Schreibtischtäter im Kuhstall

Joachim Scholl im Gespräch mit Barbara Bollwahn und Moritz von Uslar · 08.12.2010
Ein "Reporter mit Hut" und eine "Dorfschreiberin". Der eine unterwegs in der Kleinstadt Zehdenick in Brandenburg, die andere zu Gast in Schollach im Schwarzwald. Die Schriftsteller Moritz von Uslar und Barbara Bollwahn sind raus aufs Land gezogen.
Joachim Scholl: Sein Buch "Deutschboden" hat viel Resonanz erzeugt: Nach 20 Jahren deutscher Einheit hat der Wessi und in Berlin lebende Moritz von Uslar das Ost-Experiment gewagt – drei Monate Brandenburg. Viel, viel weiter weg hat sich die Berliner Journalistin und Jugendbuchautorin Barbara Bollmann gewagt: Die gebürtige Sächsin war ebenfalls drei Monate als Dorfschreiberin im Schwarzwald. Beide sind zu uns ins Studio gekommen. Willkommen im "Radiofeuilleton"!

Barbara Bollwahn: Hallo!

Moritz von Uslar: Guten Tag, hallo!

Scholl: Schollach im Hochschwarzwald, Zehdenick in Brandenburg – das waren die Orte. Wie hat Sie es, Frau Bollwahn, in solch tiefen Südwesten verschlagen?

Bollwahn: Das war eher Zufall. Ich las eine Ausschreibung, dass es ein Stipendium als Dorfschreiber im Hochschwarzwald gibt. Dann hat mich das sofort interessiert. Ich kannte den Schwarzwald außer zwei, drei Klischees … die Kuckucksuhren, die Schwarzwälder Kirschtorte, viel mehr kannte ich nicht. Und die zwei Sachen reichten, um mein Interesse so zu wecken, dass ich mich da sofort dafür beworben habe.

Scholl: Und hat es geklappt?

Bollwahn: Nicht beim ersten Mal, da war ich ziemlich konsterniert, weil ich habe mich ein bisschen schlau gemacht über die ersten beiden Dorfschreiber. Das heißt, das Stipendium gab es noch nicht so lange. Und die ersten beiden Dorfschreiber sind wohl in der Bevölkerung dann nicht so gut angekommen, weil die sich eigentlich nirgendwo haben blicken lassen. Die saßen da in ihrem Zimmerchen, und die Bauern konnten damit gar nichts anfangen, weil sie die gar nicht gesehen haben.

Und dann habe ich also eine ganz flotte Bewerbung geschrieben, was ich da alles machen will, und war ganz sicher: Ich kriege das – und bekam es dann nicht, und habe dann eine Mail geschrieben, wo ich wissen wollte, wer denn das Rennen gemacht hat, und habe dann den Verein wissen lassen, ich werde mich noch mal bewerben.

Die Beharrlichkeit hat die wohl beeindruckt. Und dann gab es aber ein Telefonat, wo ich ganz schnell gemerkt habe, 19 Jahre nach dem Mauerfall: Die haben jetzt ein bisschen Bedenken, da kommt jetzt eine aus dem Osten. 'War die in der Partei? Und war die vielleicht noch bei der Stasi?' Und da hat mich das natürlich noch mehr interessiert, weil ich mir dachte, wo leben die denn? Und beim zweiten Mal hat es geklappt.

Scholl: Und Sie, Herr Uslar, Sie mussten sich nicht bewerben, Sie sind einfach nach Zehdenick in Brandenburg gefahren. Wie kamen Sie denn auf diese Stadt, diese Kleinstadt?

von Uslar: Ja, ich habe mich natürlich da nicht beworben, genau, sondern ich bin einfach da so hingegondelt und da so hängengeblieben. Und in die Kleinstadt kam ich genauso zufällig wie die Städte, in denen ich vorher war – ich bin wirklich so vier, fünf Wochen herumgegondelt, rumgefahren, rumgetastet, und eines Abends dann in diese Stadt reingefahren, und dachte, jawohl, hier geht's.

