"Schulden basieren immer auf einem Versprechen"

David Graeber im Gespräch mit Ulrike Timm · 22.05.2012
David Graeber gilt als einer der führenden Köpfe der Occupy-Bewegung. In seinem Buch "Schulden. Die ersten 5000 Jahre" blickt er zudem auf die Wurzeln der Schuldenkrise - und erklärt, warum die meisten Menschen irgendwann einmal in ihrem Leben Schuldner waren.
Ulrike Timm: Wer Schulden aufgenommen hat, der muss sie auch zurückzahlen. Dieser moralische Grundsatz wird weltweit verstanden. Seine Schuld nicht zu begleichen, das kann einen in den Ruin treiben. Der Anthropologe David Graeber, einer der führenden Köpfe der Occupy-Bewegung, hat eine Geschichte der Menschheit als Geschichte der Schulden geschrieben und untersucht, wie Menschen seit Jahrtausenden in Kreditsysteme verstrickt sind.

Er plädiert daher dafür, dass Schulden nicht immer zurückgezahlt werden sollten. David Graeber ist gerade in Deutschland, um sein Buch "Schulden: Die ersten 5000 Jahre" vorzustellen und um die Occupy-Bewegung zu unterstützen, die am Wochenende demonstrierte. Rund 20.000 Blockupyer waren in Frankfurt auf der Straße. Hallo, Mister Graeber!

David Graeber: Hallo!

Timm: Wer Schulden hat, der sollte sie zurückzahlen – das gilt in allen modernen Gesellschaften dieser Welt. Was um Himmels willen ist daran falsch?

Graeber: Ökonomisch betrachtet ist das nicht unbedingt wahr. Es liegt ja auch am Geldverleiher selbst, wohin er investiert. Wenn man einen Profit machen will, dann muss man auch ein Risiko eingehen. Es gäbe ja sonst keinen Anreiz, sinnvoll in ein Projekt zu investieren. So weit die ökonomische Theorie. Was aber hier passiert ist, dass es oft gar nicht um die ökonomische Theorie geht, sondern um Konzepte von Moral.

Timm: Können Sie uns dafür mal ein Beispiel geben?

Graeber: Eins der besten Beispiele ist wohl das, was 2008 passiert ist. Interessant wird es, wenn es ein Ungleichgewicht der Macht gibt, wenn eine große Firma, ein großer Investor einem Kleinen Geld leiht, wenn reiche armen Leuten Geld leihen. Das war das entscheidende Detail, was 2008 so wichtig war, dass wichtige Institutionen immer damit durchkommen, wenn sie Schulden gemacht haben und diese nicht bezahlen können. Dann gibt es Möglichkeiten zu verhandeln, sich da raus zu lavieren, und plötzlich sind Trillionen, Billionen von Schulden verschwunden.

Denn Schulden basieren immer auf einem Versprechen. Den Schluss, den wir daraus ziehen, heißt, dass es sich nicht um ein ökonomisches Phänomen handelt, sondern um ein moralisches und ein politisches Phänomen. Durch die Geschichte hindurch hat sich immer gezeigt, dass diese Beziehungen, die auf Ungleichheit basieren, auf Gewalt, sich sozusagen hinter der Sprache von Schulden verstecken, dass diese Sprache das effektivste Mittel ist, die eigentlichen Sachverhalte zu verschleiern und die Kreditgeber als moralisch darzustellen und die Opfer als die eigentlichen Schuldigen.

Timm: Ihr Buch geht durch 5000 Jahre - beschäftigen wir uns noch mal mit der ganz grundlegenden Beziehung von Gläubiger und Schuldner: Im Grunde, Mister Graeber, sind das beides optimistische Menschen. Der eine streckt das Geld für eine Investition vor, sagen wir für eine kleine Firma, in der Hoffnung darauf, dass der andere damit Gewinn macht und zurückzahlen kann. Und der Schuldner, der gewinnt einfach die Freiheit, gleich loszulegen.

Warum ist das unmoralisch? Das ist während der letzten Finanzkrise, wie Sie sagen, natürlich völlig aus dem Ruder gelaufen durch synthetische Bankenprodukte, die keiner mehr kapierte, aber ist das Jahrtausende alte Prinzip deshalb gleich schlecht, die haben doch beide was davon?

