Schönheit mit grauen Flecken

Von Nils Naumann |
Cartagena ist Kolumbiens touristisches Aushängeschild. Fast 500 Jahre alt, mit großzügigen Kolonialbauten und blumenumrankten Balkonen, umgeben von der karibischen See und einer massiven Festungsmauer, UNESCO Weltkulturerbe und eine der schönsten Städte Lateinamerikas. Außerhalb der Festungsmauern der Altstadt aber herrscht das Elend. Die große Mehrheit der mehr als eine Million Einwohner lebt in Slums, terrorisiert von Jugendgangs. Viele junge Frauen verkaufen ihre Dienste als Prostituierte an ausländische Touristen.
Der Schweiß fließt in Strömen an diesem Mittag auf der Stadtmauer Cartagenas. Eine Trommelgruppe spielt sich in Ekstase. Immer schneller die Musik, immer ungläubiger die Zuschauer. Ausgelassen tanzt eine blonde, spärlich bekleidete Touristin zu den karibischen Rhythmen.

Die jahrhundertealte, massive, grau-weiße Stadtmauer – einst sollte sie Cartagena vor Piraten schützen. Wurden doch von hier aus die Reichtümer der neuen Welt nach Spanien gebracht. Heute lockt sie verliebte Pärchen, Schulklassen und Touristengruppen.

Der Besuch auf der Mauer, von dort aus der Blick über die karibische See und die pastellfarbenen Kolonialpaläste der Altstadt, die Band, die dort scheinbar zufällig spielt, all das gehört zum Programm einer Stadtrundfahrt durch Cartagena. Die Besucher sind begeistert:

Frau 1: "Es ist hübsch hier, eine wirklich hübsche Stadt."
Mann 1: "Sehr sehr freundliche Menschen."
Frau 3: "Das Beste, was wir bisher gesehen haben."

Das Tourismusministerium rechnet mit einem weiteren massiven Anstieg der Passagier- und Besucherzahlen und rührt die Werbetrommel. In einem Fernsehspot mit weich gezeichneten Bildern in warmen Farben wirbt ein italienischer Einwanderer für das Urlaubsziel Cartagena.

"Es war 1968, eigentlich war ich gekommen, um einen Film zu drehen. Doch dann lernte ich die zwei großen Lieben meines Lebens kennen: Jaqueline, meine Frau, und Cartagena, meine Stadt."

Cartagena ist geheimnisvoll, magisch, fantastisch, voller Geschichte und Geschichten. Und die Kolumbianer: Ihre Freundlichkeit, ihre Fröhlichkeit, ihre Frauen.

"Kolumbien – die einzige Gefahr ist, bleiben zu wollen."

Trotz aller Berichte über die hohe Kriminalität in Kolumbien - die meisten Besucher Cartagenas fühlen sich relativ sicher. Auch dank eines massiven Polizeiaufgebots. In der Altstadt ist immer mindestens ein Polizist in Sichtweite.

"Wir sind überrascht darüber, wie friedlich es hier ist. Ganz im Gegensatz zu allem, was wir vorher gehört haben. Selbst die Polizei ist freundlich, wir haben sogar Fotos mit einigen von ihnen gemacht."

"Da hier überall Polizisten stehen, super sicher ..."

"Hier in der Stadt ist es okay, aber am Hafen, dort, wo unser Schiff liegt, da habe ich doch meine Zweifel.” "

" "Unser Stadtführer hat gesagt es wäre die sicherste Stadt, alleine würden wir trotzdem nicht hier rum laufen, nachher verirrt man sich und landet irgendwo in den Slums und dann kann es, glaube ich, schon gefährlich werden."

Doch auch die Ruhe in der Altstadt ist trügerisch. Anfang 2007 erschoss ein 16-jähriges Mitglied einer Jugendgang bei einem Überfall ein italienisches Touristenpaar. Mitten am Tag und direkt an der historischen Stadtmauer. Die Beute: Eine Digitalkamera. Die Polizei reagierte schnell, fasste den Täter. Schon wenig später spielte Cartagenas damaliger Bürgermeister Nicolas Curi den Mord herunter:

"Diese Geschichte hat ein schlechtes Licht auf unsere Stadt geworfen, aber sie ist abgeschlossen. Die ganze Welt hat verstanden, dass das ein Einzelfall war. Wir sind eine Stadt des Friedens, eine ruhige und sichere Stadt – das hat die Vergangenheit gezeigt.”"

Die meisten Touristen bleiben tatsächlich unbehelligt. Für die Bewohner der Stadt aber gehört die Gewalt zum Alltag. Allein im ersten Halbjahr 2009 wurden mehr als 100 Menschen in Cartagena ermordet, bei Überfällen oder bei Auseinandersetzungen zwischen Jugendgangs.

