"Schreiben hat mir meine Eltern zurückgebracht"

Von Barbara Dobrick |
Als kleiner Junge wird Erwin Appelfeld von den Nazis verschleppt, seine Mutter wird ermordet, seinen Vater verliert er aus den Augen. Appelfeld überlebt den Naziterror bei einer kriminellen Bande. Seinen Vater sieht der Schriftsteller in den 60er Jahren in Israel wieder.
"Musik, Literatur, Theater, Kino – das war der göttliche Raum meiner Eltern. Sie waren assimilierte Juden. Sie haben sich gesehen als Europäer. Wenn ich fragte als Kind, was das Judentum, was das bedeutet, haben sie mir gesagt: Das ist ein Anachronismus, eine alte Sache."

Aharon Appelfeld lächelt. Er ist ein kleiner, überaus freundlicher alter Herr, der sein Gegenüber aufmerksam betrachtet. Geboren wurde er 1932 als Erwin Appelfeld in Czernowitz, das damals rumänisch war und heute Teil der Ukraine ist.

Czernowitz in der Bukowina hatte fast 170 Jahre zu Österreich gehört und war stark von den Juden geprägt, die dort lebten. Heute würde man sagen, die Gesellschaft war multikulturell. Es wurde Jiddisch gesprochen und Deutsch, Ruthenisch und Russisch.
Die Appelfelds sprachen Deutsch und verehrten die deutsche Sprache und Literatur, die deutsche Musik auf geradezu religiöse Weise.

Nach dem Einmarsch der Deutschen 1940 wurden Aharon Appelfelds Mutter und Großmutter erschossen. Den Junge und seinen Vater zwang man in einem mehr als zwei Monate dauernden Marsch in ein Ghetto. Dort verlor der Junge seinen Vater.

"Ich war allein. Mein Vater hat man irgendwo in ein anderes Lager genommen, und ich bin allein geblieben, ohne Vater und ohne Mutter. Meine Mutter war ermordet. Ich war in einem Wald. Ich bin weg in einen Wald, und dann hat mich eine kriminelle Gruppe adoptiert. Und ich war mit denen. Die Schlechten waren gut mit mir."

Psychologen sagen, Kinder verinnerlichen ihre Eltern. Und genau das beschreibt Appelfeld in seinem autobiografischen Buch "Geschichte eines Lebens".

"Sie waren mit mir. Sie waren immer mit mir. Ich habe mit denen immer ein Gespräch gehabt und habe immer gesagt zu mir, sie haben mich nicht verlassen. Sie kommen. Ich muss warten, sie werden kommen. Und ich warte – bis heute."

Der Junge machte sich nützlich bei Räubern und Prostituierten. Dafür bekam er zu essen. Er passte sich an, war aufmerksam und still.

"Meine Freunde waren Hunde, Pferde. Das waren meine Freunde. Ich konnte mit ihnen sprechen. Und ich liebte sie. Und sie liebten mich. So dass durch den Krieg waren die Tiere meine Freunde, nicht Menschen. Mit Menschen habe ich nicht gesprochen. Ich habe Angst gehabt, dass, wenn ich spreche, werden sie rausfinden, dass ich Jude bin. Nach dem Krieg war ich stumm. Es war mir sehr schwer zu kommunizieren mit Leuten. Das war mir sehr, sehr schwer. Ich konnte nicht sprechen. Und alle Leute irgendwo, ich wusste nicht, kann ich ihnen glauben, sind sie ehrliche Leute, sind sie gute Leute, auch zwischen den Juden."

Nach dem Krieg lag eine gefährliche Odyssee hinter dem nun 13-Jährigen, und vor ihm lag ein neues, ein ganz anderes Leben in Palästina, in Israel. Ein Jahr nur war Appelfeld in Czernowitz zur Schule gegangen. Dann hatte er nur noch lernen können, unter schwierigsten Bedingungen zu überleben.

"Das Ziel war Bauer zu werden. Aber nach ein paar Jahren und nach dem Militär – ich war drei Jahre im Militär – ich spürte, dass ich will lernen. Ich erinnerte mich an unsere Bibliothek, große Bibliothek. In jedem Zimmer war ein Schrank mit Büchern. Und ich wollte wie mein Vater sein und wie meine Mutter und begann zu lesen."

