von unser Seite, hast du noch was?"
"Du weißt ja, Abstand halten, nicht umarmen. Aber du bist auch jemand, die sich freut, wenn ihr wieder in echt zusammen kommen könnt?"
"Also ich freu mich schon drauf, ich bin wahrscheinlich morgen ganz aufgeregt."
Der kleine Plausch und Stopp bei Emma ist nur einer von 23 Besuchen, die Möllmann und Dopp an diesem Nachmittag machen. Mit dem Fahrrad geht es knapp vier Stunden lang durch den Bremer Osten rund um die Gesamtschule Ost. In den vergangen Wochen seien die beiden immer schneller geworden, haben einen Sport daraus gemacht, Abkürzungen zu finden.
Frank Dopp steht kurz vor der Rente, hat kein Smartphone, die digitale Welt ist ihm fremd. Er glaubt, dass er seine Schüler online nicht mehr verantwortungsvoll unterrichten hätte können. Also hat er sich überlegt, wie er seine Schüler trotzdem erreichen kann. Die Fahrradtour habe ihm gegen die eigene Ohnmacht geholfen. Er habe sich autonomer gefühlt in all den Corona-Einschränkungen.

Einige Schüler sind im Lockdown aufgeblüht

"Und für mich ist es weiterhin kein großes Ding, diese eine Tour, die anfangs vier Stunden, später dreieinhalb Stunden war", sagt er.
"Neben dem Effekt, dass ich den Stadtteil besser kennen gelernt habe, ist es ansonsten meine Dienstzeit gewesen, also das was ich nicht unterrichtet konnte im Klassenraum, habe ich dann eben auf die Straße gebracht und an andere Orte, also es ist für mich letztlich keine Mehrarbeit gewesen. Und auf jeden Fall so befriedigender, als jemandem auf dem Bildschirm zu sehen. Also ein eigener Gewinn auch, es ist nicht selbstlos, was ich da gemacht habe."
Gleichzeitig ist der Kontakt zu den Schülern so nicht abgerissen und die beiden Pädagogen haben ein gutes Gefühl dafür entwickelt, wie es ihren Schülern geht. Wer in welcher Stimmung und in welchem Look die Tür öffnet. Manchen habe die Zeit daheim regelrecht gut getan, sie seien aufgeblüht unter der Aufmerksamkeit ihrer Eltern, der Ruhe, in der sie ihre Arbeit erledigen konnten. Andere wurde mit der Zeit blasser, trauriger und gingen auf Distanz.
Viele Kinder haben trotz E-Learning und Videokonferenzen einen ganzen Haufen an Fragen, wenn Möllmann und Dopp vor der Tür stehen.
"Ich hatte auch gehört, also ich weiß nicht, ob das stimmt, dass wir in der Klasse nicht mehr reden dürfen."
"Sag besser nicht, wer das gepostet hat."
"Also ich möchte jetzt nicht petzen."
"Fragen dürft ihr stellen, ganz viele, alles was euch auf der Seele liegt."
"Darauf freuen wir uns, dass wir wieder zusammen reden dürfen."

Vorfreude mit Einschränkungen

Die 13-jährige Irim steht in ihrem Eingang eines großen Mehrfamilienhauses, sie freut sich sehr, dass die Schule am nächsten Tag wieder losgeht. Aber wie einige der Schülerinnen ihrer Klasse macht sie sich Sorgen, dass die Zeit ohne Unterricht ihre Leistungen verschlechtert hat.
"Aber mein Deutsch ist auch sehr schlecht geworden."
"Habe ich dir das so zurück gemeldet?"
"Nein, aber ich weiß das selber."
"Redet ihr immer Türkisch zuhause?"
"Nein, ich rede Deutsch, aber mein Deutsch ist nicht gut, nicht gut."
"Dann können wir daran mit Geschichten schreiben trainieren, Du wirst eine Menge lernen können, das ist gut."

