Schriftstellerin Geipel über 30 Jahre nach dem Mauerfall

"Wir haben ganz schön viel Zeit verwartet"

14:20 Minuten
Menschenmenge bei einer Kundgebung auf dem Alexanderplatz
Die Demonstration am 4. November 1989 in Ost-Berlin war die größte nichtstaatliche Demonstration in der DDR. © picture alliance / akg
Moderation: Anke Schaefer · 04.11.2019
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Am 4. November wurde die Angst besiegt - Hunderttausende gingen in Ostberlin auf die Straße. Doch 30 Jahre nach dem Mauerfall werde oft nur das Negative gesehen. Das liege auch daran, dass nicht richtig aufgearbeitet wurde, meint die Autorin Ines Geipel.
Am 4. November 1989 demonstrierten Hunderttausende Menschen auf dem Ostberliner Alexanderplatz. Es war die größte nichtstaatliche Kundgebung in der DDR. Damals redeten Künstlerinnen, Politiker und Offizielle. Ines Geipel war selbst nicht vor Ort, weil sie bereits im August 1989 nach Westdeutschland geflüchtet war.
Doch die ehemalige Leistungssportlerin verfolgte von ihrem neuen Wohnsitz in Darmstadt aufmerksam, was in ihrer früheren Heimat geschah. Deswegen könne sie feststellen, dass der 4. November ein "hoch emotionaler und wichtiger Tag für Berlin" sei. Später setzte sie sich auch publizistisch mit den Ereignissen im Wendejahr 1989 auseinander.

Ambivalenter Tag

Der 4. November habe für sie eine hochgradige Ambivalenz – nicht nur als Tag, sondern auch von den Menschen, die auf der Kundgebung sprachen. Doch wundert sie sich nun, dass der Tag zu einer Niederlage umgeschrieben werden solle.
So werde "das Entlassungserzählen – die Gedemütigten, die Abgehängten, die Bürger zweiter Klasse – das, was jetzt in Gesprächen eine Rolle spielt", vorgebracht. Für sie steht aber fest, dass der 4. November auch ein Tag gewesen sei, an dem viele ihre Angst ablegten. So hätten Teilnehmerinnen und Teilnehmer mit Sprachwitz auf die Verhältnisse reagiert.
Ines Geipel, ehemalige Vorsitzende des Doping-Opfer-Hilfe-Vereins
Ines Geipel, ehemalige Vorsitzende des Doping-Opfer-Hilfe-Vereins© Deutschlandradio / Amac Garbe
Es sei kein Zufall gewesen, dass es die Theaterleute waren, die die Kundgebung angeregt hätten, sagt Geipel. "Gleichzeitig hatte man riesige Angst, dass diese Menge auf die Mauer zuläuft. Das wollte man um jeden Preis verhindern", ist die ehemalige Sportlerin überzeugt. Deswegen seien viele Stasi-Mitarbeiter an diesen Tag nach Berlin geschickt worden.

Seltsame Leute an der Bühne

Man müsse sich überlegen, wer dort auf dem Alexanderplatz gestanden hätte, so Geipel. Freunde, die dort gewesen seien, hätten ihr berichtet, dass es "ganz seltsame Leute" gewesen seien. Vor allem die, die mit ihren merkwürdigen Mänteln vorne um die Bühne herumstanden. "Da war immer klar, hier wird sehr genau gezirkelt", sagt Geipel.
Für sie sei der 4. November ein "Schleusentag", unterstreicht Geipel. Viele Menschen hätten sich damals zum ersten Mal als Akteure begriffen und als solche selbst auch wahrgenommen. Deswegen sei an diesem Tag all das enthalten, was nun wieder aufploppen, sagt Geipel. Denn: "Wir nähern uns immer noch sehr zage: Der Westen hat so einen Erfahrungsneid – er war irgendwie nicht beteiligt; und die Ostdeutschen haben immer noch Mühe zu sagen, okay, das ist unser politisches Rückgrat, in dem Moment sind wir frei geworden, denn sie erzählen sich jetzt immer zu ihre Unfreiheit oder Abhängigkeit vom Westen."

Größerer Blick für mehr Aufarbeitung

Interessant zu fragen sei, warum die Negativerzählung dominiere. Dem müsse ein größerer Blick entgegengesetzt werden. Auch die kleine Frau in Bayern, die Päckchen in den Osten geschickt habe, gehöre zu der "Revolution", sagt Geipel. Doch sei man in Deutschland gerade überfordert. In diesem Moment käme es zur Spaltung zwischen Ost und West.
In den vergangenen 30 Jahren sei man mit einer tiefgründigen Aufarbeitung des Osten nicht weit gekommen. "Wir haben ganz schön viel Zeit verwartet", so Geipel. Das spiele eine große Rolle, denn die ostdeutsche Gesellschaft habe eine "massive Trauerstörung". Doch werde über die "Erfahrungswucht" des Ostens zu wenig gesprochen.
(rzr)

Ines Geipel, geboren 1960 in Dresden, betrieb sechs Jahre lang Hochleistungssport in der DDR. Nach einem Germanistik-Studium in Jena floh sie 1989 nach Westdeutschland und studierte Philosophie und Soziologie in Darmstadt. 2000 war sie Nebenklägerin im Prozess gegen die Drahtzieher des DDR-Zwangsdopings. Heute ist sie Professorin für Verssprache an der Berliner Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch, Mitarbeiterin des Hannah-Arendt-Instituts und Buchautorin. Zuletzt erschien von ihr das Buch "Umkämpfte Zone, Mein Bruder, der Osten und der Hass."

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