Eine Straßenecke in einem der vielen Elendsviertel, nur wenige Kilometer von der Altstadt entfernt. Einfache Hütten aus Holzabfällen, Wellblech und Plastikplanen. Dazwischen vereinzelte schlichte Backsteinhäuser. Der Wind treibt Staub von den ungeteerten Straßen in Augen, Mund und Nase. Es riecht nach Abwässern.

Vor einer grauen Häuserwand, zwischen Schutt und Abfall, hockt ein halbes Dutzend Jugendlicher. Ihre Augen sind gerötet von Crack und Marihuana. Fast alle haben am ganzen Körper verteilt Narben von Messerstichen, Machetenhieben, Pistolenschüssen.

" "Wir gehören zur Gang von Pueblito"

Pedro ist 20, in die Gang kam er schon mit 13:

"In einer Gang ist vieles einfacher, da macht dich so schnell keiner mehr blöd an. Die Leute wissen, wenn sie sich mit dir anlegen, legen sie sich mit der ganzen Gruppe an."

Doch die Gruppe bietet nicht nur Schutz:

"Wenn wir kein Geld haben, gehen wir in die Geschäfte und nehmen uns das Essen, ohne zu bezahlen. Wir rauben, wir überfallen, alles...."

In Cartagena gibt es fast 80 Jugendgangs, mit über 3000 Mitgliedern. Viele der Gangs sind untereinander verfeindet. Immer wieder kommt es zu blutigen Kämpfen, bei denen die Mitglieder mit Steinen, Messern, Macheten, Pistolen und Schrotflinten aufeinander losgehen. Manchmal beteiligen sich bis zu 100 Jugendliche und junge Männer an solchen Auseinandersetzungen. Regelmäßig gibt es Tote.

Rodriguez: "Das Leben – sei es ihr eigenes oder das anderer - hat für diese Jugendlichen keinen Wert. Die sind in der Lage, Menschen wegen Nichtigkeiten, wegen einer Uhr oder eines Mobiltelefons umzubringen."

Roberto Rodriguez ist ein bedächtiger Mann in den Vierzigern. Ein tiefschwarzer Afrokolumbianer wie die meisten Menschen in den Vorstädten. Seit acht Jahren arbeitet der katholische Priester in den Elendsvierteln Cartagenas. Auch mit den Mitgliedern von Jugendgangs. Gemeinsam mit privaten Initiativen versucht Rodriguez, Alternativen zur Gewalt aufzuzeigen, Ausbildungsmöglichkeiten zu vermitteln:

Rodriguez: "Ursache des Gang-Problems ist die Chancenlosigkeit der Jugendlichen, das Versagen der Institutionen, den Jugendlichen eine Möglichkeit zur Resozialisierung zu bieten. Also suchen sich die Jugendlichen ihre Gruppen, bewaffnen sich, fangen an mit Überfällen, schauen wie sie ihre Bedürfnisse befriedigen können."

Den Ausstieg aus der Szene schaffen nur wenige. Zu gering sind die Chancen auf dem Arbeitsmarkt, zu groß die Abhängigkeit von Drogen und die Verlockungen des schnellen Geldes. Ganz abgesehen davon, dass viele Jugendgangs abtrünnige Mitglieder mit dem Tod bedrohen. Der 28-jährige Fabian hat es trotzdem geschafft. Fast zehn Jahre war er Gangmitglied, ehe er sich lossagte. In dieser Zeit hat er viele Freunde sterben gesehen:

"Dieser Krieg, diese Kämpfe zwischen den Gangs, das Rauben, das bringt nichts Gutes, nur den Tod. Ich repariere jetzt Schuhe. Ich verdiene zwar wenig, aber das ist immer noch besser, als in einer Gang getötet zu werden."

Ob Armut oder Gewalt - Die Tagesbesucher aus Übersee bekommen in der Regel nur wenig zu sehen von den Schattenseiten Cartagenas.

Die zentrale Plaza Bolivar. Saftig-grüne Mandelbäume, Vogelgezwitscher, Wasserfontänen. Touristen entspannen auf schattigen Bänken, Einheimische spielen Schach. Rund um die Plaza: Feine Restaurants mit europäischen Preisen, edle Hotels in
luxussanierten Palästen, Boutiquen, in denen ein Hemd ein Monatsgehalt eines kolumbianischen Arbeiters kostet. Wäre da nicht das bunte Völkergemisch aus Weißen, Mestizen und Schwarzen, wären da nicht die vielen fliegenden Händler, es könnte auch eine Stadt irgendwo in Spanien sein.

