Schriftsteller Erwin Strittmatter

Der Patriarch und sein „System Schulzenhof“

09:55 Minuten
Der Schriftsteller Erwin Strittmatter, fotografiert vor einer Lesung in Weimar im September 1992. Er sitzt, gestützt auf einen Gehstock, Gedanken verloren auf einer Parkbank.
Erwin Strittmatter im September 1992. Auf dem Schulzenhof musste sich alles nach seiner literarischen Arbeit richten, so die Historikerin Annette Leo. © imago / fossiphoto
Von Paul Kother · 10.08.2022
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Ein DDR-Schriftsteller, populär in Ost und West durch seine Romantrilogie „Der Laden“. Eine ländliche Idylle in Brandenburg – und eine raue Wirklichkeit: Erwin Strittmatter war auf seinem Schulzenhof ein tyrannischer altdeutscher Patriarch.
Erwin Strittmatter gehört zu den DDR-Schriftstellern, die ihre Popularität nach 1990 nicht eingebüßt haben. Spätestens seit der Verfilmung seiner Trilogie „Der Laden“ ist er in Ost und West bekannt. Wenn man aber bei dieser besonderen Gestalt der deutschen Literaturgeschichte genauer hinschaut, war die Realität etwas anders als der schöne Schein.
Sein ländliches Anwesen, der Schulzenhof im Norden Brandenburgs, ist bis heute ein touristischer Anziehungspunkt und ein Beispiel, wie trügerisch ländliche Idylle sein kann.

„Hinter dem Garten beginnt der Hochwald. Dort steht dichtes Unterholz, Ebereschen und Espenschößlinge, auch fußangelnde Brombeerranken fehlen nicht.

Wenn ich zum Heuen gehe, zwänge ich mich durch das Gestrüpp. Zehn Jahre wohnen wir auf dem Vorwerk. Zweimal im Jahr ernten wir Heu. Durch den Hochwald geht jetzt ein Fußpfad. Das ist mein Heuweg über den Hügel.“

(aus Erwin Strittmatters "Schulzenhofer Kramkalender")

„Das ist eine total idyllische Gegend. Schulzenhof ist ein kleines Vorwerk von dem Ort Dollgow, so ein hübsches kleines Dorf inmitten von Seen und Wiesen und großen tiefen Wäldern“, sagt Annette Leo.
In diesem abgeschiedenen Weiler im Norden Brandenburgs lebten Eva und Erwin Strittmatter, zwei der bekanntesten Schriftsteller:innen der DDR. Immer wieder schrieben sie sehr persönlich über das Leben im Ort und machten das Dorf einem großen Publikum bekannt – in Publikationen wie „Schulzenhofer Kramkalender“, „Dreiviertel hundert Kleingeschichten“ oder „Briefe aus Schulzenhof“.
Die Historikerin Annette Leo hat eine Biografie über Erwin Strittmatter geschrieben.
„Er wollte immer wieder in die Situation zurück, die er als Kind und Jugendlicher erlebt hat. Zurück in diese ländlichen Idyllen. Dieser unmittelbare Kontakt mit der Natur, mit den Vögeln - er konnte jede Vogelstimme dort entschlüsseln – mit dem, was ihn dort umgab, mit dem Wetter, mit den Jahreszeiten, dass das für ihn und sein Lebensgefühl, mit den Möglichkeiten, etwas Schöpferisches zu tun, ganz essenziell war“, erklärt sie.
Porträtfoto von Erwin Strittmatter mit Baskenmütze, fotografiert in schwarz-weiß, in Weimar im September 1992.
Erwin Strittmatter lebte mit seiner Frau Eva in einem abgeschiedenen Weiler im Norden Brandenburgs.© imago / fossiphoto

„Wir beginnen die Führung immer hier“

„Herzlich willkommen auf dem Strittmatter-Gehöft in Schulzenhof. Mein Name ist Jacob Strittmatter, ich bin der jüngste Sohn von Eva und Erwin Strittmatter.“
Im Schatten einer großen Birke steht eine kleine Wandergruppe. Die Besucherinnen und Besucher möchten mehr über jenen Ort erfahren, den sie bereits aus den Büchern des Schriftstellerpaares kennen, von dem viele schon während ihrer Schulzeit in der DDR gelesen haben.
„Wir beginnen die Führung immer hier unter der Birke, die Erwin Strittmatter vor 50 Jahren auf den ehemals nackten Bauernhof gepflanzt hat, und ich erzähle den Leuten so ein bisschen etwas über das Gehöft und wie sie hierherkamen“, sagt Jacob Strittmatter.
1953 erhielt Erwin Strittmatter seinen ersten Nationalpreis der DDR und erwarb vom Preisgeld ein Grundstück in der Natur.
„Die Leute, die ihm das Haus verkauft haben, haben auch eine Ziege da gelassen und Hühner. Das haben sie mitgekauft und er hat dann Eva erklärt, dass man nun hier nicht mehr wegkönne, weil man müsse sich ja um die Tiere kümmern“, erzählt Annette Leo.

