Schriftsteller Boualem Sansal

Warum droht 2084 das Ende der Welt?

Der algerische Schriftsteller Boualem Sansal
Der algerische Schriftsteller Boualem Sansal © picture alliance / dpa / Arne Dedert
Boualem Sansal im Gespräch mit Sigrid Brinkmann · 31.05.2016
Boualem Sansal ist unbestritten der wichtigste algerische Gegenwartsautor. Seine Bücher veröffentlicht er wegen seiner regime- und islamkritischen Haltung nur in Paris. Derzeit ist er auf Lesereise in Deutschland.
Boualem Sansals Buch "2084. Das Ende der Welt" und Michel Houllebeqs Roman "Unterwerfung" gehörten letztes Jahr in Frankreich zu den meistdiskutierten literarischen Werken. Houellebecq verlegt die Handlung ins Jahr 2022, dann hat Frankreich einen muslimischen Präsidenten. In Sansals Fiktion ist sogar eine planetare Glaubensdiktatur Realität geworden.
Sigrid Brinkmann sprach mit Boualem Sansal über diese Themen:
• Trifft Ihre pessimistische Beschreibung eines weltweiten religiösen Regimes den Angstnerv der Franzosen?
• Was bringt Sie zu einer solch düsteren Annahme?
• Sind Sie pessimistischer als Houellebecq, weil Sie in Algerien im Alltag erleben, wie Islamisten die Gesellschaft einschüchtern und die Regierung die religiösen Kräfte weniger bekämpft als noch in den 90er-Jahren?
• Bei Ihrem Buchtitel denkt man an George Orwells Zukunftsroman "1984", es gibt ein paar Anspielungen darauf in Ihrem Roman, aber es ist letztlich unerheblich. Warum haben Sie diese Spur dennoch gelegt?

Das ungekürzte Interview im Wortlaut:

Sigrid Brinkmann: Boualem Sansal, der 2011 mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels ausgezeichnet wurde und in Frankreich viele Literaturpreise erhielt, ist unbestritten der wichtigste algerische Gegenwartsautor. In Algerien allerdings kann sich der Schriftsteller wegen seiner regime- und islamkritischen Haltung nur vorsichtig bewegen. Auch deshalb veröffentlicht er seine Bücher nur in Paris. Boualem Sansals Buch "2084. Das Ende der Welt" und Michel Houllebeqs Roman "Unterwerfung" gehörten letztes Jahr in Frankreich zu den meist diskutierten literarischen Werken. Houellebecq verlegt die Handlung ins Jahr 2022: Dann hat Frankreich einen muslimischen Präsidenten. In Sansals Fiktion ist eine planetare Glaubensdiktatur Realität geworden. Ich habe Boualem Sansal gefragt, was ihn zu einer solch düsteren Annahme bringt?
Boualem Sansal: Ich bin von einer ganz konkreten Situation ausgegangen. Es gibt viele Länder – den Iran, die Türkei, Algerien oder Marokko – in denen das Religiöse sich immer stärker in die Gesellschaft und die Institutionen hineinfrisst. Die Tendenzen zum Prophetischen, zum Totalitären sind beunruhigend. Es geht um die Re-Islamisierung der Bevölkerung unter fundamentalistischen Vorzeichen: das Gesetz Allahs soll nicht nur bei staatlichen Institutionen gelten, sondern auch für das Denken der Menschen. Das Phänomen hat sich seit etwa 30 Jahren in zahlreichen arabischen Ländern ausgebreitet; zuletzt auch in einst laizistischen Ländern wie Algerien, Libyen, dem Irak oder Syrien. Und es geht immer weiter, sogar ansatzweise bis nach Europa. Das ist eine immer stärkere Bedrohung für unseren gesamten Planeten.
Sigrid Brinkmann: Michel Houellebecq hat anerkennend bemerkt, dass Ihr Roman "2084. Das Ende der Welt" viel härter sei als sein Buch. Sind Sie pessimistischer, weil Sie in Algerien einen Alltag erleben, wie Islamisten die Gesellschaft einschüchtern und die Regierung aber die religiösen Kräfte weniger bekämpft als noch in den 90er-Jahren?
Boualem Sansal: Eine Hypothese geht davon aus, dass die Religion auf demokratische Weise an die Macht kommen wird. In Marokko ist die "Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung" durch Wahlen an die Regierung gekommen. In der Türkei ist es genauso. Vor dem Hintergrund dieser Beispiele hat Houellebecq seinen Roman entworfen. Ich hingegen glaube, dass wir seit einigen Jahren beobachten können, wie die Islamisierung immer radikaler voranschreitet. Die radikalen Islamisten haben weltweit die Oberhand gegenüber den gemäßigten gewonnen. Sie wollen nicht nur an die Macht, sondern sie wollen die Welt grundlegend verändern. Sie wollen Ungläubige, die Christen und Juden beseitigen.
Bei Houellebecq beeinflussen die Islamisten nach der Machtübernahme das Verhalten der Menschen. Aber den Radikalen geht es nicht um so eine "freundliche" Übernahme. Sie wollen den wahren Sieg, eine gewaltsame, revolutionäre Veränderung. Die alte Ordnung - die westliche, die christliche – soll zerstört werden. Atheisten und Homosexuelle sollen vernichtet werden. l ist eine moralische Reinigung. Wenn man sich anschaut, was im IS los ist, in Syrien oder im Irak: die Radikalisierung setzt sich fort, auch in Europa finden sie doch kaum gemäßigte Islamisten. Sie wollen durch einen Krieg, durch den Djihad an die Macht, nicht durch Diskussionen, und schon gar nicht auf demokratischer Grundlage.

