Schreibwerkstatt Hildesheim

Von Adama Ulrich |
Entweder kennen sie alle schon oder es ist niemand mehr da, dem man sie noch erzählen kann - die Geschichten aus der Erinnerung eines langen Lebens. Darum gibt es in Hildesheim die Schreibwerkstatt, die vom Hildesheimer Literaturbüro zusammen mit der örtlichen Volkshochschule veranstaltet wird.
Dabei geht es weniger darum, die Memoiren eines vielleicht unauffälligen Lebens zu veröffentlichen, vielmehr ist das Schreiben für die meist älteren Menschen eine Art Therapie. In einer Zeit, in der so viele Familien auseinanderfallen, ist das Erzählen kaum noch möglich, das Schreiben schon.

Kursteilnehmerin: "Soll ich das noch kurz vorlesen? Der Duft des Glyzinienstrauches. In unzähligen Windungen ranken sich die knochigen Äste des Glyzinienstrauches an der alten Steinveranda empor und er verteilt verschwenderisch seine blauen zapfenförmig gestalteten Blütentrauben bis hinauf auf das verwitterte Dach unseres Hauses. Es duftet nach Sommer. Die Schulglocke der Dorfschule ertönt, der Unterricht ist beendet. Ich renne die abschüssige Straße hinunter, biege in unseren säuberlich geharkten Gartenweg ein, stürme die ausgetretenen Steinstufen empor und laufe über die grau-weiß rautierten Fliesen, in die Vorhalle des alten Hauses."

Zehn Frauen und zwei Männer sitzen in einem hell erleuchteten Raum im Halbkreis. Sie sind zwischen 50 und 75 Jahre alt. Zwei mal im Monat treffen sie sich im Hildesheimer Mehrgenerationenhaus, um sich ihre Texte vorzulesen und darüber zu sprechen.

Kursteilnehmerin: "Wir schreiben das Jahr 1949 und ich bin 6 Jahre alt. Als ich meinen ersten Zahn verlor, hat mich mein Großvater getröstet, er hat für mich ein Fahrrad geschmiedet und mit mir Ausflüge gemacht. Heiligabend ging er mit mir in die Kirche und hielt meine kleine Hand fest in seiner verarbeiteten, schwieligen Hand, wenn wir durch die dunklen Gassen unseres Dorfes nach Hause gingen. Den schön geschmückten Weihnachtsbaum konnte ich schon von weitem an den hohen Fenstern stehen sehen, ebenso meine Großmutter, die auf uns beide wartete."

"Schön.
Ja, sehr schön.
Sehen Sie und so möchte ich das auch können."

Köhler: "Also ja, ich meine nur, wenn es um das Beschreiben geht, also möglichst beschreiben und viel beschreiben und wenig benennen und darin können Sie dann auch sehr viel von diesem Unsagbaren, von diesem Charakteristischen für diese Person, für diese Figur, für dieses Schicksal, für dieses Leben weitergeben."

Der Schriftsteller Jo Köhler leitet den Kurs. Er hat ihn "Lebenserinnerungen festhalten – Biografisches Schreiben" genannt. Auf die Idee dazu, ist er durch einen Schicksalsschlag gekommen.

Köhler: "Es hat sicherlich ... mit der Erfahrung zu tun, dass mir ein sehr nahestehender Mensch verstorben ist, nämlich meine Mutter vor einigen Jahren und eine Menge Bildmaterial zum Beispiel hinterlassen wurde, das nicht zuzuordnen ist, also von dem man nicht wissen kann, was sich dahinter verbirgt. Welche Geschichten, welche Menschen stecken dahinter?"

Damit es anderen nicht so ergeht wie ihm, hat Jo Köhler vor einem Jahr das Projekt Lebenserinnerungen initiiert. Ob es angenommen wird, war unklar.

Köhler: "Die Nachfrage ist ... erstaunlich oder auch wiederum nicht erstaunlich groß, dass in einer Gesellschaft, in der die Familien, die familiären Zusammenhänge, auseinander brechen oder auseinanderfallen, also kaum noch jemand da ist, dem man seine Geschichte oder seine Geschichten erzählen kann und von daher der Bedarf oder das Bedürfnis groß ist, etwas zu schaffen, das man überliefern kann, also jetzt auch als der einzelne Mensch mit seinen Erinnerungen, mit seinem Leben, seinem Schicksal, seiner Geschichte, als Fundus, als Archiv, als Gedächtnis von uns allen und erst recht als Gedächtnis einer immer schneller und immer gedächtnisloser werdenden Gesellschaft."

1999 hat Jo Köhler das "Forum-Literaturbüro" gegründet. Es befindet sich am Rand von Hildesheim in der obersten Etage eines Wohnhauses. Auf dem Namensschild an der Tür ist zu lesen:

"Jo Köhler – Mensch bzw. Dichter."

