Schöpfer eines düsteren Schattenreichs

08.06.2007
In Deutschland ist der Schriftsteller Juan Carlos Onetti nahezu unbekannt geblieben, obwohl er von einem prominenten Kollegen als der "größte Romancier" Südamerikas bezeichnet wurde. In seinen Romanen und Erzählungen entführt Onetti den Leser in eine melancholische Fantasiewelt. Der Suhrkamp Verlag hat nun den zweiten Band der "Gesammelten Werke" herausgegeben.
An einem namenlosen Strom liegt eine Stadt namens Santa María. Kein Lebender hat sie je betreten, kein Reisender sie gesehen, und doch erscheint sie so wirklich wie Buenos Aires oder Montevideo. Juan María Brausen hat sie erfunden, ein frustrierter argentinischer Werbetexter, aber auch dieser Señor Brausen, auf der Flucht aus seiner Midlife-crisis, ist nur eine Erfindung – ein Geschöpf des Dichters Juan Carlos Onetti, geboren 1909 in Uruguay. Santa María, mal lockende Metropole und mal schmuddeliges Provinznest, aus dem Nichts gewachsen in Onettis Roman "Das kurze Leben" von 1950. Rasch löste sich die Schöpfung von ihrem Schöpfer, bekam ein Eigenleben und blieb zugleich ein Schattenreich mit merkwürdigen Gesetzen und ungewisser Chronologie. Onetti schrieb elf Romane und knapp fünfzig Erzählungen. In vielen Texten hat er sein Universum ausgebaut, ein gigantisches Experimentierfeld des Geistes, Hintergrund für eine Handvoll melancholischer Protagonisten, die so lebendig wirken, dass man sie zu kennen meint.

Der Uruguayer war ein im Wortsinn prägender Autor, eine Vaterfigur für viele große Erzähler nach ihm. García Márquez nahm Santa María als Anregung und Vorlage für seinen Schauplatz Macondo. Julio Cortázar nannte Onetti "den größten Romancier" des Subkontinents, Carlos Fuentes sah in seinem Werk "das Fundament der lateinamerikanischen Moderne". Und Octavio Paz grüßte den verehrten Kollegen in einem Brief als "dein Leser, der dich bewundert". Die Anerkennung mag tröstlich gewesen sein, doch sie hat wenig bewirkt. Der Boom lateinamerikanischer Prosa seit dem Ende der sechziger Jahre – an Onetti ging er vorbei. Weil der Mann aus Montevideo als ernst und dunkel galt. Weil ein Autor, der die Abgründe einer Stadt erkundete, nicht exotisch, nicht "magisch realistisch" klang. Weil seine Moral (und die seiner Gestalten) das Massenpublikum eher verschreckte.

Der Ruhm kam spät, und einen fürsorglichen Herausgeber hat Onetti nie getroffen. "Ich wechselte von Buch zu Buch den Verlag, um die Verluste zu verteilen." 1994 ist der Dichter im Madrider Exil gestorben. In der spanischsprachigen Welt gibt es bis heute keine Werkausgabe, und alle Editionen dort zeigen Fehler und Lücken. In unseren Breiten ist dieser außergewöhnliche Erzähler fast ein Unbekannter geblieben. Natürlich, es gab die Ausgaben im Suhrkamp-Verlag begeisterte Rezensionen. Ein deutscher Kritiker bezeichnete den Uruguayer als "Erbe Kafkas und Bruder Faulkners". Es war nicht genug.

Jetzt können wir Onetti wieder lesen, mehr noch: den ganzen Onetti lesen, in einer Ausgabe "Gesammelter Werke"; die weltweit erste wird es sein. Bis 2009 will Suhrkamp alle Romane und Erzählungen, die der Autor veröffentlichte zugänglich machen. Ältere Übersetzungen (etwa von Curt Meyer-Clason) werden zu diesem Zweck revidiert, Satz für Satz, Wort für Wort. Eine Sisyphus-Arbeit. Neben die Texte stellen die Herausgeber in jedem Band einen Anhang mit Fingerzeigen zu Verfasser, Figuren und Kulisse. Der Leser nimmt die Hilfe dankbar an. Nur: Wer nie von Onetti hörte, mag bei der Lektüre der Erläuterungen das Gefühl haben, er sei in eine Sekte geraten. Man findet Anspielungen, Spiegelungen, Verweise auf andere Verweise...

Vor zwei Jahren erschien als erster Titel Band drei der fünfbändigen Ausgabe ("Leichensammler", "Die Werft"). Band zwei, wieder in vornehm graues Leinen gekleidet, vereint nun "Das kurze Leben" – die Saga um Herrn Brausen und Santa María – mit den Kurzromanen "Abschiede" (von 1954) und "Für ein Grab ohne Namen" (1959, deutsch 1981). "Abschiede", in Onettis meisterhafter Art gefügt, berichtet von einem Basketballspieler, der wegen Tuberkulose in ein Bergsanatorium reist. Held der Handlung ist allerdings ein Krämer des Kurortes; er reflektiert das Schicksal des Kranken als zufälliger Zeuge. "Für ein Grab ohne Namen" erzählt die bizarre Geschichte einer Prostituierten namens Rita, die in Begleitung eines Ziegenbocks betteln ging. Aus Bruchstücken wird ihr Schicksal rekonstruiert. Der kleine Roman spielt wieder in Santa María, und auch den Erzähler kennt der Leser schon: In "Das kurze Leben" entstand er als Kopfgeburt des Señor Brausen. Auf der "Plaza Brausen" von Santa María steht mittlerweile ein Denkmal, ein Reiterstandbild des mythischen Gründers, und am Rand des Platzes begegnen wir vielleicht noch einer vertrauten Figur aus dem "Kurzen Leben", gezeichnet mit feiner Ironie: "Er hieß Onetti, lächelte nicht, trug eine Brille und ließ ahnen, dass er nur grillenhaften Frauen und engen Freunden sympathisch sein konnte..."

Rezensiert von Uwe Stolzmann

Juan Carlos Onetti: Das kurze Leben / Abschiede / Für ein Grab ohne Namen. Gesammelte Werke, Band 2
Herausgegeben von Jürgen Dormagen und Gerhard Poppenberg
Suhrkamp Verlag, Frankfurt 2007
633 Seiten, 34 Euro