Schönheitsideal

Ein geistloses und reaktionäres Frauenbild

04:22 Minuten
Durch ein Loch in einer rosa Pappe ist ein pink geschminkter Mund und die Nase einer Frau zu sehen.
Die Schminkmaskeraden betreffen nicht nur arglose Schulmädchen, meint Kerstin Hensel. © Unsplash / Ian Dooley
Ein Einwurf von Kerstin Hensel · 12.03.2020
Audio herunterladen
Die aktuelle "Miss Germany" ist mit 35 Jahren quasi uralt. Bei der Begründung ihrer Wahl wurde die Jury unverschämt, und bemerkte es nicht mal, kritisiert die Autorin Kerstin Hensel: Weil immer noch ein überkommenes Frauenbild herrsche.
Meine neunjährige Enkelin hat ihn zum Geburtstag bekommen: den Schminktisch. Es gibt ihn in Weiß oder Rosa mit Stühlchen, Leuchtspiegel sowie "Schönheitsstudiosound".
Angepriesen werden die Tische mit "Geeignet für Mädchen zwischen drei und zehn Jahren". Inklusive: ein doppelstöckiger Kosmetikkoffer als Arsenal. Nein, nicht für Faschingsbemalung – sondern für, wie es heißt, "die kleinen Schönheiten".

"Kleine Schönheiten" mit künstlichen Wimpern

Diese sitzen morgens in Gruppen in der S-Bahn auf dem Weg zur Schule, mit gepuderten Gesichtern, Nagel-, Lippen- und Wangenrot, die Augen mondän verfinstert mit Kajal, Lidschatten, künstlichen Wimpern.
Über ihre Phones lernen sie auf entsprechenden Kanälen, wie man sich noch cooler, noch auffälliger schminken kann beziehungsweise soll. Denn nur geschminkt sei ein Mädchen schön, das heißt: perfekt. Perfekt suggeriert: "Du gehörst dazu, dich hat man lieb!"
Doch die "kleinen Schönheiten" sehen mitunter aus, als wollten sie nicht zur Schule, sondern auf den Strich gehen. Indem sie sich mit Make-up und Farbe zukleistern, hoffen sie, älter zu wirken. Sie tun es, in der Tat.
Sie sprechen auch nicht wie Kinder, sondern mit affektierten Stimmen, und sie imitieren die Gesten der Youtuber- und Influencerinnen, die ihren Followern haufenweise Tipps für die Optimierung ihrer vorpupertären Erscheinung geben. Stets verbunden mit Werbung für irgendwelchen Stylingkram.

Leitbild der "konsumgeilen Tusse"

Mädchen- und Teenagerzeitschriften befassen sich fast ausnahmslos mit Glitzer und Glamour, der ihren jungen Leserinnen schon mal den Weg zur leichten sexuellen Verfügbarkeit zeigt. Auch wenn sie an diesem zunächst Einhörner, Elfen, Prinzessinnen oder Barbies in den kapitalistischen Sumpf locken.
Dieses früh forcierte Frauenbild zwischen Nutte, Dummerchen, Duckmäuschen und It-Girl, das diesen Mädchen zum Vorbild gereicht, ist so geistlos wie reaktionär.
Da sollen keine Charaktere gebildet werden, keine starken, intelligenten Persönlichkeiten, sondern verführbare, anpassungsfähige, unkritische, egomanische, intolerante, infantile, fantasielose, ängstliche, konsumgeile Tussen. Die später in ähnlicher Art verbildete Männer mit ironischem Bartkraulen ihre "Schätzchen", "Mädchen" oder "Ladys" nennen dürfen. Und das im 21. Jahrhundert!

Selbst in der Hochkultur dominiert der Spannerblick

Doch diese Schminkmaskeraden betreffen nicht nur arglose Schulmädchen oder billige Stilikonen der Unterhaltungsbranche, sondern auch Frauen, die es besser wissen und sich diese einseitige, auf Klischees getrimmte Vermarktung nicht bieten lassen sollten.
Man betrachte nur mal Werbeplakate von jungen Star-Solistinnen der seriösen Konzertbranche. Oft werden sie nicht als die professionellen Künstlerinnen angekündigt, die sie sind, sondern von ihren Agenturen wie Supermodels vorgeführt: aufgetakelt, tiefer Buseneinblick, das rotgelackte Lippenrund halb geöffnet, als seien sie bereit - zum Beischlaf mit der Violine. Im Publikum: Spanner statt Spannung.

Zu Fratzen geschminkte Gesichter

Natürlich weiß ich: Kunst hat auch mit Erotik zu tun. Doch dazu muss sich keine Künstlerin prostituieren. Zu allen Zeiten haben sich Menschen bemalt, geschmückt und verformt, um ihre gemeine Natur zu überhöhen. Die heutige Vermarktungsmaschine von Kultur und Körperoptimierung ist gnadenlos. Sie macht keine Gesichter, sie schminkt sie zu Fratzen.
Es gibt Gegenstimmen, ja. Nicht jeder befolgt das Eitelkeitsgebot. Es klingen viele Töne über Emanzipation, modernes Menschenbild und weiblicher Selbstbestimmung. Doch wenn die Jury der diesjährigen Miss-Germany-Wahl ihre Entscheidung, eine uralte 35-Jährige zur Siegerin zu krönen mit der Floskel der "inneren Schönheit" begründet, ist das nicht – wie behauptet – zeitgemäß, sondern unverschämt, verlogen und zynisch.

Kerstin Hensel, Jahrgang 1961, ist Professorin für Poetik an der Hochschule für Schauspielkunst "Ernst Busch" in Berlin. Als Autorin hat sie zahlreiche Gedichte, Romane und Essays geschrieben. Im März 2020 erscheint ihre jüngste Novelle "Regenbeins Farben".


Die Schriftstellerin Kerstin Hensel
© dpa / picture alliance / Jens Kalaene
Mehr zum Thema