Schriftrollen ohne Geheimnis

Rezensiert von Jochen R. Klicker · 12.07.2006
Seit den 50er Jahren ranken sich verschiedene Theorien um die Schriftrollen von Qumran, die in Höhlen am Ufer des Toten Meeres gefunden wurden. Stammten sie von der asketischen Sekte der Essener oder aus der Umgebung Johannes des Täufers? Yizhar Hirschfeld glaubt an viel profanere Antworten.
Vor zwei Jahren in den USA im englischen Original und jetzt in einer aktualisierten deutschen Ausgabe erschienen - besorgt von dem deutschen Archäologen Jürgen Zangenberg, der an der niederländischen Universität Tilburg arbeitet - ist "Qumran im Kontext" tatsächlich gut für einige Überraschungen.

Die beginnen bereits mit den Voraussetzungen der Arbeit sowohl in den archäologischen Aufschlüssen wie an Schreibtisch und PC: Hirschfeld geht nämlich nicht länger mehr von der Annahme aus, dass es eine genuine Verbindung gebe zwischen den Schriftrollen, den Essenern und den Ruinen vor Ort von Qumran.

Diese Position wurde nochmals im Jahre 2002 von der US-amerikanischen Archäologin Jodi Magness vorgetragen und fand bei der Mehrheit ihrer konservativ-traditionellen Kollegen Zustimmung. Demnach ist Qumran um 100 vor Christus als Sektensiedlung der Essener gegründet und bis zur Zerstörung durch die Römer im Jahre 68 nach Christus von diesen auch bewohnt worden.

Primär hatte Qumran also religiöse Funktionen als weltabgeschiedener Ort asketisch-entsagungsvollen Rückzuges und als das Zentrum der Schriftrollenherstellung der Essener-"Gemeinde". Dabei blieb die Frage offen, ob möglicherweise über die Schriftrollen Beziehungen nach Jerusalem - zu Tempel-Bibliothek und Tempel-Schatz - geschaffen worden seien.

Insbesondere die deutschsprachige Theologie hat hier ihr Aufgabenfeld gefunden, die an archäologischen Befunden relativ uninteressiert blieb; jedoch viel beisteuerte zur Interpretation der Texte. Bis hin zur plausibel belegten Annahme, die Rollen seien kein Sektenprodukt, sondern stammten aus dem Umfeld des Jerusalemer Tempel mit seinen Priesterhierarchien, "Schriftgelehrten" und Religionsparteien.

Und eine zweite Annahme lag nahe, nämlich dass im Verlauf des jüdischen Befreiungskrieges gegen die römische Besatzungsmacht und der möglicherweise drohenden Zerstörung des Tempels die Rollen im Gewirr der abgeschiedenen Felsenhöhlen am Ufer des Toten Meeres in Sicherheit gebracht worden sind - durchaus kalkuliert bei Essenern, die aufgrund ihres religiösen Selbstverständnisses bei den Römern ja nicht im Verdacht standen, in die politischen und kriegerischen Auseinandersetzungen der jüdischen Aufständischen involviert zu sein.

Diese Position samt ihrer interpretatorischen Annahmen geriet auch kaum in Schwierigkeiten, nachdem die Grabungen der letzten Jahrzehnte gezeigt hatten, dass Qumran keineswegs ein unwirtlicher, lebensfeindlicher und abgeschiedener Winkel der palästinensischen Wüste gewesen ist, sondern ein Platz, der "trotz seiner Unwirtlichkeit sehr wohl besiedelt und sowohl wirtschaftlich als auch strategisch für die regionalen Herrscher westlich und östlich des Toten Meeres höchst interessant war" (Zangenberg, Seite 13).

Hirschfeld entfaltet gegen solche mehrheitlich konservativ-traditionellen Fragestellungen seine eigenen "archäologischen Bilder". Er fragt:

"Welche Identität hatten die Bewohner Qumrans? Wer versteckte die Schriftrollen?
Wie steht es um die Essener?"