Graeber: Wenn man in der Geschichte zurückblickt, sieht man, dass erstens die meisten Menschen irgendwann einmal in ihrem Leben Schuldner waren, und diese Standardgeschichte, die man immer verbreitet, dass die Welt ja voller Unternehmer sei, die sich Geld leihen, um profitabel Unternehmen voranzubringen, ist natürlich falsch. Die meisten Schulden, die aufgenommen werden, mussten zu einem gegebenen Zeitpunkt aufgenommen werden, weil es um existenzielle Bedürfnisse ging.

Wenn ein Bauer zum Beispiel eine schlechte Ernte hatte und nicht mehr in der Lage war, sich neues Saatgut zu kaufen, dann war er gezwungen, sich vom nächsten Reichen oder Geldhabenden in der Nähe Geld zu leihen. Das zeigt vor allem Machtbeziehungen, dass ein Machtgefälle besteht, das auch schlecht wieder umkehrbar ist, dass die Machtlosen sich so immer stärker in Abhängigkeiten bewegen – von Geldverleihern, Grundbesitzern und so weiter. Sie geraten sozusagen in die Schuldenfalle, und aus dieser Schuldenfalle kommt man eben nicht so leicht wieder heraus, im Gegenteil, sie wird immer schlimmer.

Timm: Mister Graeber, Sie bezeichnen sich als einen Anarchisten, als jemand, der meint, mit Marx, dass man die Welt nicht nur erklären, sondern verändern muss, und die Gesellschaften, die sich selbst als auf dem Weg zum Kommunismus begriffen, die sind ja bislang ziemlich krachend gescheitert, oder sie haben ihre wirtschaftliche Praxis an kapitalistische Vorstellungen doch angepasst, wie in China oder in Kuba. Die Versuche beim Umsetzen von Ihren Ideen sind also allesamt nicht so richtig ermutigend. Von welcher Ordnung träumen Sie?

Graeber: Wenn man sich anguckt, warum die Anarchie so viele Leute anzieht, dann liegt das daran, dass die Einsicht besteht, dass eine Freiheit mit vorgehaltener Waffe nicht möglich ist. Dass die Demokratie von unten kommen muss. Dass Institutionen von unten aufgebaut werden.

Timm: Das habe ich verstanden. Wie wird man also wirtschaften in anarchisch glücklichen Zeiten?

Graeber: Das müssen wir im Einzelnen über den demokratischen Prozess rausbekommen. Ich möchte hier kein Diagramm aufzeigen, welcher Aspekt genau wie funktionieren wird. Es geht darum, dass man Möglichkeiten schafft, dass jeder selber herausfinden kann, wie das funktioniert, dass jeder die Möglichkeiten bekommt, dass man institutionelle Strukturen schafft. Aber ich kann nicht vorhersagen, was dabei herauskommen wird.

Timm: Ein Fazit Ihres Buches von den Schulden ist ja – oder eine Vorstellung, wie es sein sollte –, dass jeder nach seinen Möglichkeiten wirtschaftet, nach seinen Bedürfnissen und in einem gewissen Grundvertrauen auf den anderen. Sie selbst haben solche Vorstellungen zwei Jahre lang in einer sehr kleinen Gemeinschaft auf Madagaskar auch mal ausprobiert, auch in Ihrem Buch fällt immer wieder auf, das sind kleine Gesellschaften, wo so etwas klappt, wo die Wirtschaft auf, ja, Ochsenkarrenweglänge funktioniert. Ist das wirklich übertragbar aufs globale System oder ist das nicht schlicht ein Traum?

Graeber: Ich denke, das ist hier eine falsche Voraussetzung, von der Sie ausgehen. Also Madagaskar ist 1000 Meilen lang, und da wohnen viele Millionen Menschen. Teilweise haben die natürlich auch noch unter einer Staatskontrolle gelebt, aber es gab große Teile des Landes, die selbstkontrolliert waren, wo sozusagen improvisiert wurde im täglichen Alltag.