Durch Orwell habe ich verstanden, wie ein totalitäres Regime funktioniert

Sigrid Brinkmann: Bei Ihrem Buchtitel denkt man gleich an George Orwells Zukunftsroman "1984". Und es gibt ein paar Anspielungen darauf in Ihrem Text, aber es ist letztlich unerheblich. Warum haben Sie diese Spur dennoch gelegt?
Boualem Sansal: Für mich war das wichtig, weil ich Orwell entdeckt habe, als ich ein ganz junger Mann war. Als Algerien 1962 unabhängig wurde, hofften wir, dass wir eine soziale und pluralistische Demokratie bekommen würden. Leider haben sich die Dinge etwas anders entwickelt. Eine Diktatur kommt immer unsichtbar daher. Es ist so ähnlich wie mit der Umweltverschmutzung. Man weiß nicht genau, wo es angefangen hat, es kommt von allen Seiten und kontaminiert schließlich alles. Durch die Lektüre von "1984" habe ich verstanden, wie ein totalitäres, stalinistisches Regime funktioniert. George Orwells Bücher haben mir gezeigt, was in meinem eigenen Land los ist und in anderen Gegenden der Welt, die von kommunistischen oder sozialistischen Regimen regiert werden.
Auf einmal hat sich in Algerien nämlich etwas verändert. Es tauchten neue Personen auf. Plötzlich war die Rede von Allah, den Propheten, von Heiligen und Märtyrern. Das passte mit Orwells "1984" nicht mehr zusammen. Und so kam mir die Idee, ein Buch zu schreiben, das erklärt, wie theokratische Diktaturen funktionieren. Und um meine Bewunderung für George Orwell zu zeigen, war es mir wichtig, einen Titel zu wählen, bei dem sofort deutlich wird, welche Bedeutung Orwell für mich hat.
Sigrid Brinkmann: Ein großer Heiliger Krieg hat das Leben im Reich Abistan, das Sie erfinden, komplett erstickt. Alle Spuren, die auf ein Leben vor der Zeit der Diktatur verweisen, sind ausgelöscht worden, und bis auf einige ganz wenige unruhige Menschen sucht und fragt niemand danach. Nicht mehr zu wissen, woher man kommt, nur noch an der Gegenwart zu kleben, das bedeutet das Ende der Welt ...
Boualem Sansal: Manche Diktaturen kontrollieren nur die physische Existenz der Menschen. Man will wissen, wo sie sind, wo sie wohnen, wo sie leben. Das reicht, damit die Diktatur funktioniert. Ein System mit religiösen Ambitionen muss aber die Seele und den Geist des Menschen überwachen. Die Herrschaft über das Gehirn erlangt man über Kultur, über die Sprache, über die Musikalisierung der Gesellschaft durch eine neue Liturgie, durch besondere Gebete. Man ist dann kein Staatsbürger mit Rechten und Pflichten, sondern ein Gläubiger, der in kniender Anbetung vor der Gottheit liegt. Einen Gläubigen, der der Vernunft nicht zugänglich ist, muss man durch Magie regieren. Gebete, Verzückung, Blut, Mord und allerlei Initiationsriten. Früher glaubte in Algerien kein Mensch an solche Sache. Da war mein Land laizistisch, sozialistisch, kommunistisch. Aber die Leute haben sich völlig verändert und waren auf einmal bereit, an alles mögliche zu glauben. Rechte und Pflichten, die Erziehung, das Vergnügen am Leben – all das hat für diese Gläubigen keinerlei Sinn.