Innen ist es hell und verraucht. Jo Köhler sitzt an seinem PC, eine Zigarette im Mundwinkel. Das Schreiben gehört zu seinem Leben. Doch wozu ein Büro für Literatur?

Köhler: "Das Forum Literatur ist ... eine Initiative, eine Einrichtung, zur Förderung des Schreibens und auch der Literaturvermittlung. Zur Förderung von noch unbekannten Autoren, Autorinnen, ... von der Buchbesprechung über Autorenberatung, aber auch ... die Frage der Literaturvermittlung in der sich das Rezeptions-, das Wahrnehmungsverhalten so stark ändert, also die Suche und wenn es gut geht, das Finden neuer Wege der Literaturvermittlung. Wie schaffen wir es, die Literatur, die Poesie, die Kunst des Wortes zu den Menschen zu bringen."

Um die Literatur zu den Menschen zu bringen, die nicht von sich aus lesen, hat sich Jo Köhler allerhand einfallen lassen: Zum Beispiel 1996 und 97 eine Litera-Tour mit Veranstaltungen im öffentlichen Nahverkehr, wie Lesungen in Bussen und Lyrik-Plakaten an Haltestellen. Oder 1998 den "Litera-Talk", Literatur im Gespräch und den Lyrik-Garten als grenzüberschreitendes Literaturprojekt zum Thema "Lebensräume ... Lebensträume". 2000 zur EXPO in Hannover hat Jo Köhler ein etwa 1,50 Meter hohes Marmor-Ei mit tausend darin eingebetteten Autorenbeiträgen aus aller Welt ausgestellt. Das Lyrikobjekt ist jetzt im Vorgarten des Literaturbüros zu bewundern.

Köhler: "Literatur ist Feuer, Literatur ist ein Lebensmittel, es ist eine treibende Kraft, wirkt in alle Lebensbereiche hinein und da, wo sie berührt, wo es ankommt, dann auch eine Bedeutung hat, eine Relevanz hat, eine Veränderung oder einen Wandel herbeiführt."

Auf Wunsch besucht Jo Köhler die Teilnehmerinnen seines Literaturprojekts "Lebenserinnerungen" auch zuhause.

Heute stattet er Hedwig Aselmeyer einen Besuch ab.

Köhler: "Einen wunderschönen Guten Tag. Hier kommt der literarische Notdienst."
"Wie steht es mit Ihrem weißen Blatt?"

Aselmeyer: "Ja, so weiß ist es nicht mehr, also es sind schon einige Notizen oder einige Begebenheiten notiert und zwar war das sehr hilfreich, dass Sie gesagt haben, Chaos darf sein. Das Chaos, also was einem einfällt, nicht chronologisch unbedingt vorgehen wollen, den Zwang sich nicht anzutun, sondern das, was gerade im Moment anliegt. Das war für mich also wie ein Schlüssel. Es war hilfreich und ich empfinde das jetzt so, dass es so sein wird wie ein Mosaik, dass ich einzelne Dinge notiere oder aufschreibe und dann, auch wenn ich jetzt mal zurückblättere und darin lese, dass ich denke, ja, das ist noch ein Steinchen dazu. ... Und das war ja auch der Grund eigentlich, dass ich schauen wollte, was war eigentlich in meinem Leben? Was hat mein Leben ausgemacht? Oder ist überhaupt was Bemerkenswertes gewesen in meinem Leben? Weil ich bin so ungefähr, ja, ich bin kurz vor der Rente und da kamen schon Dinge hoch, wo ich denke, das soll alles gewesen sein?"

Hedwig Aselmeyer sitzt am schön gedeckten Kaffeetisch in ihrem geräumigen, hellen Wohnzimmer, das den Blick in einen kleinen Garten frei gibt. Vor ihr liegen drei Kieselsteine. Sie sollen ihrer Erinnerung auf die Sprünge helfen. Auf diese Idee ist Jo Köhler gekommen.

Köhler: "Einmal geht es ... darum, Barrieren, Hemmschwellen, Konditionierungen, die Scheren im Kopf, nicht nur im Kopf, im Bauch, im Herzen, in allen möglichen Teilen des Daseins, zu lösen, in dem wir erst mal vom Schreiben ganz wegkommen und ein Objekt der Inspiration suchen, also ein Ding. Irgendetwas, was für den einzelnen ... Teilnehmer repräsentativ ist für das Thema, was ihn umtreibt. ... Das ist ... ein Schlüssel, um überhaupt an diesen Stoff ranzukommen."

So ein "Objekt der Inspiration" kann ein Sahnekännchen sein, ein altes Foto oder eine Topfpflanze. Es kommt allein darauf an, was es dem schreibwilligen Besitzer bedeutet.