Zur Identitätsfrage kann die Archäologie tatsächlich Elemente einer materialen Kultur beisteuern. Sie belegen: Qumran war zunächst ein Fort zum Schutz der Grenzen und der Sicherung des Straßenverkehrs, möglicherweise wie andere Forts auch außerdem ein regionales Verwaltungszentrum und eine Burg zur Aufbewahrung königlicher "Einkünfte" (Hirschfeld, Seite 307). Später wurde die Siedlung zum Zentrum eines Landgutes umgebaut, mit einem befestigten Herrenhaus, dessen Bewohner offenbar ein reicher und angesehener Großgrundbesitzer war, der das Vertrauen des Königs genoss.

"Es gibt keinen Grund für die Annahme, dass so arme Asketen eine so stattliche und reiche Anlage wie Qumran erwerben oder betreiben konnten, aber vielleicht arbeiteten sie dort gemeinsam mit anderen jüdischen Bewohnern."

Wahrscheinlich als Landarbeiter und/oder als Tagelöhner in der Gutswirtschaft. Lakonisch bemerkt der Autor, dass auch Essener essen müssten! Dass die Bewohner des Landgutes offenbar die Gebote der rituellen Reinheit strikt befolgten, legt die Annahme nahe, dass sie aus der Tempelaristokratie, also aus alteingesessenen wohlhabenden Priesterfamilien - vermutlich aus einer Sadduzäer-Dynastie - stammten.

Insofern lag es nahe, dass nach Beginn des jüdischen Aufstandes die Jerusalemer Priester-Oberschicht sich Gedanken machte, wohin man "für den Fall der Fälle" die Kostbarkeiten des Tempels evakuieren könnte. Man kann sich gut vorstellen, dass Priester sadduzäischer Herkunft - also kultivierte, reiche und elegante Bürger Jerusalems, die zwar stark geprägt waren von hellenistisch-römischer Kultur, aber trotzdem die jüdischen Gesetze und Reinheitsvorschriften übergenau einhielten - hier tätig wurden:

""Sie setzten alles daran, ihre heiligen Schriften...in Sicherheit zu bringen...zu jemand, der ihnen nahe stand und offenbar der gleichen sozialen Schicht angehörte zum Besitzer des Landgutes Qumran"." (Hirschfeld, Seite 309)

Vermutlich war er es auch, der die passenden Höhlen ausfindig machte, die Tonkrüge für die Aufbewahrung lieferte und die Lasten-Karawane zur Verfügung stellte.

Und die Essener? Sie lebten offenbar entlang der Ufer des Toten Meeres an den Rändern der Plantagen - im Einklang mit der Natur und in spiritueller Gottes-Nähe.

""Sie arbeiteten zwar, um ihr Leben zu fristen. Aber Zweck ihres Daseins in der Wüste war ein spirituelles Zeugnis einfacher Menschen am unteren Ende der gesellschaftlichen Stufenleiter"." (Hirschfeld, Seite 15)

Deren Erbe setzte sich geschichtlich durch - zusammen mit dem Gedankengut der Pharisäer, Johannes des Täufers und Jesu, weil es für die Römer als "unpolitisch" galt. Die politischen Religionsparteien wie Hasmonäer, Sadduzäer und Zeloten dagegen überlebten die Katastrophe der Tempelzerstörung von 70 nach Christus nicht. Mit anderen Worten: Asketischer Lebensstil, auf ein Minimum reduzierte Außenkontakte, apokalyptische Grundeinstellung, Besitzlosigkeit, sexuelle Enthaltsamkeit und isolierte Siedlungen am Rande der Kulturlandschaft sind Merkmale, welche schon die Zeitgenossen mit der Sekte der Essener verbanden. Auf die Bewohner von Qumran treffen jedoch diese Merkmale nicht zu.


Yizhar Hirschfeld: Qumran im Kontext. Eine Neubewertung der archäologischen Befunde
Aus dem Englischen übersetzt von Karl H. Nicolai.
Deutsche Bearbeitung von Jürgen Zangenberg.
Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh 2006.
350 Seiten, 29.95 €.