Schuld

Die Gewissheit des menschlichen (Un-)Gewissens

Demonstranten in London fordern ein Ende der Kämpfe in Aleppo und einen Fluchtkorridor für Zivilisten.
Demonstranten in London fordern ein Ende der Kämpfe in Aleppo und einen Fluchtkorridor für Zivilisten. © AFP / DANIEL SORABJI
Von Ofer Waldmann · 15.12.2016
In Zeiten sozialer Netzwerke und Bildern in Echtzeit, die uns aus dem Weltgeschehen erreichen, müssen wir uns die Frage der Moral und Aufrichtigkeit neu stellen. Wegsehen gilt nicht mehr – denn Wegsehen existiert nicht mehr.
Die Bilder aus dem syrischen Aleppo versuchen, in unser Bewusstsein einzudringen. Fast täglich erreichen uns visuelle Schreckensmeldungen von verstaubten Kinderleichen, von schutzlosen Menschen, einem mörderischen Militärapparat ausgeliefert. Hilflos.
Angesichts solcher Bilder drängen sich zwei Fragen auf. Die erste lautet: In was für einem Zeitalter leben wir? Sind die heutigen politischen Koordinaten so korrumpiert, dass diese Schrecken möglich werden?
Die zweite Frage lautet: Wozu sind Menschen fähig? Lauert das Böse in Menschen überall und jederzeit, auf eine Gelegenheit wartend, anderen Menschen schreckliches Leid zuzufügen?
Beide Fragen sind, vor allem in Deutschland, mit dem historischen Kapitel des Holocaust, des Völkermords an den Juden Europas assoziiert. Als solche werden sie vom Historiker Dan Diner präzisiert: Die erste nennt er historisch, als die Frage nach den spezifischen historischen Umständen des Holocaust. Die andere bezeichnet er allgemeingültig, universell, als die Frage nach den Möglichkeiten des Menschlichen. Kurz gefragt: Ist der Holocaust in erster Linie als Verbrechen von Deutschen an Juden, oder eher von Menschen an Menschen zu deuten?

Von nichts gewußt

Dabei scheint zumindest eins zu gelten: Die systematische Ermordung von Millionen Menschen war möglich, da die meisten Zeitgenossen davon nichts wussten. Aus dem Inferno von Auschwitz und Treblinka drangen keine Bilder in Echtzeit heraus. Und so lautet die einhellige Entschuldigung aller Menschen jener Zeit: Wir haben es nicht gewusst.
In dieser Antwort versucht sich ein Wunschdenken über die Moralität des Menschen aus jenem dunkelsten Kapitel der Menschheit zu retten: Hätten die Menschen es gewusst, wäre das Todeslager Auschwitz allgemein bekannt, wäre es nicht möglich gewesen. An diesem Wunschdenken prallen alle historischen Belege ab, dass die Menschen davon doch Kenntnis hatten.
Diese vermeintliche Gewissheit des menschlichen Gewissens versucht sich seit Jahrzehnten aufrecht zu erhalten. Auch andere, menschengemachte Schrecken - ob der Völkermord in Ruanda oder die Gewaltherrschaft des Khmer-Rouges in Kambodscha - wurden von der Weltgemeinschaft entschuldigend kommentiert – wir haben es (eben) nicht rechtzeitig gewusst.

Weltgeschehen und Bilder in Echtzeit

Als das Zeitalter der sozialen Netzwerke und der digitalen Medien anbrach, schien diese Gewissheit des menschlichen Gewissens bestätigt zu werden. Von den Plätzen Kiews, Istanbuls, Kairos, drangen Bilder und Meldungen auf jedes Mobiltelefon, auf jeden Bildschirm. Staatliche, willkürliche Gewalt fand sich plötzlich durch das Scheinwerferlicht der Weltöffentlichkeit entlarvt.
Doch dann kam Aleppo.
Die Zahlen des syrischen Krieges sind in Echtzeit bekannt: Circa eine halbe Million Tote seit Kriegsausbruch. Auch die Bilder der verstaubten Kinderleichen aus Aleppo, die grau-rote Farbe des durch Asche verdichteten Blutes, sind jedem zugänglich.
Auf beide Fragen, die uns aus der Zeit des Holocaust begleiten, bietet Aleppo eine Antwort an: Sowohl zu dem, wozu Menschen in der Lage sind, als auch zum sich nun allmählich verdüsternden weltpolitischen Umstand, der solche Taten ermöglicht.
Vor allem aber zerschmettert Aleppo die Gewissheit des menschlichen Gewissens. Aleppo entkräftet rückwirkend jene Entschuldigungsfloskel aus der Zeit des Holocaust, jene Ausrede, "Wir haben es nicht gewusst." Denn wir wissen es.
Und nun?

Ofer Waldman, in Jerusalem geboren, war Mitglied des arabisch-israelischen West-Eastern-Divan Orchesters. In Deutschland erwarb er ein Diplom als Orchestermusiker und spielte unter anderem beim Rundfunk-Sinfonie-Orchester Berlin sowie den Nürnberger Philharmonikern. Anschließend war er an der Israelischen Oper engagiert und absolvierte daneben ein Masterstudium in Deutschlandstudien an der Hebräischen Universität Jerusalem. Derzeit promoviert er an der Hebräischen Universität Jerusalem wie auch an der Freien Universität Berlin und beschäftigt sich in Vorträgen und Texten mit den deutsch-jüdischen, deutsch-israelischen und israelisch-arabischen Beziehungen.

Der Publizist und Musiker Ofer Waldmann
© Kai von Kotze
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