Sigrid Brinkmann: Von der allgemeinen Lähmung zu schreiben, muss für Sie ja eine enorme Herausforderung dargestellt haben. Es ist wahnsinnig bedrückend und die Leere gibt den Figuren auch keinen Raum für Entwicklung. War es nicht so wichtig, Figuren als Individuen mit starkem Eigenleben zu schaffen?
Boualem Sansal: Die Herausforderung bestand darin, 350 Seiten mit "nichts" zu füllen. Denn für jemanden, der sich nicht in dieser fundamentalistisch-islamischen Fantasmagorie bewegt, passiert einfach nichts. Das ist sehr kompliziert. Außerdem sind das Gesellschaften, die die Vergangenheit auslöschen, denken Sie an die Taliban, die die Buddha-Statuen zerstört haben oder den IS, der Palymra zerstört hat. Das Land ist zu Asche gemacht worden. Was bleibt, ist Sand. Die Leute leben nur in dem Moment, in dem sie im Tempel beten. Ansonsten sind sie auf das Niveau von Gemüse reduziert. Natürlich füllt die Religion diese Leere, aber von außen betrachtet, wird eine Leere durch eine andere Leere ersetzt. Es ist schon sehr schwierig, so einen Roman zu schreiben, in dem nichts passiert.
Sigrid Brinkmann: In Ihrer Friedenspreisrede haben Sie gesagt, dass das Fehlen von Freiheit ein Schmerz sei, der einen auf Dauer verrückt mache. Machen nur das Schreiben und Gespräche mit Familie und engsten Freunden die Unfreiheit in Algerien erträglich?
Boualem Sansal: Ohne Freiheit kann man nicht leben. Selbst wenn man sie nicht nutzt, kann man ohne ein Bewusstsein von Freiheit seine Existenz nicht definieren. Wenn Freiheit nicht mehr da ist, weiß man nicht mehr, wie man leben soll. Totalitäre Systeme versuchen, die Menschen ständig in Zwängen zu drücken. Sie müssen allem hinterherlaufen – dem Brot, dem Gemüse, die Läden sind leer, man muss überall anstehen, auch vor den Behörden, um Papiere zu beantragen, die nur dafür da sind, irgendwelche anderen Papiere zu bekommen. Diejenigen, die sich noch einen Rest von Freiheitsliebe bewahrt haben, werden nach kurzer Zeit verrückt. Manche emigrieren, gehen also dorthin, wo es Freiheit gibt: nach Europa. Aber für jemanden, der die Freiheit nie kennen gelernt hat, ist es ungeheuer schwierig, damit umzugehen, und hier beginnen die Probleme mit der Integration. Integration heißt ja nicht, dass man die anderen imitiert, um zu verstehen, wie die Gesellschaft funktioniert. Sondern dass man begreift, wie man mit Freiheit in der freiheitlichen Gesellschaft umgeht.
Die, die im eigenen Land bleiben, werden eben verrückt. Der Mangel an Freiheit zerstört die Gesundheit. Und irgendwann sucht man sich zu befreien, indem man sich ein Gefängnis aussucht: die Moschee, also die Religion. Oder das politische Engagement als Kommunist.
Wenn sie zum Beispiel in der völligen Unterwerfung leben – "Unterwerfung" ist ja der Titel von Michel Houellebecqs Buch -, dann gibt ihnen das die Freiheit, den anderen zu hassen. Sie können ihn beleidigen oder töten. Das ist schrecklich – aber es ist eine Art von Freiheit. Und diese seltsame Entwicklung bringt ganz eigenartige Gesellschaften hervor.