Als Aharon Appelfeld Hebräisch gelernt hatte, holte er zielstrebig die im Krieg unmögliche Schulbildung nach. Und dann begann er zu studieren.

"Die hebräische Sprache hat mich Jude gemacht. Ich komme doch von einer sehr assimilierten Familie. Und die hebräischen Worte, speziell die Bibel, hat mich Jude gemacht. Das war und ist eine große Freude. Ein assimilierter Jude ist ein Jude ohne – er weiß nicht, wer er ist. Er fühlt sich deutsch, er fühlt sich russisch, aber er ist nicht russisch und nicht deutsch, er hat noch andere Gefühle. So dass ich in Israel, weil ich mich mit der Sprache verbunden habe, das heißt mit der ältesten, der tiefsten Sprache, das heißt Hebräisch. Und ich habe mich verbunden mit dem Judentum.

Ich bin kein Orthodoxer, aber ich habe religiöse Gefühle. Das heißt, ich habe ein Verständnis für religiöse Gefühle, und manchmal fühle ich es, wie ein religiöser Mensch. Das heißt, nicht nur mit Texten, sondern auch mit Musik. Ich mag sehr Bach, z.B. Ich höre sehr viel Bach. Fast jeden Tag höre ich Bach. Das hilft mir, mit meinen religiösen Gefühlen. Ich bin verbunden durch die Texte, durch das Gebet und durch die philosophischen und mystischen Texte, bin ich verbunden mit dem Judentum.

Und ich bin in meinem Leben wunderschönen Leuten begegnet. Dem Martin Buber, Professor Scholem. Die waren deutsche Juden, Professoren, die immigriert sind nach Israel, wurden in Israel Professoren in der Universität. Und sie waren meine Lehrer. Das heißt, hoch gebildete Leute. Und selbstverständlich waren sie irgendwo eine Opposition zu der normalen zionistischen Bewegung. Die normale zionistische Bewegung hat gesagt: Wir müssen Bauer werden. Wir müssen ein starkes Militär haben, sich zu verteidigen. Aber Buber und Scholem und andere Leute haben gesagt: Nein, wir müssen Juden sein. Wir müssen verstehen unsere Wurzeln."

Aharon Appelfeld ist in Israel Professor für hebräische Literatur geworden und selbst Schriftsteller – ein hebräisch schreibender Schriftsteller.

"Selbstverständlich, Deutsch ist irgendwo in mir geblieben. Auch die anderen Sprachen. Ein bisschen Russisch, ein bisschen Ruthenisch, ein bisschen Rumänisch, ein bisschen Jüdisch. Aber die Hauptsprache ist Hebräisch. Und ich erlaube mir nicht – nur Kafka – ich erlaube mir nicht, in anderen Sprachen zu lesen. Weil alle sind Konkurrenten. Alle sagen: Komm zu mir. Deutsch sagt: Warum hast du mich verlassen; das ist doch deine Muttersprache. Und Jiddisch sagt: Komm zu mir. Der Großvater hat Jiddisch. Und Ukrainisch sagt: Komm zu mir. Und Rumänisch sagt: Komm zu mir. Nein, ich kann mir das nicht erlauben. Du kannst sein ein Journalist und schreiben verschiedene Sprachen, aber ein Künstler kann nur in einer Sprache schreiben."

Aharon Appelfeld sagt, die Essenz der jüdischen Kultur sei der Text, nicht der Glaube. Es gehe darum, die Bibel und die Kommentare zu verstehen. Die jüdische Religion sei Arbeit am Text. Was könnte einem Schriftsteller gemäßer sein.