Fester Wohnsitz statt Sommerhaus

Schnell wurde aus dem Gehöft in Schulzenhof der Wohnsitz des Paares. Zuvor hatte Erwin Eva Strittmatter noch versprochen, dass er lediglich auf der Suche nach einem Sommerhaus sei und sie in ihrer Berliner Wohnung bleiben würden, weiß Annette Leo.
„Und diese große Wohnung würden sie ja jetzt auch nicht mehr brauchen und wenn sie die behalten wolle, müsste sie alleine für die Miete aufkommen und das konnte sie nicht. So war sie praktisch wie gezwungen, da mit heraus zu ziehen“, erklärt die Historikern.
„Er hat also in der Stadt gewohnt und hat aber immer diesen Hunger auf Landleben gehabt und das hat er in den ersten Jahren hier dann völlig ausgelebt“ berichtet Jacob Strittmatter auf seiner Führung über das Gehöft.
Der jüngste Sohn des Schriftstellerpaares erzählt auch davon, wie erschrocken seine Mutter von ihrem Mann gewesen sei, als sie aufs Land zogen.

In Berlin hatte sie einen intellektuellen Schreiber kennengelernt, und hier kam plötzlich der Bauer zum Vorschein und der hat also einen gewissen Terror verbreitet. Weil sofort das Obst verwertet werden musste, eingeweckt werden musste und so weiter. Ein völlig, völlig anderer - das hat sie ein bisschen befremdet.

Jacob Strittmatter

Vorzeigepaar der DDR-Literatur

Nach außen geraten diese Konflikte zunächst nicht. Die Strittmatters gelten als Vorzeige-Schriftsteller:innen der DDR, die sich mit dem Leben der einfachen Bevölkerung auseinandersetzen und den Arbeitsalltag auf dem Land zum Inhalt ihrer Literatur machen. Gerade Erwin Strittmatter ist früh als eine Art Arbeiter- und Bauernschriftsteller hofiert worden.

Diese Rolle hat er eigentlich lange Zeit gerne gespielt und ich denke mal, er hat sich auch in Schulzenhof inszeniert: Als der Mann, der gegenüber den Intellektuellen, seinen Schriftstellerkollegen, wirklich auf dem Lande lebte, im wirklichem Kontakt mit der landwirtschaftlichen Produktion.

Annette Leo

Erwin Strittmatter als verkleideter Zirkusdirekter im Juli 1978.
Erwin Strittmatter im Jahr 1978, verkleidet als Zirkusdirektor: Seine Frau Eva und er galten als Vorzeigepaar der DDR-Literatur.© imago / Werner Schulze
Zum Teil entsprach das auch der Wirklichkeit. Erwin Strittmatter engagierte sich in der lokalen LPG, der Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaft, betrieb eine eigene Pferdezucht, baute Obst und Gemüse an. Durch die Nähe zum landwirtschaftlichen Leben erfuhr der Schriftsteller von den alltäglichen Problemen auf dem Land.
Diese kritischen Beobachtungen verarbeitete er auch literarisch. Das missfiel der Zensurbehörde und den Funktionären des Bauernverbandes, weiß Anette Leo.
„Aber er hat dann auch sehr damit kokettiert, dass er, wenn er da zu irgendeiner Schriftstellerverbandstagung fuhr, sagte: Er kommt direkt von der Erntearbeit oder so. Er hat natürlich nicht direkt an der Ernte teilgenommen, aber das hat einen mächtigen Eindruck gemacht“, erzählt sie.
Im Zentrum des Lebens auf Schulzenhof stand die landwirtschaftliche Arbeit, erinnert sich Jacob Strittmatter. „Ich bin hineingeboren in diesen Haushalt und habe das also kennengelernt, nicht anders, als dass meine Eltern schreibend ihren Lebensunterhalt verdient haben und Schriftsteller waren. Das war wichtig, dass wir als Kinder das sehr schnell lernen mussten: Die Arbeitsruhe des Vaters vor allen Dingen respektieren, achten und schützen!“