Lange Liste mit Verhaltensregeln für die Schüler

Die Freude auf den ersten Schultag kommt mit allerlei Einschränkungen daher, die Liste auf Dopps Brief an die Schüler ist lang: Maske mit in die Schule nehmen, bitte nicht zu früh am Schulhof erscheinen, vorher Mittagsessen, vorher auf die Toilette gehen, niemanden umarmen und, und, und...
Schülerbeine in Jeans und Turnschuhen stehen mit Abstand voneinander im Flur einer Schule.
Abstand halten - für viele Schüler ist das nicht leicht.© imago / Lichtgut / Max Kovalenko
"Da müssen wir auch mal gucken, wie wir damit umgehen, wenn wir als erstes sagen: ‚Bitte das nicht, bitte da Abstand halten, jetzt nicht zusammen die Treppe hoch, also wir werden da eine Aufgabe haben, die wir... "
"Nicht mögen! Also sowieso nicht mögen und die an den Anfang gesetzt schon eine merkwürdige Atmosphäre verbreiten, aber es geht halt nicht anders."
Nach knapp vier Stunden haben Möllmann und Dopp ihr wöchentliches Fitnessprogramm hinter sicher. Die Vorfreude auf den nächsten Tag wächst.
"Ich bin heiß drauf, ich freu mich total wieder mit den Schülern zusammen zu sein."

Die halbe Klasse hinter einer Glastür

Es ist so weit. Dienstag 12.30 Uhr, Mitte Mai. In einer halben Stunde kommt die Klasse 7.3 der Gesamtschule Ost in Bremen zum ersten Mal nach acht Wochen wieder in die Schule. Das Lehrerteam plant die nächsten Schritte. Zu Frank Dopp und Astrid Möllmann ist auch Sonderpädagoge Siebo Donker dazu gekommen. Er teilt sich die Klassenlehrerstelle mit Frank Dopp. Zur Vorfreude gesellt sich jetzt die Anspannung.
Die Klasse wurde in zwei Gruppen aufgeteilt, sie sind zwar gleichzeitig in der Schule, sitzen aber in unterschiedlichen Räumen, getrennt durch eine Glastür. Drei Mal in der Woche sollen sie ab heute kommen: Montags, dienstags und freitags, immer nachmittags für vier Stunden.
Auch der Klassenraum hat sich verändert. Die Einzeltische stehen weit auseinander, die Fenster sperrangelweit offen. Der Text auf der Tafel erinnert an eine andere Zeit:
"Ich hab noch die ganzen Sachen stehen lassen, vom ganzen Tag x, bevor wir gegangen sind. Da können die noch einmal draufschauen, dann wischen wir es ab."
"Schwamm drüber. Das ist bei ganz vielen Inhalten da. Klassenfahrt im Oktober. Das wird’s dann gewesen sein."
"Ja, Schwamm drüber."
Die beiden Klassenlehrer Dopp und Donker gehen durch das Einbahnstraßen-Labyrinth der Schule drei Stockwerke nach unten zum Schulhof. Dort werden sie gleich die Schüler treffen, ihnen erklären, wie sie sich in den Fluren verhalten sollen, welche Wege sie benutzen dürfen und sie dann in ihren Klassenraum bringen. Die Gesamtschule Ost ist mit über 1000 Schülern die größte Schule Bremens. Aber an diesem Nachmittag sind die Flure leer, nur wenige Klassen sind gleichzeitig im Schulgebäude.

Schulbeginn mit Donnerwetter

Kein einziger Schüler war zum richtigen Zeitpunkt am verabredeten Ort. Siebo Donker muss die Schüler suchen gehen. Erst zehn Minuten später sind alle bei den Basketball-Körben hinter der Schule versammelt. Der erste Schultag beginnt mit einem Donnerwetter:
"Wer von euch war tatsächlich von zehn Minuten an diesem Ort?"
"Niemand? Ohne Scheiß, das ist ein ganz schlechter Anfang, das meine ich Ernst. Wenn ich Euch gestern mit gelben Marker die Dinge benenne, lesen sie durch und ich unterstreiche um 13 Uhr auf dem Schulhof und nicht eine einzige Person von Euch ist um 13 Uhr hier? Wer sollte sich schämen? Ja, richtig, ihr könnt euch alle melden, das finde ich richtig ärgerlich"
Betreten, verschämt grinsend, trotzig: Die 23 Gesichter, die Frank Dopp jetzt entgegenblicken, sprechen Bände.
"Wenn ihr das schon nicht hinkriegt, dann haben wir hier eine sehr schwere Zeit vor uns."
Durch die Einbahnstraßen der Schule geht es auf umständlichen Wegen mit Mund und Nasenschutz in die beiden Klassenzimmer. 11 Teenager in einem Raum, 12 direkt daneben, getrennt nur durch eine Glastür. Trotz eindringlichen Ermahnungen der Lehrer fällt es vielen Schülern schwer den Abstand einzuhalten. Es wird geschubst, geknufft, getuschelt.
Und endlich freut sich heute auch mal ein Lehrer.
"Herzlich willkommen, schön dass ihr da seid."
Es dauert eine Weile bis alle sich zu Recht gefunden, ihre Hände gewaschen und ihre neuen Abstands-Sitz-Nachbarn abgecheckt haben.