Scholl: In Ihrem vielbesprochenen Buch "Deutschboden" kann man lesen, dass es für den ein wenig mondän wirkenden Wessi von Uslar – elegant, mit Hut – so in der Kleinstadt Zehdenick ja doch nicht so leicht war, Fuß zu fassen. Wie und wann brach denn das Eis?

von Uslar: Das geht wirklich Schritt für Schritt, zunächst mal zu meiner Beschreibung hier, mondän und mit Hut – ich sehe natürlich genauso dumm oder toll aus wie die Leute, die da rumstehen, auch nicht so viel anders. Den Hut habe ich mir tatsächlich ausgesucht, um sozusagen so ein Erkennungsmerkmal als Reporter, ein klischeehaftes, mitzubringen. Das ist also sozusagen eine Freude, die für den Text gleich da war, dass man da so eine Figur hochfährt.

Und ansonsten, das sogenannte Eis brach langsam und stetig, indem ich eben einfach fortgesetzt mich zur Verfügung stellte, also nicht wegging oder immer wiederkam. Also man trinkt eben ein Bier und dann ist der Trick, dass man noch eins trinkt. Und dann ist der nächste Trick, dass man noch ein Bier länger bleibt und noch mal fünf Minuten länger bleibt, und am nächsten Tag wiederkommt, also sozusagen sich in die Normalität, den Alltag reinstellen.

Scholl: Und wie war das bei Ihnen, Frau Bollwahn? Wie haben denn dann die Schwarzwälder der Roten aus dem Osten, ja, wie sind sie Ihnen begegnet?

Bollwahn: Am Anfang so, wie ich das eigentlich erwartet habe, mit einer großen Zurückhaltung einerseits, andererseits mit einer unglaublich großen Freundlichkeit. Aber es war auch schon viel Skepsis dabei, so nach dem Motto: 'Was will denn die hier?' Weil da waren ja ein paar Sachen, die für die Leute glaube ich so auf einmal ein bisschen viel waren, also einmal: 'Ja, da kommt jetzt eine Journalistin aus der Hauptstadt, dann ist die auch noch aus dem Osten, und was will denn die hier?'

Dann habe ich die am Anfang vielleicht ein bisschen überfordert, weil ich im Unterschied zu Herrn von Uslar die Leute geradezu mit Fragen überrannt habe. Also was ich von früh bis abends wollte, ich habe denen Löcher in den Bauch gefragt. Und es gibt im Alemannischen, was ja da gesprochen wird, auch so wunderbare Wörter - Sie arbeiten ja in dem Buch auch mit der Sprache, dem knallharten Brandenburgisch - gibt es da eben das Alemannische, und da gibt es so schöne Worte wie "wunderfitzig". Das war dann mein Lieblingswort, wunderfitzig heißt neugierig, das heißt, ich war neugierig noch und nöcher.

Und bis die Leute sich aber für mich und mein ganz anderes Leben in Berlin interessiert haben, das hat in der Tat gedauert, aber es war ähnlich auch, in der Kneipe, mehr Schnaps als Bier, und dann aber auf dem Hof, also wirklich auf dem Hof, den Schweinestall entmisten, bei der Kuhgeburt dabei sein, mit dem Bauer auf die Jagd gehen, zur Freiwilligen Feuerwehr zu gehen – das hat dann die Leute doch beeindruckt, weil sie gemerkt haben, die interessiert sich für das, was wir hier machen, und will auch daran wirklich so teilhaben.

von Uslar: Ja, ich glaube ja auf eine Art … ich finde, das klingt großartig und auch spannend. Für mich war es nicht möglich, weil ich sozusagen an dieser Art von Recherche gar nicht glaube, und eben auch letztlich ja an das Fragen nicht glaube, weil ich eben sozusagen die Erfahrung gemacht habe oder vielleicht auch eher so die romantische Idee habe und hatte und diese überprüft habe, dass sozusagen die tollsten Antworten und Geschichten kommen, wenn man eben nicht fragt, sondern wenn man einfach da ist und wartet und plaudern, plappern, rumfaseln lässt. Also das war immer, wie gesagt, die Idee, dass da sozusagen mit der Zeit tolle Sachen kommen.

Scholl: Osten im Westen und umgekehrt, hier im Deutschlandradio Kultur sind die Schrifsteller Barbara Bollwahn und Moritz von Uslar zu Besuch. Beide sind sie an die Orte zurückgekehrt, und wie man hört, beide im Triumph. Frau Bollwahn, die "Badische Zeitung" schrieb über Sie "die Schriftstellerin der Herzen" – es muss eine fulminante Lesung in Schollach gewesen sein.

