Schon wieder Nationalismus?

Von Hans-Ulrich Wehler |
Nichts führt tiefer in die Irre als der Glaube, dass die Nationen und ihr Nationalismus uralte Phänomene seien, die sich – keimartig in den Völkern angelegt – allmählich entfaltet hätten und schließlich zu voller Blüte gelangt seien. So wird diese Entwicklung gewöhnlich in biologistischer Sprache verstanden.
Tatsächlich aber handelt es sich um junge Erscheinungen der politischen Neuzeit, meist nicht mehr als 250 Jahre alt. Jahrhunderte lang war der Loyalitätspol der Menschen in allen Kulturkreisen der Familienclan, die Dynastie, das städtische Gemeinwesen, die Region oder auch die Konfession. Und erst als in den klassischen Revolutionen der Moderne, der Englischen, Amerikanischen, Französischen Revolution, die überlieferten Strukturen zerbrachen, auch die alten Weltbilder unglaubwürdig wurden, gab das neuartige Ideensystem des Nationalismus auf diese existentiellen Herausforderungen eine Antwort. Er erfand die Nation, erhob sie zum Träger der Souveränität und zur Legitimationsbasis politischer Herrschaft. Die Vergangenheit wurde zur nationalen Vorgeschichte uminterpretiert. Mit dem Rückgriff auf den Ideenhaushalt der jüdisch-christlichen Tradition wurde jede Nation zum "auserwählten Volk" mit einer historischen Mission. Da die drei Revolutionsländer politisch wie ökonomisch die bewunderten Pioniere der neuen Zeit waren, wirkte sich ihr Vorbild unverzüglich aus. Auch auf das deutschsprachige Mitteleuropa, wo eine kleine Gemeinde von Intellektuellen die neue Säkularreligion des Nationalismus übernahm und wirkungsvoll verfocht.

Nation und Nationalismus traten seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert ihren Siegeszug an, denn sie galten als einzig angemessene Reaktion auf die heftigen Krisen der Modernisierung. Hundert Jahre später verstanden sich die Staaten durchweg als Nationalstaaten, und im 20. Jahrhundert hielt diese Entwicklung weiter an. In dieser Phase stellte sich freilich auch unübersehbar heraus, dass der Nationalismus mit seinen beiden großen Versprechen gescheitert war. Im Inneren hatte er die Gleichheit aller Nationsgenossen versprochen – tatsächlich aber herrschten überall Exklusion und Diskriminierung. Der Staatenwelt hatte er die friedliche Koexistenz der Nationen versprochen – tatsächlich überboten aber die neuen Nationalkriege ihre Vorgänger an Gewalt und Zerstörungskraft. Kein Wunder mithin, dass in Deutschland nach zwei verlorenen totalen Kriegen der Vulkan des Nationalismus erlosch. Nicht einmal nach der großen Wende von 1989/90 tauchte er als Macht des politischen Lebens wieder auf. Wie in anderen europäischen Ländern, auch in den USA, hielt sich zwar ein oft naiver Nationalismus, der sich durch den Sieg in zwei Weltkriegen bestätigt fand. Doch im Allgemeinen hatte es mit den Exzessen des radikalen Nationalismus ein Ende, zumal die Geschichte die Verheißung des Nationalismus nachdrücklich dementiert hatte und die europäische Integration alte Spaltungen überwand.

Ein pressierendes Problem blieb jedoch bestehen. In Zeiten einer tiefen Krise gewinnt der Nationalismus noch immer an Mobilisierungskraft, da er die Integration einer verunsicherten Gesellschaft und die Legitimation des politischen Systems in Aussicht stellt, freilich auch schwer kontrollierbare Folgen auslöst. So taucht etwa besonders prononciert in Polen, aber auch in den baltischen Ländern, in Ungarn und der Tschechischen Republik unter dem Druck jener Modernisierungszwänge, die mit dem EU-Beitritt verbunden sind, ein gefährlicher Nationalismus erneut auf. Die Balkankriege der neunziger Jahre haben eine förmliche Explosion der Nationalismen in dieser Region ausgelöst. Keiner wird glauben, dass in Serbien und im Kosovo, in Mazedonien und Kroatien diese Renaissance des Nationalismus schon endgültig vorüber ist. Außerhalb Europas bietet der giftige türkische Nationalismus ein prägnantes Beispiel dafür, wie ein Land in seiner tiefen Transformationskrise den Nationalismus als Integrationsideologie schürt und von Staats wegen unterstützt. Im Vergleich damit verkörpert der Nationalismus in England, wo er eine tausendjährige Inselexistenz als Basis besitzt, ganz so eine gezähmte Variante wie der französische, auf Revolutionserfolg und Kulturleistung beruhende Nationalismus.

Aus der Vogelperspektive betrachtet sind die Organisationsprinzipien des Nationalstaats, der Nation und des Nationalismus durch ein Debakel nach dem anderen zutiefst in Frage gestellt worden, haben sie doch zu mörderischer Exklusion, zu Bürgerkrieg und Staatenkrieg geführt. Längst ist auch eine überlegene Programmatik erkennbar. Der moderne Verfassungs-, Rechts- und Sozialstaat integriert seine Bürger unter zivilen Bedingungen; er schafft das Vertrauen auf die Funktionstüchtigkeit des gesellschaftlichen und politischen Systems; er bietet demokratischer Herrschaft eine verlässliche Legitimationsbasis. Auch und gerade inmitten schwieriger Modernisierungskrisen müsste die politische Anstrengung ganz und gar darauf gerichtet sein, diese Trias Verfassung-, Rechts- und Sozialstaat zu stärken, anstatt auf das anachronistische Repertoire des Nationalismus mit all seinen verhängnisvollen Konsequenzen zurückzugreifen.

Hans-Ulrich Wehler, Jahrgang 1931, ist einer der bekanntesten deutschen Historiker, auch Wissenschaftshistoriker. Er studierte Geschichte, Ökonomie und Soziologie in Köln und Bonn sowie an der Ohio University. Während seiner langen Lehrtätigkeit in Köln, Berlin und Bielefeld befasste sich Wehler vorwiegend mit der deutschen Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, vor allem seine Abhandlungen zum deutschen Kaiserreich wurden zu Standardwerken. Mit seinem bisher in drei Bänden vorliegenden, auf vier Bände angelegten Projekt einer "Deutschen Gesellschaftsgeschichte" wagte Wehler als erster Historiker den Versuch, die deutsche Geschichte seit der frühen Neuzeit unter konsequent sozialgeschichtlicher Perspektive zu schreiben. Jüngste Veröffentlichungen: "Umbruch und Kontinuität. Essays zum 20. Jahrhundert"; "Historisches Denken am Ende des 20. Jahrhundert. 1945-2000"; "Nationalismus. Geschichte, Formen, Folgen".