Die 7.3 will keinen Abstand, sondern flirten

"Ich würde jetzt gern von euch wissen, was soll der nächste Punkt sein? Wollt ihr mehr Regeln? Oder sollen wir jetzt erstmal darüber reden, wie es euch ergangen ist?"
Die 12 Schüler dieser Gruppe sitzen unruhig auf ihren Stühlen. Weil man bei diesem Abstand schlecht die Köpfe zusammenstecken und flüstern kann, wird es immer lauter. Die Anspannung im Raum ist spürbar, die Schüler wollen sich zeigen, die anderen sehen, sich in Szene setzen, flirten.
Hinter der Glastür, im anderen Raum unterrichtet Siebo Donker. In seiner Gruppe sitzt in der zweiten Reihe die 13-Jährige Emma, bei der die Lehrer gestern auf ihrer Tour den ersten Stopp gemacht haben. Emma trägt Jeans und Turnschuhe und gehört zu den größeren Mädchen aus ihrer Klasse. Sie wirkt zurückhaltend und schaut ihren Lehrer erwartungsvoll an. Überhaupt herrscht in Emmas Gruppe eine gänzlich andere Atmosphäre als im Nachbarzimmer.
Vor der Tafel in einem Klassenzimmer stehen ein Lehrer und eine Lehrerin mit jeweils einem aufgeschlagenen Schulbuch in der Hand. Die Lehrerin trägt einen Mundschutz.
Astrid Möllmann und Frank Dopp haben ihre Klasse wochenlang mit dem Fahrrad besucht.© Felicitas Boeselager
Hier sind die Schüler ruhig und aufmerksam. Trotz der montäglichen Besuche haben sich viele Fragen und Unsicherheiten angestaut. Wie geht man mit Menschen um, die nicht Abstand halten? Kann man Corona nur einmal bekommen? Was passiert, wenn es einen Corona-Fall in der Schule gibt? Und schließlich entsteht eine Diskussion, ob die Schulöffnung nicht zu früh war. Fast jeder Schüler in dieser Gruppe beteiligt sich an der Diskussion, hört den anderen zu, ist aufmerksam. Und dann liegen ihnen noch ganz andere Themen auf dem Herzen, in acht Wochen können sich 13-, 14-Jährige schließlich sehr verändern:
"Mir ist gleich als allererstes, als ich auf den Schulhof gegangen bin, aufgefallen, dass Erhan keine Locken mehr hat."
"Ja, Emma."
"Also mir ist aufgefallen, Lias, du hast so eine Stimme, so ein bisschen, als wärst du krank, als hättest du Schnupfen oder so."
"Stimmbruch, ja süß..."
"Ja, Zeynep?"
"Mir ist aufgefallen, dass Carina voll gewachsen ist."
"Valentina?"
"Mir ist aufgefallen, weil alle so schnell wachsen, dass ich mir wie ein Zwerg vorkomme."
Nach zwei Stunden ankommen, beschnuppern, Unterlagen sortieren und einer kurzen Pause geht dann zum ersten Mal wieder der richtige Unterricht los. Also fast richtiger Unterricht.