Köhler: "Sie hatten als "Objekt der Inspiration" einen Stein oder mehrere Steine, so große Kieselsteine, wofür stehen die?"

Aselmeyer: "Ja und ich wusste auch nicht, wofür die stehen, aber ich war jetzt unterwegs und habe eine Bekannte besucht, mit der ich vor 40 Jahren zusammen in einer Großküche gearbeitet habe und wir hatten nichts voneinander gehört in den 40 Jahren. Die hat mich gefunden und ... sie kam auch aus der ländlichen Gegend, so wie ich, wo es viele Steine und viele Findlinge und Kieselsteine gibt. Und da muss ich sagen, da haben wir festgestellt, dass wir doch beide dadurch sehr geprägt sind. Wir hatten also viele Erlebnisse und es kamen viele Erinnerungen hoch aus der Kindheit und ich dachte, diese Ruhe und die Verbundenheit mit der Natur, dass dies doch etwas ist, was mich auch irgendwie immer getragen hat in meinem Leben und was ich auch immer wieder gesucht habe."

Hedwig Aselmeyer ist als Älteste von neun Kindern in Südoldenburg aufgewachsen. Ihre Eltern führten einen kleinen landwirtschaftlichen Betrieb. 1972 zog sie nach Hildesheim. Hier ist sie als Sozialarbeiterin in der Beratung chronisch Kranker tätig. Sie ist verheiratet und hat einen erwachsenen Sohn. Für ihre Lebenserinnerungen hat sie jedoch keinen speziellen Adressaten im Hinterkopf.

Aselmeyer: "Schreiben ist für mich etwas, was meine Not wendet, was notwendig ist im Moment für mich. Es ist ein Gespräch mit Teilen meiner Persönlichkeit, die ich bisher zu wenig beachtet habe."

"... Also der Anlass ist wirklich "only for me", weil ich mir das selber wert bin oder ... weil ich selber mein Leben runden will und mit meinem Leben zufrieden sein will und was da noch kommt, das weiß ich nicht. Ich denke, ich habe ja auch noch einige Jahre vor mir und da kann es auch sein, dass ich einige Passagen oder eben besondere Ereignisse auch mal in eine Form bringe, wo ich sage: "Die kann jeder lesen."

Menke: "Ihr Leben in grauer Dunkelheit war sicher unendlich schwer. 006, 00.01 Sie hat ihr Leben gelebt, wie es ihr bestimmt war und nie gefragt: "Warum gerade ich?" Aus ihrer Zufriedenheit schöpfte sie die Kraft, ihr Leben anzunehmen. Ich habe viel von ihr gelernt, von Anna Sandvoß."

Teilnehmerin: "Wenn Sie das noch mit ein paar Wörtern, kleinen Sätzen, dann würde das längst nicht so wirken, da ist diese Verpackung wichtig."

Menke: "Ja, ich denke auch, weil, ich will das ja auch für mein Großkind aufschreiben, die muss ja wissen, wie das so damals war."

Frau: "Aber sie haben viel gelernt von ihrer Großtante, nicht? Ja."

Die zehn Frauen und zwei Männer sitzen wieder um den großen Tisch im Mehrgenerationenhaus in Hildesheim und sprechen mit Jo Köhler über ihre Texte.

Köhler: ""Sie hat sicherlich oder hat ... wahrscheinlich ein schweres Leben gehabt." Kann ich erst mal nichts mit anfangen, weil ich nicht weiß, was heißt das für sie. Was heißt das für sie in ihrem Leben, ihrem Schicksal, ihrer Zeit, in ihrem Milieu, in ihrer Lebenssituationen - ein schweres Leben? Das würde dann interessant sein, das zu erzählen, was ist das?"

Jo Köhler sitzt wieder in seinem Literaturbüro, eine Zigarette zwischen die Lippen geklemmt. Welche Rolle spielt der Mensch bzw. Dichter Köhler, wenn er sich mit den Lebenserinnerungen seiner Kursteilnehmer befasst?

Köhler: "Ich bin kein Lehrer. Ich ... sehe mich nicht als Dozent, sondern eher als Scout, als Bergführer, als Begleiter, der nicht den anderen zeigt, ... wo es langgeht, sondern ... für die anderen da ist, um ihnen dabei zu helfen, ihren eigenen, jeder muss da seinen eigenen Weg finden, seine eigene Sprache finden, die eigene Form finden."

Hausbesuch. Jo Köhler ist als literarischer Helfer in der Not unterwegs zu Gudrun Menke.

Gudrun Menke ist eine vitale Frau. Sie ist Mitte 60, zum dritten Mal verheiratet und lebt in einem geräumigen Haus etwas außerhalb von Hildesheim. Für sie hat das Schreiben auch eine therapeutische Komponente.

