Schreibtisch aus kulturhistorischer Sicht

Das Karlsruher ZKM zeigt den Schreibtisch aus kulturhistorischer und medienwissenschaftlicher Perspektive. Die Schau stellt die Bedeutung des Schreibtischs dar - und geht bis ins 18. Jahrhundert zurück.
Das Elend ist bekannt und trotzdem exorbitant. Es äußert sich in Bandscheibenbeschwerden, Fettleibigkeit und Plattfüßen, und es hat eine unbezweifelbare, klar zu benennende Ursache: die sogenannte sitzende Tätigkeit des modernen Menschen. Oder kürzer gesagt: der Schreibtisch.

Viele von uns sitzen längere Zeit am Schreibtisch, als sie im Bett liegen oder sich irgendwo sonst aufhalten. Insofern ist der Schreibtisch mehr als ein Arbeitsplatz; er ist Denkbild und Lebensform, und es mutet geradezu unglaublich an, daß es noch relativ wenige kulturgeschichtliche Untersuchungen über den Schreibtisch als solchen und offenbar noch gar keine Ausstellung gibt.

Der Medienwissenschaftler Thomas Hensel von der Universität Siegen betritt also nicht nur ein herrlich frisches Forschungsfeld, er bringt auch gleich den Ansatz mit, der das Thema mit dem Karlsruher Zentrum für Kunst und Medientechnologie verbindet:

"Der Schreibtisch ist im Grunde genommen das Medium, das schwer faßliche soziale Prozesse zu verwandeln vermag in formalisierte, operationalisierte Daten. Und es gibt keinen Lebensbereich, bezogen auf die Gesellschaft oder auf unser eigenes, persönliches Dasein, der jenseits des Schreibtisches funktionieren würde."

Egal, ob Steuererklärung oder Liebesbrief, ob Geburtsurkunde oder Gerichtsurteil, ob Jahrhundertroman oder Fünfjahresplan – alles entsteht auf Schreibtischen.

Hensel: "Insofern ist der Schreibtisch zu denken als eine Relaisstation aller Informationsströme, die wir da uns denken können, aber auch natürlich als ein Schnittpunkt für diverse Kommunikationstechnologien - auch alle die strömen ja auf dem Schreibtisch zusammen und strahlen von ihm wiederum aus."

Schließlich steht auf fast jedem Schreibtisch auch ein Telefon, und heutzutage sind Hochgeschwindigkeitsverbindungen für den Computer selbstverständlich. Der Schreibtisch ist aber nicht nur Kommunikationszentrale im technologischen Sinn, sondern auch der Ort, an dem von Angesicht zu Angesicht verhandelt wird. Dann dient er zugleich als Monument der Macht, deren Verteilung man schon daran erkennen kann, wer hinter ihm sitzt und wer davor. Was zum Beispiel sah man auf dem ersten offiziellen Bild von Barack Obama nach dem Amtsantritt? Den Präsidenten hinter seinem Schreibtisch im Oval Office.

Schon im 18. Jahrhundert – die Karlsruher Ausstellung weist mit einem Video darauf hin – haben die Kunstschreiner Abraham und David Röntgen europäische Königs- und Fürstenhäuser mit raffinierten Schreibtischen beliefert, die den ganzen Staatsapparat als Abbild in sich trugen.

Hensel: "Das hat man sich so vorzustellen, daß diese Schreibtische einerseits überzogen waren mit einem imperialen Bildprogramm, da wurden also dann diverse Götterstatuen und Herrscherikonographien aufgefahren, andererseits aber waren diese Schreibtische auch tatsächlich gebildet wie kleine Paläste en miniature.

Dann waren in diese Schreibtische der Röntgen-Manufaktur komplizierte Maschinen integriert, Uhrwerke, die in dieser Zeit – also wir sind im 18. Jahrhundert – immer auch als Metaphern gelesen wurden für den Staatsapparat. Das heißt, das reibungslose Ineinandergreifen dieser einzelnen feinmechanischen Teile symbolisierte das perfekte Funktionieren des Staatswesens."

Doch der Schreibtisch symbolisiert nicht nur Regierung und Verwaltung, er ist auch nicht bloß ein Design-Ding oder ein Inbegriff bürokratischen Schubladen-Denkens. Jede Ausstellung zu diesem Thema wäre unvollständig ohne den Blick auf das eigentliche, das literarische Schreiben.

Als Ort des Leidens und der Triumphe eines jeden Schriftstellers wird der Schreibtisch zum Kultobjekt par excellence – nicht nur für das verehrungsvolle Publikum, das von jedem lebenden Dichter wissen möchte, wie und wo er schreibt, und von jedem toten Dichter im Museum als erstes nach dem Schreibtisch sucht, sondern auch für die Autoren selber:

Hensel: "Wir kennen das bei Kafka, wir kennen es von Arno Schmidt, wir kennen das von vielen anderen, die den Schreibtisch immer wieder reflektieren, einbauen, um sich vielleicht selbst zu stilisieren als Schriftstellerinnen und Schriftsteller oder aber um an den Schreibtisch eine poetologische Reflexion über die Möglichkeitsbedingungen des eigenen Schreibens zu knüpfen."