Der Lehrer im Türrahmen

"Jetzt steht ihr auf, hebt den Stuhl an, geht links an eurem Tisch vorbei und stellt den Stuhl ab und setzt euch wieder hin."
Jetzt blicken die Schüler beider Gruppen auf die Verbindungstür zwischen ihren Klassenräumen. Im Durchgang steht Frank Dopp und versucht, so beide Gruppen gleichzeitig in Deutsch zu unterrichten.
Es ist ein anstrengender erster Schultag, nicht nur für die Lehrer. Vielen Schülern fällt es schwer, ruhig sitzen zu bleiben, andere wollen sich gerne konzentrieren, werden aber abgelenkt. Trotzdem: Immer noch besser, als wochenlang zu Hause allein den Bildschirm anstarren. Findet zumindest die 13-jährige Jule.
"Also ich fand’s gut, ich war ein bisschen hyperaktiv und aufgeregt, ich hab mich halt doch gefreut, die anderen dann doch halt wieder zu sehen, aber ich war noch sehr unruhig, ich hoffe das legt sich dann auch wieder. Also ich freu mich jetzt auch auf die weiteren Tage."
Nachdem alle Schüler verschwunden sind, blicken Möllmann, Dopp und Donker auf den ersten Tag zurück:
"Ich bin richtig unter Spannung gekommen."
"Aber es lag an deiner Gruppe auch."
"Ich wollte unbedingt noch zu Deutsch kommen, aber es ist ja nicht planbar: Wie lange dauern die Gespräche, wie lange dauert es Regelwerke zu erklären, bis wir zumindest den Eindruck haben, der auch trügen kann, sie haben verstanden, was jetzt die wesentlichen Sachen sind."
Wegen eines Feiertages ist der nächste Unterrichtstag erst wieder in einer Woche, genug Zeit für die Schüler also um zu Hause alle neuen Regeln wieder zu vergessen.

"In den Tag reinschludern macht unglücklich"

Zuhause. Das ist für die 13-jährige Emma aus der 7.3 eine kleine Dreizimmerwohnung im dritten Stock eines Mehrfamilienhauses im Bremer Osten. Hier wohnt sie mit ihren Eltern Mandy und Alexander und ihrer 11-Jährigen Schwester Maya Dahnken. Es ist halb acht morgens, als die Familie um ihren kleinen Küchentisch sitzt, die Laune ist gut. Emma erzählt von ihrem neuen Stundenplan, der Nachmittagsunterricht gefällt ihr nicht.
"Also die Zeit vorher war halt: Morgens arbeiten und dann nachmittags halt frei, Eis essen."
"Ja, genau. Wir haben uns so einen Plan gemacht, von 9 bis 12 wird gearbeitet für die Kids und danach ist dann Freizeit."
Jeden Tag haben die Dahnkens so versucht die Struktur in ihrem Alltag zu behalten. Alle stehen um sieben auf, frühstücken gemeinsam und gehen dann an ihre Arbeitsplätze. Alexander Dahnken kocht das Mittagsessen vor und geht dann zur Arbeit. Abends treffen sich alle wieder zum gemeinsamen Abendessen. Besonders der jüngeren Maya sei es am Anfang schwer gefallen sich zu strukturieren, da habe ein klarer Zeitplan geholfen, sagt Mandy Dahnken.
"Ja, man hat dann schon das Gefühl, wenn man so ganz in den Tag so reinschludert, dann macht das unglücklich."
So hatte Emma im Gegensatz zu einigen ihrer Klassenkameraden keinen Corona-Jetlag. Vielen Jugendlichen ist in den vergangenen Wochen der Tag-Nacht-Rhythmus total verrutscht. Irim zum Beispiel, die an der Haustür so viel Fragen an ihre Lehrer hatte. Sie schläft manchmal drei Tage hintereinander so gut wie gar nicht, danach ganze Tage durch.

"Ein Teil unserer Schüler sind zu Vampiren geworden"