Gespräche mit Lesern in Europa

Sigrid Brinkmann: In Frankreich sind Sie für Ihren Roman mit dem renommierten Preis der Académie Française geehrt worden und es gab zahlreiche Nominierungen für weitere Auszeichnungen. Trifft Ihre pessimistische Beschreibung eines weltweiten religiösen Regimes den Angstnerv der Franzosen?
Boualem Sansal: Ich reise seit neun Monaten überall in Europa herum. Ich war in Italien, der Schweiz, in Polen. Mein Buch trifft auf Ängste. Viele Leute haben Angst – weil um sie herum Menschen sind, die sie nicht begreifen. Sie sind beunruhigt von den Stadtvierteln, deren Bewohner anscheinend vom Staat vergessen worden sind. Niemand unternimmt etwas gegen die ständig steigende Bedrohung. Mein Buch beschäftigt sich mit den täglichen Problemen der Menschen – und deshalb ist es so erfolgreich. Der Text macht vielen Leuten Angst, denn sie sehen, was alles passieren könnte, wenn niemand etwas Vernünftiges dagegen unternimmt. Bomben auf Länder und Menschen werfen – das sind doch völlig blöde Maßnahmen. Wenn es keine kluge, konzertierte Reaktion gibt, wird Orwells "1984" mit Sicherheit zur Realität.
Houellebecq hat in seinem Buch den Aufstieg der Islamisten beschrieben. Wenn wir so weitermachen wie bisher, werden die Religiösen oder die Rechtsxtremen an die Macht kommen. Denken Sie daran, was vor kurzem in Österreich fast passiert wäre - und an das, was im kommenden Jahr womöglich in Frankreich passieren wird. Wenn dieses Problem nicht gelöst wird, bekommen wir totalitäre Regime – die entweder religiös fundamentalistisch sind oder rechtsextrem.
Sigrid Brinkmann: Was geben Sie den verunsicherten Lesern, die das Gespräch mit Ihnen suchen und denen Sie seit Monaten begegnen auf Lesereisen in verschiedene Länder, mit?
Boualem Sansal: Ich betrachte mich als Pädagogen. Die Leute suchen vor allem nach Erklärungen. Im Fernsehen und in den Zeitungen ist alles kompliziert. Islam, Islamismus, Fundamentalismus, Salafismus, Djihadismus, Wahabismus, Sunnismus, die Schiiten – so, wie das berichtet wird, verwirrt das die Leute. Und die Parteien nutzen diese Verwirrung, um Wähler für rechts oder links oder die Mitte zu gewinnen. Ich versuche, den Menschen zu sagen, was wirklich gefährlich ist. Vor allem diskutiere ich mit ihnen, denn niemand hört sonst den Leuten zu. Am Ende sagen manche dann: Ja, das haben Sie gut erklärt, jetzt verstehe ich das alles besser. An dieser Aufgabe, die Dinge zu erklären und sich die Probleme bewusst zu machen, daran sollten sich alle Gutwilligen beteiligen. Am Ende kann man dann gemeinsam Druck auf die Politiker ausüben, damit sie die richtigen Entscheidungen treffen. Menschen zu bombardieren verschlimmert alles nur. Aber die politische Korrektheit und die Gedanken-Polizei überall in Europa verhindern die Debatte darüber. Wenn man sieht, wie die italienische Regierung die nackten Statuen beim Besuch des iranischen Präsidenten verhüllt hat, fragt sich die Bevölkerung zu Recht, im Namen welcher Grundüberzeugungen sie regiert wird. Für welche Werte sollen wir uns einsetzen - für die Werte des Iran oder die Werte Italiens? Diese Verwirrung muss man nach und nach auflösen - durch klare Erklärungen und durch eine mutige Haltung.

Boualem Sansal, 2084. Das Ende der Welt, Roman,
Aus dem Französischen von Vincent von Wroblewsky,
Gebunden, 288 Seiten, 24 Euro, Merlin Verlag

Boualem Sansal reist zur Zeit durch Deutschland, um über seinen Roman "2084. Das Ende der Welt" zu sprechen. Er ist im Merlin Verlag erschienen, Vincent von Wroblewsky hat ihn ins Deutsche übersetzt. Am 1. Juni liest und diskutiert Boualem Sansal in Göttingen, am 2. Juni tritt er in Hamburg auf. Weitere Stationen sind Nürnberg, Kiel und Heidelberg.
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