Schriftstellerin Marinic hofft auf bessere Integrationspolitik

Jagada Marinic im Gespräch mit Christine Watty · 22.10.2013
Heute konstitutiert sich der neue Bundestag. Unter den Abgeordneten sind mehr Menschen mit Migrationshintergrund als jemals zuvor. Diese Parlamentarier sollten ihre Einwanderungserfahrungen in ihre politische Arbeit einbringen, sagt Jagoda Marinic, Schriftstellerin mit kroatischen Wurzeln, - und verrät, was für sie "Deutschsein" bedeutet.
Christine Watty: Heute tritt der Deutsche Bundestag zu seiner ersten konstituierenden Sitzung zusammen, begleitet von der Meldung einer Rekordzahl. Noch niemals zuvor zogen in den Bundestag so viele Menschen mit Migrationsgeschichte mit ein. Und wer nun erwartet, dass hier eine unglaubliche Zahl folgen solle, der wird enttäuscht: Es sind 37. Na gut, zuvor waren es auch nur 21. Zwei afro-deutsche Politiker kommen neu dazu, elf Politiker haben nun eine deutsch-türkische Familiengeschichte.

Ein kleiner Prozentsatz nur, denn der Bundestag umfasst 631 Mitglieder, aber dennoch – ein wichtiger Schritt in eine Gesellschaft, in der das Deutschsein sich stetig neu und offener definieren lässt? Haben wir die Schriftstellerin Jagoda Marinic gefragt, in Waiblingen als Kind kroatischer Eltern geboren. Zunächst 37 Mitglieder im Deutschen Bundestag mit Migrationserfahrung – ist das jetzt eine gute oder eine schlechte Nachricht? Denn gut könnte sie sein, weil es immerhin noch nie so viele im Bundestag gab, schlecht, weil in einer Extra-Meldung darauf hingewiesen werden muss, wir also weit davon entfernt sind, das als selbstverständlich zu empfinden. Wie ist das für Sie?

Jagoda Marinic: Ich hab‘ mich im Vorfeld natürlich schlau gemacht, wie die sich selbst definieren, wie man sie sieht. Auffällig war, dass im Vorfeld vor allem von den afrikanisch-stämmigen gesprochen wird und von den türkisch-stämmigen. Also man nimmt einerseits die exotischste und andererseits die größte Community und hebt die ganz hervor.

Das heißt, das finde ich jetzt schon schwierig, denn die Botschaft sollte ja trotzdem sein, wir haben ein vielfältiges Deutschland, und wir sollten sie nicht aufdröseln, welche genaue Wurzeln, sondern wir haben Menschen, die da andere Erfahrungen mit reinbringen, andere Schwerpunkte vielleicht. Gleichzeitig sagen ja sehr viele dieser Abgeordneten, dass sie nicht festgelegt werden möchten auf das Thema Integration.

Und auch da ist für mich so eine Frage, wie viel Chance kann ich darin sehen auch für das Thema Integration, wenn selbst jene, die die Erfahrung in sich tragen, gar nicht so darauf festgelegt werden möchten. Festlegen heißt ja nicht, dass man nicht auch andere Dinge tun darf. Das wären so die Hauptfragen, die sich mir stellen bei der Sache.

Watty: Verstehe ich das richtig? Sie kritisieren das, dass diese Abgeordneten nicht darauf festgelegt werden wollen?

Marinic: Ja, ich kritisiere das. Und zwar frage ich mich: Es ist so ein bisschen, wenn ich Politiker mir aussuche, da spielt ja der Werdegang immer eine Rolle, das heißt, ein Mensch aus einer Arbeiterfamilie hat unter Umständen, natürlich kann das immer anders sein, ein anderes Verhältnis zur Umverteilung als ein Mensch aus einer Unternehmerfamilie. In dem Moment, in dem ich Integration als politisches Thema habe, und das haben wir in Deutschland, ich Abgeordnete habe, die da Erfahrungen mitbringen und diese gleichzeitig nicht in ihren Arbeitskontext einbringen möchten, sehe ich da eine Gefahr.

"Viele davon sind in Deutschland geboren"
Watty: Ich finde das interessant, denn ich habe mich vorher gefragt, ob das nicht wahnsinnig rückschrittlich gedacht ist, jetzt wieder zu sagen, die Menschen mit den Migrationserfahrungen sollen dann doch bitte auch für diese Themen in der Politik stehen. Denn man könnte ja genauso sagen, viele davon sind in Deutschland geboren, die stehen eben für Frauenthemen oder Wirtschaftsthemen und haben eben genau darauf keine Lust?