Frank Dopp und Astrid Möllmann konnten bei ihrer Fahrradtour gut beobachten, was dieser verschobene Rhythmus mit den Schülern macht.
"Ich sag immer, ein Teil unserer Schüler sind zu Vampiren geworden. Die sind nachts wach und über Tags schlafen die und die wirklich sehr haltlos sind in dieser Zeit."
"Vampire, die dann auch nichts hinkriegen, an schulischen Aufgaben."
"Genau, die große Probleme haben sich hinzusetzen, zu arbeiten, überhaupt aufzustehen, die große Probleme haben sich aufzuraffen und eigentlich eher liegen und ja, manchmal schon depressive Anwandlungen haben."
Mit einem Holzhocker unterm Arm verschwindet Mandy Dahnken im Eltern-Schlafzimmer. Die Dahnkens haben in ihrer Wohnung keinen Platz für vier Schreibtischstühle, geschweige denn für ein extra Arbeitszimmer.
Blick auf ein rotes Schulgebäude mit Schulhof und Bibliothek.
In der Zeit der coronabedingten Schulschließung haben manche Schüler die Struktur in ihrem Alltag verloren.© Felicitas Boeselager
Im gemeinsamen Zimmer der Mädchen steht ein langer Schreibtisch, dort haben beide auf ihren Holzhockern nebeneinander Platz. Kurz nachdem die Schule geschlossen wurde, hat die Familie noch die große Schreibtischplatte im Baumarkt gekauft. Sonst hätte es nicht genug Arbeitsplätze für alle in der Wohnung gegeben.
Mit einer Mischung aus Improvisationstalent und Disziplin hat die ganze Familie gemeinsam die Schulaufgaben der Mädchen bewältigt. Beim Opa wurden die Aufgaben ausgedruckt, mit den Eltern gebastelt, die Zeit am Laptop zwischen den beiden Töchtern aufgeteilt. Gerade für Maya war die erste Zeit im Homeschooling eine Herausforderung, als Fünftklässlerin hatte sie sich eben erst in der neuen Schule eingewöhnt.
"Das hat mir jetzt schon, also die Coronazeit hat mir so einen Rückschlag gegeben, also weil ich ja auch eine Lernschwäche habe. Konnte ich das halt nicht so gut dann nachlernen, aber dann habe ich von meinem Vater die Kopfhörer genommen und bin einfach mal um den See gelaufen, damit ich dann nicht so gestresst bin, und das hat mir dann wirklich geholfen dann beim Lernen."

An Selbständigkeit verloren

Emma und Maya sind fleißige Schülerinnen, aber sie haben beide eine Lese-Rechtschreibschwäche. Deshalb waren die Aufgaben, die nur schriftlich zu ihnen nach Hause kamen, doppelt anstrengend zu lösen, erzählt ihre Mutter Mandy. Sie und ihr Mann haben geholfen, wo sie konnten, sind aber mit den unterschiedlichen Plattformen und Anforderungen an ihre Grenzen geraten. Durch diese gemeinsame Aufgabe sei ihre Familie noch enger aneinander gewachsen, als sie es ohnehin schon war. Eine Vertrautheit, die schön sei, sagt Mandy Dahnken, aber …
"Ich denke, dass die Kehrseite dazu ist, dass die Kinder auch ein Stück Selbstständigkeit verlieren. Also ich kann mich an eine Situation erinnern, wir haben am Anfang jeden Tag Tagesschau geguckt, und Tagesthemen und auch wenn die Kinder es nicht mitgeguckt haben, war immer so ‚wie viel Tote weltweit' und man hatte das Gefühl, der Tod ist ständig im Wohnzimmer und es gab eine Situation: Emma sollte was aus der Schule abholen und musste da nochmal hin und hat geweint, also richtig so, wie Angst rauszugehen."
Maya und Alexander Dahnken versuchen ihre Kinder dazu zu motivieren, wieder Freunde zu treffen.
"Sie brauchen auch sich und ihre Teenager-Freunde, mit denen sie anders gackern. Das fehlt schon."
Aber Emma ist vorsichtig.
"Es fühlt sich irgendwie falsch an."
"Ok, ich weiß was du meinst."