Bollwahn: "Die Dorfschreiberin der Herzen", das war aber in der Tat, es hat mich unglaublich gerührt, und spannend ist ja in der Tat: Man ist eine gewisse Zeit vor Ort, die Leute wissen auch, dass man das in irgendeiner Art literarisch verarbeitet, und dann ist man natürlich selbst gespannt. Kommt jetzt jemand zu der Lesung? Und das auch noch jetzt wirklich so auf dem Land, wo der Alltag einfach geprägt ist von der Arbeit auf dem Feld, im Stall, im Wald, und die Leute jetzt nicht von früh bis abends Bücher lesen.

Und dann fand ich das schon sehr bemerkenswert, dass die Dorfkneipe – da fand die Lesung dann statt –, die platzte aus allen Nähten. Ich habe noch nie so viele Autos davor parken sehen. Und viele Leute, die sonst wirklich nicht lesen und selbst Leute, die sonst so … die letzten übrig gebliebenen Junggesellen, die man nur vom Stammtisch kennt, die waren rausgeputzt wie zur eigenen Hochzeit. Und das hat mich schon unglaublich gerührt, dass die Leute sich wirklich dafür interessiert haben, und ja, die Titulierung dann, "Dorfschreiberin der Herzen", was will man mehr.

Scholl: Da hat man wahrscheinlich auch das Gefühl, das man in der Großstadt schon längst nicht mehr hat, wenn man da eine Lesung macht, ist man froh, wenn es mal zehn oder 15 Leute sind, wenn man jetzt nicht sehr berühmt ist. Und dort zählt der Schriftsteller wahrscheinlich dann auch wirklich noch was. Sie waren ähnlich gerührt, Moritz von Uslar, …

von Uslar: Absolut, absolut gerührt.

Scholl: … als Sie in Zehdenick erstmals gelesen haben. Sie mussten gleich in die örtliche Kegelbahn.

von Uslar: Ja, wir sind dann umgezogen, die Veranstaltung zog um von einem Lokal erst mal, eine so Hochkulturstätte namens "Klosterscheune" genannt, und dann amtlicherweise ins Bowlingcenter. Und es stimmt, es war eine ergreifende Veranstaltung und für mich eine besondere Veranstaltung, weil es natürlich nicht absehbar ist, was passiert, wenn man den Text, der dort an einem Ort spielt, dann den Leuten wieder vorliest, also sozusagen wenn die Beobachteten dort hinkommen. Und ich hatte fast den Eindruck, da fehlte fast so ein Widerspruch. Die Leute, die da zuhörten, wollten das Buch plötzlich ganz doll verteidigen, bloß der Angriff war nicht da.

Scholl: Die waren stolz jetzt plötzlich, dass Sie über sie geschrieben haben.

von Uslar: Ja, es gibt sicherlich so eine Ehrfurcht noch vor einem Schreiber. In dem Fall war ich eigentlich nicht von der Ehrfurcht gerührt, das kann ja auch unangenehm sein, sondern eben wirklich, ja, von so einer Herzlichkeit. Die sind hier am Ende, was ja noch kein Kriterium ist für ein gutes Buch, kein Zeichen ist für ein gutes Buch, sehr einverstanden gewesen.

Scholl: Witzigerweise hat diesen Auftritt von Ihnen, Herr von Uslar, Barbara Bollwahn als abgesandte Journalistin selbst beobachtet und beschrieben. Wie fanden Sie denn diese Stimmung da in der Kegelbahn, im Bowlingcenter?

Bollwahn: Also mich hat es natürlich stark an meine Zeit im Schwarzwald erinnert, auch wenn es in der Tat eine Reihe von Unterschieden gibt. Ein Punkt, da will ich aber doch noch mal widersprechen, weil Sie vorhin sagten, die spannendsten Geschichten würden dann rauskommen, wenn man eigentlich nichts fragt – das sehen Sie vielleicht so, ich würde das anders sehen. Wir könnten jetzt einen Vergleich aufmachen, was haben Sie Spannenderes rausgekriegt oder ich? Ich glaube, das Ergebnis ist sehr ähnlich: Es sind jeweils sehr spannende Sachen rausgekommen. Aber ich habe gefragt, Sie nicht. Aber mich hat das sehr erinnert eben dann auch an meine Rückkehr und …

von Uslar: Ja, bei mir, Frau Bollwahn, war ja irgendwie … genau vergleichen ist vielleicht ganz sinnlos, sondern eher so, wie wir es jetzt machen, dass man halt so ein bisschen erzählt, wie könnte das denn gehen und wie ging es denn? Und bei mir war eben damit auch die Idee verbunden, dass man eben auch wirklich mal den Mund hält, also dass man so runterfährt und langsam so ins Schweigen sinkt. Und aus so einer Dummheit raus, aus einer Schlierigkeit raus irgendwie zu der nächsten Wahrheit und dann zum Text kommt. So war die Idee.

