Schriftsteller, Diplomat und Mäzen

Von Bernd Ulrich · 30.11.2012
Bekannt geblieben ist er vor allem durch seine Tagebücher: Harry Graf Kessler, unermüdlicher Chronist zwischen Kaiserreich und Nationalsozialismus. Das Vermögen des Vaters nutzte er, um tief in die Welt von Kunst und Kultur einzutauchen. Am 30. November 1937 starb er im französischen Exil.
"Deutsch sein heißt, eine Sache um ihrer selbst willen tun, war das Schlagwort. Ich aber wollte nicht in diesem Sinn deutsch sein. Ich wollte wissen: Wozu der Schweiß. Und leistete erbittert und verbissen Widerstand gegen jede Arbeit, die nur meinen Fleiß erproben und üben sollte. Ich wurde ein Rebell."

So beschreibt Harry Graf Kessler in seiner Autobiografie "Gesichter und Zeiten" seine letzten Schuljahre auf dem Hamburger Traditionsgymnasium Johanneum. Nach Internaten in Frankreich und England hatte sich der 1868 geborene Kessler auch im Falle des Johanneums dem Willen der Eltern beugen müssen. Der Vater, ein wohlhabender Bankier, und die Mutter, eine irische Adelige, sahen den Sohn bereits "im Geschäft". Der notierte indessen am Tag seines zwanzigsten Geburtstages, damals noch auf Englisch, seiner Muttersprache:

"It is a dreadful idea to think you`re just a money-making- machine in life. – Es ist eine schreckliche Idee, sich sein Leben als Geldherstellungsmaschine vorzustellen."

Die Gefahr drohte nicht. Das große Vermögen des Vaters ermöglichte Kessler bis weit in die 1920er-Jahre hinein ein unabhängiges Leben. Er nutzte es für das tiefe Eintauchen in die Welt der Salons, für das Sammeln von Kunst und deren Förderung. Kaum ein Kunstinteressierter, der seine Arbeiten für die Literaturzeitschrift "Pan" nicht kannte oder den von ihm gegründeten Verlag der Cranachpresse.

Vor allem aber etablierte Kessler seit 1903 in Weimar - als Gründungsdirektor des "Großherzoglichen Museums für Kunst und Kunstgewerbe" - ein Zentrum der damaligen Moderne. Er setzte überdies die Berufung des Architekten und Designers Henry van de Velde als Leiter des "Kunstgewerblichen Seminars" durch, aus dem sich später das Bauhaus entwickeln sollte. Sein Biograf Friedrich Rothe:

"Den Vorzug des persönlichen Umgangs, den er bei den Kreativen genoß, erwiderte er mit einer Fülle von Initiativen, indem er Ausstellungen organisierte, Ankäufe vermittelte oder Vortrags- und Publikationsmöglichkeiten anbot."

Die meisten seiner Leser schätzen ihn indes als Chronisten der wilhelminischen Zeit und der Weimarer Republik. Fritz J. Raddatz fasste es 2004 anlässlich des Erscheinens der ersten beiden der mittlerweile fast vollständig edierten Tagebücher Kesslers so zusammen:

"Da dreht einer ein mächtiges Kaleidoskop, splitternd fallen immer neue Farbplatten zu immer neuen Bildern zusammen, verführerisch, abstoßend, gleißnerisch, prunkend in Banalität und schwarz glitzernd den Untergang einer Epoche vorwegnehmend."

Freilich scheut Kessler auch nicht Tratsch und Klatsch; nicht immer so amüsant wie in der Wiedergabe eines bösen Urteils Max Liebermanns über den jungen Maler Edvard Munch von 1897:

"Munch, wissen Se, det is ooch eener der besser jethan hätte Schuster zu werden."

Allerdings hinderte dies Kessler nicht daran, sich neun Jahre später von dem mittlerweile von ihm protegierten Munch malen zu lassen.

Der Graf wird Chronist der wilhelminischen Gesellschaft bleiben, deren Teil er ist, und der doch nicht müde wird, ihre moralischen und politischen Widersprüche offenzulegen. An dieser Grundhaltung der Wahrnehmung änderte die große Zäsur des Ersten Weltkriegs nichts, auch wenn der reaktivierte Garde-Ulanen-Offizier während seines knapp zweijährigen Fronteinsatzes die "Ästhetik des Schreckens" zu entdecken begann und sich dabei, wie er formulierte, fern der "Clichéküche der Kriegsrhetorik" wähnte.

Der eingefleischte, mit der Weltkriegsniederlage endgültig desillusionierte Monarchist wandelte sich zum Republikaner, zum Pazifisten, gar zum Sozialisten. Nach kurzem Dienst als Gesandter des Reiches im neu entstandenen Polen noch während des Krieges, wird er vor allem eins: ein entschiedener Verteidiger der Republik von Weimar. So hielt er etwa am 10. August 1924, dem fünften Verfassungstag der Republik, eine Rede vor Arbeitern in Holzminden:

"Wollt Ihr wieder Kanonenfutter für einen neuen Krieg werden' Wollt Ihr wieder als rechtlose Arbeitnehmer mit der Mütze in der Hand auf dem Fabrikhofe vor den 'Herren im Hause' stehen? Nein? Dann tretet vor die Republik hin, schützt sie, verteidigt sie!"

Nach Hitlers Machtergreifung kehrte Kessler – zu jener Zeit auf einer seiner häufigen Paris-Reisen – nicht nach Deutschland zurück. Bis zu seinem Tod, der ihn am 30. November 1937 im südfranzösischen Chateau de Brion ereilt, bleibt der nun Mittellose auf die Unterstützung der Schwester und von Freunden angewiesen.

Der Schriftsteller Julien Green, der Kessler seit 1929 kannte, nahm an der Beerdigung in der Familiengruft auf dem Pariser Père Lachaise teil:

"Als man den Sarg forttrug, entstand eine Art allgemeiner tiefer Trauer, anders kann ich das nicht ausdrücken; man entriss den armen Kessler seinen Freunden."
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