Die Hälfte der 7.3 in Quarantäne

Auch in der Schule versucht Emma als eine der wenigen, immer auf den richtigen Abstand zu achten, trotz der Freude über die Freunde zieht sie sich etwas zurück. Diese Vorsicht wundert ihre Mutter nicht:
"Meine Schwester ist schwer krank, meine Schwester hat ALS und ist damit Risikopatient und ist damit auch auf Hilfe angewiesen, also wir sind immer auch mit dem Thema konfrontiert: Ich fahre hin zu ihr, bringe ich irgendwas mit? Hat man sich irgendwo angesteckt? Deswegen haben wir uns sehr streng dran gehalten, weil bei uns steht immer im Hinterkopf, dass man jemanden, den man sehr lieb hat, gefährdet."
Es ist Dienstag, 13.00 Uhr, der 26. Mai. Der dritte Schultag für die Klasse 7.3. Von 23 Schülern sind an diesem Tag nur sieben da. Von Normalität und Routine ist eine Woche nach Schulanfang noch keine Spur. Wieder dreht sich zum Stundenbeginn alles nur um ein Thema: Corona.
"Ihr seht drüben, die andere Gruppe ist nicht da, das liegt daran, dass Veronika Kontakt hatte zu einer Person, die infiziert ist. Also, Veronika hatte sich mit ihrem Cousin getroffen, das Ganze war vor zehn Tagen."
Die Klassenkameradin ist zwar nicht infiziert, aber offiziell in Quarantäne. Als Vorsichtsmaßnahme haben die Klassenlehrer mit der Schulleitung dann entschieden, dass alle aus Veronikas Gruppe daheim bleiben. Ob das übervorsichtig war? Ganz einig sind sie sich nicht. Frank Dopp und Astrid Möllmann sitzen im leeren Klassenraum nebenan und rekapitulieren ihre Entscheidung:
"Wenn wir das unseren Schülern sagen: Ihr könnt kommen, es besteht keine Gefahr, passt in der nächsten Zeit auf, auf Symptome. Das löst subjektiv natürlich etwas aus."
"Ja gut, aber auf der anderen Seite, ich sag mal, wenn der Impfstoff erst in zwei Jahren kommt, wir können dann ja nicht immer gleich eine ganze Gruppe zu Hause lassen."

Die kleine Gruppe hilft den Schüchternen

Nebenan muss Siebo Donker viele Fragen beantworten und beruhigen, Fragen auf die auch ein Lehrer nicht immer eine Antwort hat.
"Charly, David, hatte ihr noch eine Frage?"
"Ja, wird der Cousin jetzt geheilt?"
"Puh, ja, ich gehe stark davon aus, ich weiß nicht wie alt der Cousin ist."
Corona ist an diesem Schultag sogar noch gegenwärtiger als am ersten.
Auch in dieser Gruppe fehlen drei Schüler. Ein Schüler wird zunächst nicht mehr kommen, seine Mutter hat Asthma und darum gebeten, dass ihre Kinder zuhause bleiben. Was mit den anderen beiden ist? Das weiß niemand, vielleicht haben sie auch Sorge, vielleicht sind sie einfach krank, oder haben vor lauter Mai-Feiertagen schlicht den Überblick über den neuen Stundenplan verloren. Die Lehrer bemühen sich trotzdem ihren Stoff zu vermitteln.
Frank Dopp ist wieder in seinem Element. Auf das Geschichtenschreiben mit der Klasse hat er sich besonders gefreut. Jeder Schüler hat daheim eine kleine Geschichte zu einem Foto geschrieben, das der Lehrer ihnen mitgegeben hat.
Die 13-Jährige Zeynep sitzt aufrecht auf ihrem Stuhl, während sie ihre Geschichte vorliest, verstellt sie ihre Stimme und macht ihr kleines Pult zu einer Bühne. Die Schüler hören konzentriert zu, fiebern mit, loben sich gegenseitig. Im Laufe der Stunde wird die Stimmung richtig ausgelassen.
Ein junger Lehrer im weißen T-Shirt und dunkler Hose lehnt in einem Klassenzimmer an der Tafel.
Sonderpädagoge Siebo Donker hat auch nicht immer Antworten auf die Fragen der Klasse 7.3.© Felicitas Boeselager
Besonders den zurückhaltenderen Schülern tut diese kleine Gruppe gut. Und so endet zumindest der dritte Schultag wesentlich besser, als er angefangen hat.
"Vielen Dank, das hat mir große Freude gemacht, da habe ich mich richtig drauf gefreut."
"Lias, du gehst als erster. Wir sehen uns wann wieder?"
"Freitag."
"Wie viel Uhr?"
"13:10Uhr"
"Wo?"
"Auf'm Schulhof."
"Nein, im Klassenraum."
"Oh, dann weiß ich, was wir heute falsch gemacht haben."