Marinic: Sie müssen ja nicht die Expertise darauf beschränken. Aber sie haben eine Expertise, die auch auf eigener Erfahrung gründet, und die ist vielleicht im Bundestag gar nicht unangebracht. Also, dass wir nicht nur die Zahlen und Statistiken auswerten bei den Integrationsdebatten, sondern Menschen haben, die wissen, welche Probleme das für die Menschen, die sie ja schließlich vertreten, mit sich bringt.

Watty: Der Vorsitzende der türkischen Gemeinde, Kenan Kolat, der wünscht sich in diesem Zusammenhang auch gleich ein eigenes Ministerium für Integration und Teilhabe. Würden Sie so weit gehen, das auch zu unterstützen?

Marinic: Ich wünsche mir erst einmal mehr Geld für die ganzen Themen, ob das dann gleich in ein Ministerium fließen muss und in behördliche und bürokratische Prozesse, weiß ich nicht, ob das der richtige Weg sein müsste. Ich hab‘ auf der Fahrt hierher mit einem Taxifahrer gesprochen und hab ihn gefragt, ob das für ihn eigentlich etwas bedeutet. Er hatte diese Meldung noch gar nicht gehört, und er hat gesagt, dass er nicht weiß, ob er wirklich Hoffnung darauf setzen kann.

Ich denke, je mehr wir darüber sprechen, dass jetzt Menschen in den Bundestag kommen, die auch eine Vielfalt repräsentieren könnten, wecken wir auch in Bürgern mit Migrationshintergrund oder mit Einwanderungsgeschichte die Hoffnung, dass sich vielleicht etwas ändern könnte. Und auch da bitte ich sozusagen die Menschen, die jetzt sagen, wir haben Expertise in Wirtschaft und anderen Bereichen, dass sie nicht vergessen, dass sie auch Hoffnungsträger sind.

Watty: Könnte man aber trotzdem sagen, dass sich jetzt zumindest schon etwas geändert hat in der deutschen Gesellschaft? Denn immerhin bedeutet die Anwesenheit der Bundestagsabgeordneten mit nichtdeutschen Wurzeln auch, dass sie gewählt wurden und damit auch, dass diese seltsame Abgrenzung vielleicht geringer geworden ist und wir da so ein bisschen weiter gekommen sind?

"Weiterkommen, weil sich Dinge entwickeln"
Marinic: Ja, ich habe immer dieses Bedürfnis, muss ich irgendwie die Mehrheitsgesellschaft loben, dass sie weitergekommen sind. Ich weiß gar nicht, warum sie das so unbedingt brauchen.

Ich glaube, dass wir natürlich weiterkommen, weil sich Dinge entwickeln. Mir geht es um das Tempo. Ich glaube, wir könnten da weiterkommen und auf eine bessere Art, auf eine selbstverständliche Art, die weniger Menschen das Gefühl gibt, fremd zu sein in diesem Land.

Watty: Die Schriftstellerin Jagoda Marinic im Radiofeuilleton im Deutschlandradio Kultur. In Ihrem aktuellen Roman "Restaurant Dalmatia" gibt es eine Stelle, in der Sie über den Begriff der "Neuen Deutschen" sinnieren mit Bezug auf Australien, wo Einwanderer die New Australians genannt werden.

Spiegeln solche Begriffe - wir wechseln da ja auch immer stetig ab zwischen Migrationshintergrund, nicht deutsche Wurzeln, nicht deutsche Herkunft et cetera – bei uns auch wider, wie wenig die deutsche Gesellschaft fähig ist, wahrhaft integrativ zu sein und die Menschen eben nicht auch neue Deutsche zu nennen, zum Beispiel?

Marinic: Ja, also tut es, und gleichzeitig stehe ich vor dem Dilemma, dass ich Missstände benennen will, und wie will ich sie benennen, wenn ich nicht Begriffe schaffe. Also ich glaube, in diesem Prozess zur Selbstverständlichkeit hin, der sich ja tatsächlich allein dadurch einstellen wird, dass wir Einwanderung brauchen, um als Land zu funktionieren, wird sich da einiges tun.

Und in diesem Prozess werden wir Begriffe brauchen, die auch manchmal missglückt sind, die auch manchmal nach hinten los gehen, aber der Begriff "Neue Deutsche" natürlich zeigt den Leuten, hier sind Menschen, die fühlen ein Deutschsein, und sie fühlen es anders, und sie möchten, dass das auch übergeht in ein Nationalgefühl, so hart das klingt oder so ungewohnt das klingt, ja.

Das Pult des Plenarsaals im Bundestag
Der neue Bundestag konstituiert sich - hier das Redner-Pult.© dpa / Rainer Jensen
"Es gibt den Wunsch, dazuzugehören"
Watty: Und umgekehrt? Wir gucken jetzt immer auf die deutsche Seite. Würde man überhaupt ein neuer Deutscher sein wollen, wenn man aus einem anderen Land nach Deutschland kommt?

