Schriftsteller Nicolas Mathieu

Über Zorn und Melancholie im Arbeitermilieu

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Am Fenster zeigt Nicolas Mathieu stolz sein Buch, mit dem er literarische Ehren erlangt hat.
Nicolas Mathieu gewann den Prix Goncourt 2018. Nun liegt sein Roman auf Deutsch vor: "Wie später ihre Kinder". © dpa/ MAXPPP/ Patrice Saucourt
Von Ludger Fittkau · 11.09.2019
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Zeitgleich mit dem Start der Gelbwesten-Bewegung bekam Nicolas Mathieu den begehrten Prix Goncourt. Er beschreibt in einem Roman, wie ehemalige Arbeitermilieus politisch nach rechts driften. Derzeit ist Mathieu auf Deutschland-Lesereise.
Nicolas Mathieu: "En revanche, cette autre fille sortait nulle part. En plus, elle s'était assise juste à côté de lui..."
Der französische Schriftsteller Nicolas Mathieu liest im Literaturhaus Frankfurt am Main aus dem Anfangskapitel seines gerade ins Deutsche übersetzten Romans: "Wie später ihre Kinder".
Zwei 14-jährige Jungen klauen 1992 an einem See in Lothringen ein Boot, um an einen versteckten Nacktbadestrand zu gelangen. Dort treffen sie tatsächlich zwei gleichaltrige Mädchen. Was aus den ersten erotischen Sehnsüchten der Jugendlichen wird, erzählt der Roman bis 1998. Den See nutzt Mathieu dramaturgisch auch für eine Verdichtung der gesellschaftlichen Konflikte, die sich im altindustriellen Tal abspielen: Rassismus, Gewalt und Drogenhandel. Aber eben auch die zarten sexuellen Suchbewegungen oder ein Volksfest zum französischen Nationalfeiertag.
Dass sich der Streit um ein Motorrad wie ein roter Faden durch den Roman zieht, gehört zur Geografie der Ansammlung von Industriedörfern, die in Lothringen, aber etwa auch im Ruhrgebiet, seit dem 19. Jahrhundert den Raum bestimmt haben. Dazu Mathieu: "Ich komme ja selbst aus so einer Region. Und es war immer so, dass man nie eine Möglichkeit hatte, Strecken zu überwinden, wenn man nicht im Besitz von motorisierten Fahrzeugen war. Der erste Schritt in Richtung Selbstbestimmung war eben ein solches Fahrzeug."

Parallelen zu "Rückkehr nach Reims"

Die Zechen und Eisenhütten des alten Montangebietes sind jedoch in den 1990er Jahren längst geschlossen, der See, an dem die Geschichten der jungen Leute immer wieder zusammenlaufen, soll von perspektivsuchenden Lokalpolitikern zur Touristenattraktion ausgebaut werden. Zum normalen Streben von Jugendlichen, den Zwängen ihrer Kindheit zu entkommen, gesellt sich auch eine generationenübergreifende soziale Hoffnungslosigkeit.
Lena Bopp, Feuilleton-Redakteurin der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, erinnert im Gespräch mit Mathieu daran, dass dessen Roman fast zeitgleich mit dem Beginn der französischen Gelbwestenbewegung mit dem angesehenen Literaturpreis Prix Goncourt 2018 ausgezeichnet wurde: "Das Buch ist also ein Bildungsroman, aber es ist auch ein Gesellschaftsporträt - es ist beides. Und es ist in Frankreich auch, nicht zu Unrecht, wie ich meine, als Buch zur Bewegung der Gelbwesen gelesen worden, der Bewegung, die das Land ja in den vergangenen Jahren sehr in Atem gehalten hat", sagte Bopp.
Mathieus Roman erinnert inhaltlich tatsächlich an den auch hierzulande vielbeachteten Essay "Rückkehr nach Reims" des französischen Autors Didier Eribon. In beiden Texten wird aufgezeigt, wie sich ehemalige kommunistische Arbeitermilieus in der französischen Provinz mehr und mehr Richtung Front National verschieben.
Selbst Präsident Emmanuel Macron sei auf Mathieus Roman aufmerksam gemacht worden, als die Gelbwesten-Bewegung begann, sagte Bopp beim Auftakt von Mathieus Lesereise. "Es gab Mitglieder der Goncourt-Jury, die dem Präsidenten der Republik, die Lektüre seines Buches empfohlen haben, weil sie sagten: Wenn er das liest, dann versteht er besser, was diese Demonstranten antreibt. Was tatsächlich kein blöder Rat gewesen ist, man versteht es tatsächlich ein bisschen besser."

Kein allgemeiner Spiegel des Proletariats

Doch ein politisches Manifest soll sein Roman nicht sein, betont Mathieu. Die genaue Beschreibung der individuellen Charaktere ist ihm wichtig: "Der Roman soll kein allgemeiner Spiegel des Proletariats heute sein, was ich vielmehr abbilden möchte, sind in erster Linie Charaktere, die aus verschiedenen sozialen Schichten kommen und ihre unterschiedlichen Geschichten haben. Es geht hier nicht darum zu zeigen, dass das ganze Proletariat Alkohol trinkt."
Es ist ein Zufall: In der Frankfurter S-Bahn hängen am gleichen Abend Werbeplakate aus dem Ruhrgebiet. Sie sollen die Menschen aus der Mainmetropole in die stillgelegten Stahlwerke und Zechen locken, in denen längst Konzerte oder Ballettabende stattfinden.
Im Roman spottet Mathieu über die Versuche, in den geschlossenen Eisenhütten seiner fiktiven Stadt im Lothringen der 1980er-Jahre Themenparks oder Sportveranstaltungen als Alternative zur niedergegangenen Montanindustrie zu etablieren. Der Autor mag es grundsätzlich nicht, dass viele europäische Städte zu Kulissen für eine globalisierte Freizeitindustrie werden, wie er er bereits im Interview vor der Lesung verrät: "Wenn man jetzt die Stadt Lissabon als Beispiel nimmt, da passiert es ja auch immer wieder, dass Kulturdenkmäler zur Kulisse für Airbnb-Tourismus werden. Unsere Städte sind aber doch keine Freizeit-Spielplätze."

Melancholische Erinnerung an die WM 1998

Es gibt am Ende des Romans ein Ereignis, das eine Hoffnung aufblitzen lässt. Die Hoffnung auf eine gesamtgesellschaftliche Solidarität, die den Rassismus zumindest für einen Moment überwindet. Die Rede ist von der Fußballweltmeisterschaft 1998, als sich ganz Frankreich kurzzeitig Zinedine Zidane als Präsidenten vorstellen konnte - auch die weißen französischen Stahlarbeiter, die sonst oft auf die "Araber" herabblickten. Dazu Mathieu: "Sozial gesehen bleibt leider davon nicht viel übrig. Aber auf der emotionalen Ebene ist noch ganz viel zu spüren, und das hinterlässt natürlich auch eine gewisse Melancholie."

Nicolas Mathieu: "Wie später ihre Kinder"
Aus dem Französischen von Lena Müller und André Hansen
Hanser Verlag Berlin 2019
448 Seiten, 24 Euro

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