Und die Menschen dort hatten einfach eine Tradition der Konsensfindung: vernünftig vorzugehen und Probleme anzugehen. Und ich denke, dass hier nicht die Größe entscheidend ist, es ist mehr die Voraussetzung entscheidend, dass es nicht gewalttätig umgesetzt wird. Es geht nicht gegen Organisationen, eigentlich lieben Anarchisten Organisationen, wenn sie denn gut funktionieren, aber wir sind gegen die Durchsetzung einer Zwangsbürokratie, dass nicht die Mehrheitsinteressen gegen den erbitterten Widerstand einer Minderheit durchgesetzt werden, sondern dass man sich solange Mühe gibt, einen Konsens zu finden, bis dieser erreicht ist.

Und das erschwert sich vielleicht auf größere Distanzen, aber es kann doch auch möglich sein, sogar in Ländern wie Lateinamerika war es das zu Zeiten, als es noch keine computertechnische Versorgung gab. Und jetzt, mit den neuen Technologien, denke ich, dass die Koordinierung noch einfacher werden kann, von Problemen, wie man die angeht, und dass die Lösungen dann auch mit allen möglichen verschiedenen Techniken möglich sein werden.

Timm: Deutschlandradio Kultur, das "Radiofeuilleton", wir sprechen mit David Graeber über seine Kritik an der Wirtschaft und seine Hoffnung auf die Occupy-Bewegung, als deren Vordenker er gilt. Der Spruch "Wir sind 99 Prozent", der stammt von ihm, und auch am Wochenende in Frankfurt war er dabei, da haben 20.000 Menschen im Frankfurter Bankenviertel demonstriert. Wie haben Sie das erlebt?

Graeber: Also, Frankfurt erinnerte mich vor allem an die Proteste zur Weltbank- und IWF-Tagung von 2002. Das war nach Nine-Eleven, nach dem 11. September, und man hatte das Gefühl, dass man nicht viel tun kann, aber trotzdem trafen sich 5- bis 6000 Anarchisten, die sich aber dann einem Großaufgebot von 30- bis 40.000 Polizisten gegenüber fanden. Und da konnte man natürlich nicht viel machen, und wir sind sehr deprimiert wieder nach Hause gegangen. Aber aufgrund dieses großen Aufgebots konnte auch der IWF nicht wirklich tagen.

Ähnlich erschien mir das jetzt auch in Frankfurt. Die Regierung hat sich sozusagen durch dieses massive Polizeiaufgebot mit diesen massiven Kontrollen selbst dicht gemacht – Schulen wurden geschlossen, Hochzeiten wurden abgesagt –, und das zeigt uns aber auch, welche Angst die Politik vor der Mobilisierung des Volkes hat.

Timm: Es gibt ein paar Schlagzeilen bei Occupy, die immer wiederkommen: Weg die Macht der Banken, vernünftigen Job für jeden. Das hat – bei aller Fundamentalität – es hat was fast Kindliches. Werden die Occupy-Aktivisten noch groß, oder ist genau diese kindliche Direktheit ihre eigentliche Qualität?

Graeber: Das ist interessant, dass man gleich denkt, dass jemand, der elementare Gerechtigkeit fordert, kindlich sei. Wenn man darunter versteht, erwachsen zu sein, dass man alles außer der politischen Situation, wie sie ist, für unmöglich hält, dann stimmt da doch etwas nicht. Es hat immer Veränderungen gegeben – mal in Richtung mehr Gerechtigkeit, mal in die andere Richtung.

Für mich ist das mehr eine Herausforderung, zu erkennen, was heißt es, politisch erwachsen zu werden. Wenn das kindisch ist, was Sie sagen, dann haben kindische Menschen die ganzen großen Errungenschaften in der Weltgeschichte erreicht.

Timm: Dank an David Graeber, das Gespräch mit dem Vordenker der Occupy-Bewegung, das haben wir aufgezeichnet. Sein Buch "Schulden. Die ersten 5000 Jahre" ist bei Klett-Cotta erschienen, und es ist tauschbar gegen den Geldbetrag von 26,95 Euro. Übersetzt hat das Gespräch Mara Amir, auch an sie herzlichen Dank!


Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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