Schräge Ideen und schräge Typen

Jakob Heins "Vor mir den Tag und hinter mir die Nacht" ist ein Roman, der harmlos beginnt und dann langsam an Fahr aufnimmt. Im Mittelpunkt steht der Erfinder einer Agentur für verworfene Ideen, der zum Geschichtenerzähler wird, damit die schöne Rebecca bei ihm bleibt.
Jakob Hein ist trotz seiner jungen Jahre ein versierter Autor. Er schreibt einfach, denkt mindestens zweifach und hantiert vergnügt mit seiner schweifenden Fantasie wie ein Kind mit seinem Spielzeug. Sein neuer Roman beginnt so heiter-harmlos, dass einen zunächst nur laue Lust vorantreibt weiterzulesen.

Ein junger Mann hat eine Agentur für verworfene Ideen eröffnet. Diese ausgemusterten, aussortierten Ideen will er an Menschen vermitteln, die vielleicht gerade eine solche Idee dringend brauchen. Ein netter Einfall, kaum mehr. Ein zunächst freundlich plauderndes Buch. Doch dann nimmt es Fahrt auf und wird in Teilen ziemlich rasant.

Denn es entsteht nach dem Prinzip der Puppe in der Puppe eine Geschichte aus der anderen. Nur werden diese nicht kleiner, sondern immer größer. Es werden alsbald nicht mehr muntere, sondern existenzielle Fragen gestellt. Nach dem Sinn des Lebens, dem Geheimnis der Welt, der Möglichkeit der Liebe.

Beginnen wir von vorn. Boris, der Erfinder der Agentur für verworfene Ideen, bekommt Besuch von der schönen Rebecca, die sich den schrägen Typen mit den schrägen Ideen einmal ansehen möchte. Er verliebt sich in sie. Und beginnt, Geschichten zu erzählen, damit sie nicht geht, nicht so unversehens aus seinem Leben verschwindet, wie sie hineingeraten ist.

Er erfindet den Stationsarzt Sebastian, der am Bett einer bezaubernden jungen Koma-Patientin wacht, die auf der Straße zusammengebrochen ist. Scheinbar ohne Grund. Doch im Krankenzimmer auf der Intensivstation beginnt Sophia, dem übernächtigten Arzt ihre Geschichte zu erzählen.

Von ihrem Fluch, Gedanken lesen zu können, von allen Menschen zu wissen, was sie hören wollen und ihnen genau das sagen zu müssen, nicht selbst eine Person zu sein, sondern Projektionsfläche für viele. Sie sei auch nur deshalb so schön, sagt sie, weil alle sie schön finden wollen, weil alle sich nach Schönheit sehnen.

Und dann erzählt Sophia von dem einzigen Mann, dessen Gedanken sie nicht lesen konnte. Einem alten, blinden Schriftsteller, der ihr seinen letzten Roman diktierte, den nach dem Willen seines Sohnes jedoch nie jemand zu sehen bekommen durfte. Weil der den Vater für debil, sein Talent für versiegt hält. Deshalb lässt er Sophia auf einer thailändischen Tastatur schreiben. Der Roman - natürlich ein Meisterwerk - ist somit unentzifferbar. Für immer verloren.

Das ist eine fast zu raffinierte Volte, die der Autor hier schlägt. Denn dieser Text, der nur diktiert und nie lesbar aufgeschrieben wurde, ist das Herzstück von Jakob Heins Roman. Handelt er doch von einem Mann, der den Sinn des Lebens zu ergründen sucht. Und sich diesem Geheimnis mit einer solchen Akribie und Klarsichtigkeit nähert, dass ein mephistogleicher Agent "des Alten" ihm im letzten Moment durch einen listigen Pakt einen Strich durch die Rechnung macht.

Ein bisschen "Tausend und eine Nacht" also, ein bisschen Faust. Hein hat sich frei bedient im literarischen Angebot und doch etwas ganz Eigenes geschrieben.

Ein intelligentes, unterhaltsames Buch mit ein wenig zu vielen skurrilen Figuren, das im heiteren Ton des Parlando zwar auch die üblichen kulturkritischen Sentenzen enthält zu den Themen Geld, Fernsehen, Lifestyle oder Konsum, aber eben darüber hinaus immer wieder tief schürft im Bergwerk der Gedanken.

Rezensiert von Gabriele von Arnim

Jakob Hein:Vor mir den Tag und hinter mir die Nacht
Piper Verlag 2008
176 Seiten; 16,90 Euro