Gewusel auf dem Schulhof

Schon wieder kommen die Feiertage einer Routine in die Quere. Bis die ganze Klasse wieder in der Schule ist, vergehen diesmal zwei Wochen.
Die Quarantäne hatte ausgerechnet die unruhige, lautere Gruppe getroffen, die Stimmung hier ist ähnlich wie am ersten Tag. Schon in den vergangenen Stunden hatten viele Schüler Bücher und Hefte vergessen, ein Phänomen, das dem Sonderpädagogen Siebo Donker auch in anderen Klassen aufgefallen ist.
"In der fünften ist es so, dass die Hälfte der Schüler die Hausaufgaben nicht haben und ein Drittel dann auch kein Material, oder das falsche. Also ein Deutschbuch dabei haben, wenn wir eigentlich Mathe haben. Bis hin dazu, dass Schüler völlig ohne Stift und Federmappe in die Schule kommen. Das ist der fehlende Routine geschuldet, durch die Feiertage, oder die Tatsache, dass sie eben nur drei Tage in der Woche in der Schule sind."
In der Pause ist die Wiedersehensfreude der Klasse 7.3 riesig.
Das Gewusel auf dem Schulhof lässt vermuten das Coronavirus sei ausgerottet. Fast niemand hält sich an die Abstandsregeln, die Vorsicht der ersten Schultage scheint verflogen. Während oben im Klassenraum eine strenge Händewasch-Choreografie eingehalten wird und die Lehrer sich alle Mühe geben, die Regeln aufrecht zu halten, wird in der Pause fangen gespielt, umarmt, getuschelt und gerauft. Irim, Lias, Jule, Kimberly sind 13 und 14 und sehnen sich nach Normalität.
"Ja, also eigentlich halten wir auch Abstand wegen den Lehrern, weil wir sonst Ärger bekommen und darauf haben wir keine Lust" "Ja, ist echt so." "Ja, weil, wenn man draußen ist, dann siegt doch irgendwie der Wille wieder normal zu sein und nicht sich an dieses Abstandsdingsdabumsda zu halten, das ist echt nervig und aufregend. Also nicht positiv aufregend."

"Die sind total durch"

Emma Dahnken und eine andere Schülerin sehen nicht glücklich aus. Als sie sehen, wie ihre Freunde alle Regeln vergessen, gehen sie wieder rein und verbringen die Pause lieber drinnen. Als auch alle anderen aus der Pause zurückkommen, ist eine halbe Stunde vergangen. Ohne Gong und vor lauter Übermut haben sie ihre Pause um 20 Minuten verlängert und den Zeitplan ihres Klassenlehrers gesprengt.
Schon bald wird die Halbgruppe wieder unruhig. Kulis klicken, Stühle knarzen, es wird reingerufen. Frank Dopp hat in diesen Wochen öfter das Gefühl, als fange er immer wieder von vorne an.
"So die sind fertig, total durch. Da sieht man, dass die neuen Strukturen eine ganz neue Energie fordern. Die sind hier normaler Weise fünf Tage, sechs bis acht Stunden und jetzt ist es der erste Tag, vier Stunden und da sieht man ganz deutlich, dass sie sich wieder an diese Strukturen gewöhnen müssen."
Im Juni, vier Wochen nach Schulöffnung hat sich die Klasse 7.3 noch lange nicht an das neue Lernen gewöhnt. So fällt es den Lehrern auch schwer zu sagen, was die neue Zeit mit ihnen, ihrer Beziehung zu den Schülern, mit den Schülern untereinander gemacht hat - und noch machen wird.
"Ich hoffe, dass die nächsten Wochen uns noch, vielleicht nicht eine intensive inhaltliche Bearbeitung von Themen, aber zumindest zu einer gemeinsam vereinbarten Form des Lernens zu kommen."
Und dann kommen auch schon die großen Ferien.

Schulreform durch Corona?

Eine Sache aber finden alle richtig gut, Lehrer und Schüler: die Arbeit in den kleineren Gruppen. Vielleicht etwas, was man retten kann in die Zeit nach Corona?
"Schulreform durch Corona" - davon will das Team Dopp, Donker und Möllmann nichts hören, dafür sei alles zu unsicher, das E-Learning noch nicht institutionalisiert genug, die Gefahr, dass sich jetzt auch schlechte Gewohnheiten einschleifen, zu groß.
Eins allerdings hat sich trotz aller Mühe und kleiner Rückschläge seit dem ersten Schultag nicht geändert:
"Ich kann sagen, dass ich mich immer noch total freue, dass die Schüler wieder hier sind, dass ich mich immer noch total freue, dass ich jede Woche alle meine Klassen wieder sehe und jetzt viel mehr wieder die Möglichkeit haben einfach bei ihnen zu sein, mit ihnen im Kontakt zu und einfach wieder im Gespräch zu sein, das ist, was ich sehr schätze wieder, das ist gut."
Mehr zum Thema