Menke: "Mein erster Mann wurde dann Alkoholiker und hat sich auch selbst aus dem Leben verabschiedet und alles, was da so spielt, das war nicht so ganz schön und ich will dann aber doch versuchen, bei der Wahrheit zu bleiben. Ich habe also lange überlegt. Auch mein zweiter Mann, mit dem war ich dann nur 3 ½ Jahre verheiratet, wir haben aber länger zusammen in Westfalen gelebt, der ist dann morgens mal weggefahren und nicht wieder nach Hause gekommen mit dem Fahrrad und wurde erst nach sieben Monaten gefunden."

Anfang 2008 hat die Mutter zweier Kinder den schwersten Schicksalsschlag erfahren: Ihre Tochter ist mit 40 Jahren an einem Krebsleiden verstorben. Sie hinterließ ihren Ehemann und ihre zwölfjährige Tochter.

Menke: "Man denkt ja immer, oh, du hast ja noch so viel Zeit, das kannst du noch immer machen und eigentlich erst seit dem Tod meiner Tochter, ist mir bewusster geworden, auch du hast nicht mehr so viel Zeit und wenn du das jetzt noch tun willst, dann musst du es jetzt tun ... und du musst dich auch intensiver damit beschäftigen und da dran setzen und auch eben mal dieses Konzept haben. Darum bin ich ja auch noch mal zu Ihnen in die Schreibwerkstatt gekommen, um für mich selber ein Gerüst aufzubauen. Wie fange ich das an?"

Köhler: "Durch das Schreiben, erfährt es eine Veränderung für Sie? Oder was macht das mit Ihnen, wenn Sie jetzt den Inhalt der Geschichte zu Papier bringen?"

Menke: "Bei manchen Dingen, die ich das erste Mal aufschreibe, ist es natürlich eine gewisse Erleichterung und auch wieder Auseinandersetzung damit und es wird mir dann auch beim Schreiben einiges klar, was ich vorher vielleicht auch ein bisschen verdrängt habe. Es ist ja auch so, wenn man jünger ist… ich war immer voll berufstätig, hatte zwei Kinder, dann hat man gar nicht so viel Zeit, sich im Alltag damit zu befassen, warum ist das jetzt so, sondern man hat immer nur das Gefühl, du musst jetzt, du musst jetzt deine Kinder ernähren, die sind in der Ausbildung, du musst deinen Job verändern, dass du so viel verdienst, dass du ihnen die Wohnung zahlen kannst. Da ist man mit diesem Leben so beschäftigt, dass es jetzt erst seit ich Rentnerin bin, dass ich mich da mehr damit auseinandersetze, weil ich die Zeit dazu habe."

Zu Beginn des Kurses war Gudrun Menke enttäuscht. Sie hatte etwas anderes erwartet.

Menke: "Ich habe gedacht, jetzt gehst du da hin und dann sagt der gute Herr Köhler, den ich ja vorher noch nicht kannte, ich wusste auch nicht, dass der noch so jugendlich ist."

Köhler: "Ah, das höre ich gern."

Menke: "Ja, ... Sie sind ja in dem Alter, dass ich Sie adoptieren könnte. Und der sagt: "Jetzt setz dich hin und dann machst du das so und so und so und so." Das hat der (...) natürlich nicht gemacht, aber er hat uns dort so eine Richtung aufgezeigt, wie wir das anfassen können oder müssen und jeder kann es jetzt auch für sich entscheiden."

Drei Monate dauert der Kurs Lebenserinnerungen, den Jo Köhler in Zusammenarbeit mit der Hildesheimer Volkshochschule anbietet. Doch er steht seinen Schützlingen auch darüber hinaus mit Rat und Tat zur Verfügung. In einem eigens dafür geschaffenen Internetportal können die Teilnehmer ihre Texte auch veröffentlichen. Jo Köhler schwebt ein riesiges Archiv der Lebenserinnerungen vor mit Bildern und Geschichten. Der jeweilige Mensch bzw. Dichter wird dabei immer im Fokus seines Interesses stehen.

Köhler: "Geschriebene Biografien gibt es wie Sand am Meer und Ghostwriter, die das ... für wenig oder vor allen Dingen für mehr Geld machen. ... Aber die Auseinandersetzung, die schreibende Auseinandersetzung mit seinem Leben und seinem Schicksal, ist doch ... anders angelegt, hat eine andere Breite und Tiefe, ist eine Entdeckungsreise nach innen für die Teilnehmer, für die Autoren, die daran arbeiten. Unabhängig davon, ob das alles zu grandiosen literarischen Erzeugnissen führt, hat es für die in jedem Fall ... erst mal eine große Bedeutung, sich auf diese Reise zu machen."