"Ja, das ist meine Religion. Das heißt: das Wort. Die jüdische Religion ist gebunden an einen Text. Es ist nicht magisch und nicht mystisch, sondern es ist irgendwo die Verbindung mit dem Wort. Was bedeutet dieses Wort? Ist es ein hohes Wort, ist es ein niedriges Wort? Ist es pathetisch? Ist es ein Camouflage-Wort? Das heißt, der jüdische Glauben ist eine permanente Schule für einen Schriftsteller, weil das heißt, du fragst: Was ist das? Was für eine Bedeutung? Gehörst du dazu, kannst du zu diesem Satz gehören, zu diesem Wort? Bist du ein Teil davon? Ich habe einige Schulen gehabt in meinem Leben. Der Krieg war eine große Schule für mich, und nachher die hebräische Sprache war eine große Schule. In der hebräischen Sprache haben wir noch etwas Mythologisches, das heißt Ur, Urgefühle, Ursprache. In der biblischen Sprache haben wir das Echo auf das Ur, ja, die Wunder, was ist das, erstaunt."

Religion spielt eine zentrale Rolle in seinem Werk. Rund vierzig Bücher übersetzt in über dreißig Sprachen haben Aharon Appelfeld zu einem international bekannten israelischen Schriftsteller gemacht. Er thematisiert das durch die Nazis vernichtete jüdische Leben in Osteuropa, die Shoah und die Nöte der Überlebenden.

Allerdings wollte im 1948 gegründeten Staat Israel zunächst niemand etwas über die Shoah hören. Im Gegenteil. Nur die Zukunft zählte, der Aufbau des Landes und die Fähigkeit, es zu verteidigen. Appelfeld hält sich für einen typischen Israeli, aber literarisch wurde er zum Außenseiter, denn seine Romane handeln überwiegend von Europa, von der Welt seiner Kindheit. Er hat immer gewusst, dass es keine Gegenwart und keine Zukunft gibt, wenn man versucht, die Vergangenheit abzuschneiden.

"Ich konnte sie nicht abschneiden. Ich suchte meine Eltern. Ich war Waise. Und mein Schreiben hat mir meine Eltern zurückgebracht. Sie sind lebendig geworden. Ich begann sie zu sehen und zu spüren. Meine Großeltern und alle Onkel und Tanten und Cousinen. Meine Familie, meine Stadt, meine Gasse, das Haus. Das alles kam zu mir. Und ich wollte das. Ich wollte das verstehen. Ich wollte dort leben. Das war eine existentielle Frage. Ein Mensch versteht, dass ohne seine Eltern, sein Leben ist kein Leben nicht. Das heißt, du kannst nicht Leben in einer permanenten Gegenwart oder Zukunft ohne Vergangenheit. Ein Mensch muss haben Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft, alle Zeiten."

Als Aharon Appelfeld fast 30 Jahre alt war, fand er seinen Vater. Der hatte in Russland überlebt und wanderte Anfang der 60er-Jahre nach Israel aus. Nach dem unverhofften Wiedersehen lebten Vater und Sohn noch etliche Jahre Tür an Tür in Jerusalem.

"Er hat mir zurückgegeben viele von meinen Erinnerungen. Ich habe es noch mal gehört. Erinnerung ist auch eine Sache der Wiederholung. Die Mutter erzählt eine Geschichte, und nachher wiederholt sie. Und das bleibt im Gedächtnis. Ohne wiederholen bleibt es nicht. Und ich habe keine Wiederholung gehabt."

In seinem jüngst ins Deutsche übersetzten Roman "Elternland" schildert Appelfeld einen Israeli, dessen Eltern fast alles, was sie in der Zeit des Holocaust erlebt hatten, für sich behielten. Aharon Appelfeld hat in Israel selbst eine Familie gegründet. Er hat drei Kinder. Und wie alle Überlebenden stand er vor der Frage, was er seinen Kindern erzählen kann, erzählen will.

"Ich war ein Kind im Wald. Ich glaubte, dass meine Eltern haben mich nicht vergessen. Sie werden kommen und mich abholen. Ich spielte manchmal mit dem Wasser oder mit Steinen. Ich war ein Kind, und ein Kind bleibt ein Kind immer. So dass mein Überleben war irgendwo in einem Raum von einem Märchen. Und das Märchen konnte ich ein bisschen erzählen meinen Kindern. Die konnten das verstehen. Es ist selbstverständlich ein grausames Märchen, mit vielen schlechten Leuten, vielen Hexen. Lacht."