„Auf alle Fälle war er ein Patriarch“

„Es ist vollkommen klar: Im Mittelpunkt dieses Lebens in Schulzenhof stand seine literarische Arbeit und danach musste sich alles richten“, sagt Annette Leo. Sie hat für ihre Strittmatter-Biografie Tagebucheinträge ausgewertet, Gespräche mit Angehörigen geführt, Briefe von Eva Strittmatter gelesen.
Dadurch wurde ihr klar: „Auf alle Fälle war er ein Patriarch, der sich selbst alle Freiheiten herausnahm, die seiner Frau aber nicht zugestand, der ganz selbstverständlich davon ausging, dass sich alles um ihn dreht.
Bereits zu Beginn ihrer Ehe verlangte Erwin von Eva Strittmatter, dass diese das eigene Schreiben zurückstellen und für ihn als stille Korrektorin und kritische Erstleserin arbeiten sollte.
Eva Strittmatter vor dem Bildnis ihres Mannes.
Musste das eigene Schreiben zurückstellen: Eva Strittmatter im Jahr 2000 neben einem Bildnis ihres Mannes.© imago / Hohlfeld
Als das Paar nach Schulzenhof zog, setzte der Schriftsteller bald durch, dass die gemeinsamen Söhne nicht bei ihren Eltern auf dem Gehöft, sondern bei der 40 Kilometer entfernt lebenden Großmutter aufwachsen sollten.
Erst mit der Zeit konnten sich diese einen festen Platz auf Schulzenhof erkämpfen. Besonders schwer hatte es ihr Sohn Erwin Berner. Er hat ein Buch geschrieben, in dem er sich an seine Kindheit auf Schulzenhof erinnert:

„Bis zu meinem vierzehnten Lebensjahr sehnte ich mich nach Schulzenhof. Schien Vater auch unnahbar zu sein, neigte er auch zu jähen Wutausbrüchen, so war doch das Schulzenhofer Leben geordnet. Alles hatte seinen Platz. (…)

Ich wurde gefragt, wem ich Dank schulde. Nach kurzem Zögern antwortete ich: Meinen Eltern. (…) Auch heute will ich ihre Verdienste nicht schmälern. Doch will ich das Bedrückende nicht länger umschweigen. (…)

Wenn ich auf die schwärzeste Schulzenhofer Zeit blicke, möchte ich das, was ich erlebt habe und worin ich abhängig eingebunden war, das System Schulzenhof nennen.

Annette Leo erklärt: „Das mit den Kindern ist wirklich eine echte Tragödie. Die älteren Söhne, sowohl Ilja als auch Erwin, wurden wirklich schlecht behandelt. Das kann man dann für die beiden Jüngeren, nachdem sie auch bei ihren Eltern wohnen durften, nicht mehr sagen.“

System aus Angst, Verachtung und Strafe

Die Strittmatter-Biografin spricht von einem System aus Angst, Verachtung und Strafe.
„Das hat mich auch, als ich an dem Buch gearbeitet habe, richtig empört. Da habe ich ein paar Mal meine Contenance verloren. Dass er nachts bei einem kranken Pferd gewacht hat, aber mit seinen Kindern wollte er das nie machen, weil das war ihm zu viel Ablenkung, zu viel Arbeit. Da war jedes Schnauben, jedes Scharren von den Tieren war ihm wichtig, aber die Kinder waren die kleinen Krachmacher.“
Dunkle Regenwolken hängen über Schulzenhof, die Führung über das Schriftsteller-Gehöft ist vorüber und ein Sommergewitter naht.
Eine Besucherin steht unter der Birke, die Erwin Strittmatter vor 50 Jahren pflanzte und meint nachdenklich:
„Natürlich habe ich jetzt Bücher gelesen von Eva Strittmatter, die mich sehr berührt haben. Wie sie das Verhältnis zu ihrem Mann Erwin Strittmatter dargestellt hat. Auch ihren Zwiespalt, dass sie ihrem Mann gerecht wird und auch ihren Kindern. Das hat mich sehr berührt. Man kann in schöner Natur leben und kann trotzdem ein Leben in einer Hölle haben.“
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