Marinic: Genau, das habe ich im Vorfeld viele Menschen gefragt, und es gibt den Wunsch, dazuzugehören. Die meisten antworten, sie wollen nicht unbedingt gleich Deutscher sein, aber sie möchten nicht so fremd sein. Das heißt, wir brauchen eine Sprache und eine Kultur, die den Menschen das Gefühl, fremd zu sein, wenn sie länger hier bleiben möchten, wenn sie Teil dieser Gesellschaft bleiben möchten, zumindest positiv konnotiert.

Es gibt ja Kulturen, da ist der Fremde etwas Schönes, etwas, wir würden gleich sagen, Exotisches. Aber ich glaube, wir müssen den Leuten Identifikationsangebote machen.

Watty: Wenn wir noch mal auf die Politiker, die jetzt in den Bundestag einziehen, schauen, mit Einwanderungsgeschichte selbst erlebt oder eben in der Familie, was wären die wichtigsten Punkte, die diese Politiker dann ansprechen müssten aus Ihrer Richtung, dass genau diese Gefühle des Dazugehörens et cetera besser werden kann? Das ist ja Teil eines theoretischen Diskurses, aber was müsste passieren auch von politischer Seite?

Marinic: Also, im Vorfeld gab es die Darstellung von Karamba Diaby, da hieß es, ein Promovierter, der Schrebergärten liebt. Und ich weiß nicht, ob mich das so weiterbringen würde. Natürlich erwarte ich schon von Menschen, die Erfahrungen haben könnten in Einwanderungsgeschichte, dass sie Themen setzen.

Und mir geht es darum, dass sie zur Sprache bringen, welche Rolle spielt die Einwanderungsgeschichte in diesem Land, denn das bedeutet für Millionen Menschen Identifikation. In dem Moment, in dem ich die Geschichten erzähle, mit denen Menschen hier eingewandert sind, was das für sie bedeutet hat und was es für dieses Land bedeutet hat, biete ich sowohl denen, die gekommen sind, als auch denen, die die Menschen empfangen haben, Möglichkeiten, eine gemeinsame Geschichte zu entwickeln.

"Deutschsein sollte vor allem der gesellschaftliche Leim sein"
Watty: Das könnte aber auch ja nicht nur die Bundestagsabgeordneten betreffen, sondern dann tatsächlich auch Ihren Berufsstand, also die Literaten, die Schriftsteller, die genau diese Geschichte erzählen sollten. Das ist ja in diesem Fall noch nicht gleich eine politische Forderung.

Marinic: Doch, es ist eine politische Forderung, weil wir uns so - wir brauchen eine Möglichkeit. Wir sprechen immer von Teilhabe, Partizipation. Die große Frage ist ja, woran wollen wir eigentlich teilhaben, woran soll hier jemand partizipieren. Und Teilhabe – ist das nicht schon wieder so gönnerhaft, so du darfst jetzt hier mal teilhaben? Mir geht es so, was ist eigentlich der Leim, der uns als Gesellschaft zusammenhält, und da bietet Literatur, Kultur, auch Kulturprojekte jeder Art eine große Möglichkeit für eine Gesellschaft.

Und für mich als Schriftstellerin, das habe ich mit dem Buch "Restaurant Dalmatia" ja auch versucht, diese Lücke zu schließen, zu sagen, hier sind die letzten vier, fünf Dekaden Familien eingewandert. Die haben Geschichten mit diesem Land, mit ihrer Familie, mit den Menschen, die sie lieben, mit den Menschen, die sie vielleicht nicht lieben. Aber diese Geschichten sind unsichtbar geblieben, und ich brauche sie, um dieses Land zu verstehen.

Watty: Dann würde ich gerne noch mal abschließend wissen: Was sollte denn Deutschsein Ihrer Meinung nach heute ausmachen beziehungsweise beinhalten?

Marinic: Deutschsein sollte beinhalten die Möglichkeit zum Wachstum, zur Ausdifferenzierung, zur Veränderung. Dass man nicht überrascht ist, wenn Menschen kommen, die anders aussehen, als wir sie klischeehaft bedacht haben. Deutschsein sollte vor allem der gesellschaftliche Leim sein, von dem ich eben sprach. Also deutsch muss das sein, über das wir uns verbinden können. Und das kann durchaus unterschiedlich sein.

Watty: Dankeschön an die Schriftstellerin Jagoda Marinic. Ihr neues Buch "Restaurant Dalmatia", das stellt sie übrigens am Mittwochabend, also morgen, in der Georg-Büchner-Buchhandlung in Berlin im Prenzlauer Berg vor.


Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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