Als Aharon Appelfeld anfing Romane zu schreiben, wurde er angegriffen. Es verbiete sich, fiktive Texte über den Holocaust zu verfassen, hieß es, nur dokumentarisches Schreiben, Tatsachenberichte seien erlaubt.
Appelfeld entgegnete, er könne nicht dokumentarisch schreiben, weil er im engeren Sinne nur wenig erinnere, denn in der Zeit der Verfolgung sei er ein Kind gewesen. Appelfelds Erinnerungen sind zu einem großen Teil körperliche Empfindungen.

"Körperliche Erinnerungen sind sehr starke Erinnerungen. Wenn du Musiker bist, zum Beispiel, und wenn deine Finger das Piano oder die Geige berühren, denkst du nicht. Die Finger machen es allein. So dass unser Körper hat Erinnerungen, unsere Füße, unsere Hände, unser Körper. Diese Erinnerungen sind vielleicht die tiefsten Erinnerungen, weil sie gebunden sind an Ursachen. Manchmal im Winter z.B., wenn ich spüre die Kälte, kommen so viele Bilder. Ich sehe so vieles nur, wenn es sehr kalt ist in Jerusalem. Kälte z.B., bringt mir so viel Bilder, manchmal schreckliche Bilder. Oder ein Geruch. Manchmal ein Geruch bringt dir so viel zurück. Das hat schon der Proust geschrieben."

Sein Lebensweg hat Aharon Appelfeld die Frage nach der Identität auf besondere Weise stellen lassen. Das spiegelt sich in seinem Werk. Identität durch Religion spielt in seinen Büchern eine hervorragende Rolle.

"Religion ist für mich keine institutionelle. Es ist ein Gefühl. Ein Gefühl von Wunder. Ein Gefühl von Beobachtung. Ein Gefühl, dass irgendwo etwas gehört zu uns, das wir nicht verstehen ganz genau, was es ist. Das heißt, ein religiöses Gefühl. Ich bin nicht ein Institutioneller. Ich gehöre nicht zu einer Synagoge. Ich bete nicht jeden Tag. Aber ich habe ein Gefühl; ich verstehe, was Beten meint. Ich verstehe, was es heißt, sich zu verbinden mit dem Mysteriösen. Das hat nichts zu tun mit den Fanatischen. Im Gegenteil. Das hat zu tun mit einer Intimität. Es hat zu tun mit den Fragen: Warum sind wir hier? Was haben wir gemacht mit unserem Leben? Warum sterben wir? Das sind die großen Fragen, für die Religion hat ein Verständnis. Die jüdische Philosophie sagt etwas über das, die jüdischen Mystik sagt etwas über das. Ich verstehe, was Religion meint."

"Wir haben jetzt ein Bild, ein schreckliches Bild über fanatische Religionen, aber ich glaube, dass das sind keine richtigen Religionen. Das ist Fanatismus. Man benützt die Religion, um den Fanatismus zu verstärken. Das gehört nicht zu der innerlichen Religion. Religion heißt, eine gewisse Stille in deinem Leben, zu hören, was sagt dir, was für eine Bedeutung hat Leben. Warum sind wir hier? Das soll irgendwie den Menschen vielleicht besser machen, weil er sagt, ich bin hier, zu helfen Leute. Ich bin hier zu helfen die Kranke, die Schwache, die Alte. Ich soll Mensch sein. Das sagt die innerliche Religion. Es soll benützt werden zum richtig Hören. Ein richtiges Ohr zu deiner innerlichen Welt. Du siehst ein Kind, du siehst einen alten Mann, du siehst eine Frau, du siehst, wie schön sie alle sind. Und es freut dich. Und das ist irgendwo ein religiöses Gefühl. Du willst wissen mehr, wer sie sind, sie zu verstehen. Die jüdische Religion, die mystische Religion sagt: Jeder Mensch hat in sich irgendwo etwas Göttliches. So, wenn du verbindest dich mit einem Mensch, das ist eine göttliche Berührung. Du bist verbunden mit dem Göttlichen. Es ist unmöglich mit Gott direkt verbunden zu sein, aber durch Leute bist du verbunden mit dem Göttlichen, weil jeder Mensch soll etwas Göttliches in sich haben. Gott ist zu hoch, zu weit. Wir können ihn nicht verstehen. Aber durch den Menschen kannst du Gott verstehen. Das wird sagen das mystische Jüdisch."