Bollwahn: Finde ich auch durchaus originell, aber ich befürchte, wenn ich das im Schwarzwald gemacht hätte, weil die Leute doch da sehr verschlossen sind, dann würden wir heute glaube ich noch schweigend dasitzen.

Scholl: Was würden Sie denn sagen, jetzt ist die Zeit ja schon ein bisschen verstrichen, seitdem Sie da gelebt haben – an was erinnern Sie sich am liebsten, oder pathetischer gesprochen, was haben Sie denn aus diesen drei Monaten gewonnen für sich?

Bollwahn: Gewonnen – also ich weiß gar nicht, wo ich da anfangen soll, also zum einen sind das unvergessliche Erfahrungen, die ich in Berlin niemals hätte machen können. Also in Berlin kann ich nicht bei einer Geburt von einem Kälbchen dabei sein und meinen Arm bis über den Ellbogen in die Kuh reinstecken, weil der Bauer es lustig findet, mich da zu provozieren und jetzt, mal gucken, was kann denn die Frau aus der Stadt. Und natürlich habe ich das gemacht, aber das war so ein Punkt, wo das Eis dann definitiv gebrochen war.

Das hat ihn so beeindruckt, und dann durfte ich mit dem auf die Jagd gehen, und dann schießt man da einen Rehbock, dann wird der Rehbock aufgebrochen, dann isst man die Leber und das Herz – das sind alles Sachen, die unvergesslich sind, bis hin wo ich wieder gerührt war, dass dieses Kälbchen, was ich mit zur Welt gebracht habe, … normalerweise verkauft der Bauer die Kälbchen, dieses Kälbchen hat er nicht nur behalten, er hat dem Kälbchen sogar einen Namen gegeben, jetzt dürfen Sie drei Mal raten, wie die Kuh heißt. Jetzt steht da die Kuh Barbara auf der Wiese.

Scholl: Die Barbara.

von Uslar: Die Barbara, eine Kuh namens Barbara.

Scholl: Das sind jetzt wirklich grundstürzende Erfahrungen, Frau Bollwahn, ich hatte mehr so ein wenig pathetischer in Richtung deutsch-deutscher Verständigung gefragt. Gäbe es denn da was, Moritz von Uslar, wo Sie sagen, also 20 Jahre Einheit, ich bin da hingefahren, habe drei Monate gelebt und jetzt habe ich einen anderen Blick?

von Uslar: Sicherlich, absolut. Es sind dann abstrus klingende Details, die man lernt, zum Beispiel, dass das Bier angeblich zu Zeiten der DDR lauwarm auf Zimmertemperatur getrunken wurde. Dann widerspricht natürlich der DDR-ler sofort und sagt, was für ein Quatsch. Also das wirkt so ein wenig beliebig und ist trotzdem hochinteressant.

Was ich eigentlich da rausgezogen habe ganz simpel, ist erstens das Buch. Darum ging's. Ein Buch fertigzustellen. Und dann, wenn man so eine Erfahrung benennen möchte, dann würde ich schon sagen – und das klingt pathetisch, aber ist trotzdem wahr –, würde ich sagen: Es ist möglich, zu dem Fremden dort hinzugehen und guten Tag zu sagen und ein Bier zu trinken. Das fand ich sozusagen eine neue Erfahrung, dass man einfach hallo sagen kann. Und das ist schön, das bestärkt die, wie soll man sagen, nicht zynischen Kräfte.

Scholl: Moritz von Uslar, Barbara Bollwahn – herzlichen Dank für Ihren Besuch! Moritz von Uslars Buch "Deutschboden" ist im Kiepenheuer-&-Witsch-Verlag erschienen. Barbara Bollwahn hat ihre Erlebnisse in dem Jugendroman "Das Durcheinander, das sich Leben nennt" verarbeitet, und dieses Buch ist im Verlag Thienemann veröffentlicht. Schön, dass Sie da waren!

von Uslar: Danke!

Bollwahn: Dankeschön!