Gegen Abend zeigen sich allerdings auch hier die düsteren Seiten der Stadt. Dann schwappt die menschliche Not und Verzweiflung der Vorstädte ins Zentrum. Auf der Suche nach Nachfragern einer ganz besonderen Dienstleistung:

"Hey you my friend tu quieres fucky fucky” "

Wenn es Nacht wird in Cartagena, dann ziehen Hunderte Frauen und Mädchen durch die Bars und Discos und über die Plätze und Gassen der Stadt.

Candy ist 18 Jahre alt. Ein schmales, schwarzes Mädchen mit Minirock und luftigem Oberteil. Die halblangen lockigen Haare hat sie zum Zopf gebunden. Eine dunkle Strähne hängt ihr ins Gesicht.

Candy: " "Die Männer kommen zu mir, vor allem die Ausländer, die gefallen mir am besten, die zahlen am meisten."

Doch manchmal wollen die Kunden, Deutsche, Italiener, Nordamerikaner, mehr als nur billigen Sex:

"Dieses Leben ist sehr gefährlich. Man kann an gute oder an schlechte Männer geraten, an Männer, die einem weh tun, die einen umbringen wollen.” "

Candy lebt in einem Slum außerhalb der Stadtmauern. In einer Hütte mit Erdboden, Wänden aus löchrigen Holzbrettern und einem Wellblechdach. Schon seit Jahren arbeitet sie als Prostituierte. Aus Not und aus Mangel an Alternativen. Denn nur so kann sie sich und ihre dreijährige Tochter ernähren:

" "Ich bitte Gott, dass er mir hilft, mit diesem Leben aufzuhören. Denn dieses Leben ist kein gutes Leben. Ich fühle mich schlecht. Ich schäme mich, meiner Mutter ins Gesicht zu schauen."

Die Nachfrage der Freier nach jungen Mädchen wie Candy ist groß. Doch die Vorlieben der Männer werden immer bizarrer. Fabian Cardenas von der Prostituierten-Hilfsorganisation Renacer:

"Einige Kunden, zum Beispiel Thailänder oder Japaner, suchen schwangere Mädchen, im fünften bis siebten Monat, um mit ihnen Sex zu haben. Außerdem wollen die Freier immer öfter Minderjährige und Kinder. Die Mädchen und Jungen steigen heute manchmal schon mit acht oder neun Jahren in die Prostitution ein."

Renacer, eine private Initiative, unterstützt junge Frauen wie Candy, die aus der Prostitution aussteigen wollen. Sie bietet den Mädchen psychologische Betreuung und eine Ausbildung an. Staatliche Stellen in Kolumbien kümmern sich kaum um Arme, um Prostituierte oder jugendliche Gangmitglieder, meint der katholische Priester, Menschenrechtler und Sozialaktivist Roberto Rodriguez:

"Cartagena hat zwei Gesichter: Das der Elite und der Touristen und das einer Stadt außerhalb der Mauern, eine völlig andere Welt, mit allen Phänomenen der Armut, dem Hunger und der sozialen Verwahrlosung. Das ist eine Zone, in der der Staat nicht einmal die Grundbedürfnisse der Menschen gewährleistet."

Cartagenas neue Bürgermeisterin Judith Pinedo beklagt ebenfalls die Spaltung der Stadt:

"Wir haben über die Jahre zwei Cartagenas erschaffen: Eines, das wir vorzeigen, ein wunderschönes Cartagena, um das uns die ganze Welt beneidet. Und das andere Cartagena, in dem die große Mehrheit lebt, das Cartagena, in dem Menschen, die arm geboren werden, dazu verdammt sind, auch arm zu sterben."

"Für ein vereintes Cartagena" – so hieß der Wahlslogan mit dem Judith Pinedo Ende 2007 das Bürgermeisteramt eroberte. Die Schuld an der Misere schiebt Pinedo auf ihre Vorgänger:

"Cartagena besitzt genug Möglichkeiten, um den Menschen Lebensqualität zu bieten: Es gibt Industrie, einen wichtigen Hafen, den Tourismus. Aber Cartagena hat immer schlechte und korrupte Regierungen gehabt. Die sind verantwortlich für diese unglaubliche Armut und dafür, dass nicht alle Menschen von den Reichtümern der Stadt profitieren."

Bei ihrem Amtsantritt hatte Judith Pinedo versprochen, alles besser zu machen. Sie will den Tourismus weiter ausbauen. Allein 2009, so Schätzungen der Regierung, werden ausländische Firmen rund 700 Millionen Dollar in die kolumbianische Touristikbranche investieren. Und deren Zentrum ist Cartagena.

Doch inzwischen muss sich auch die neue Bürgermeisterin der Stadt gegen Korruptionsvorwürfe wehren. Ihre Zustimmungsraten sind stark gesunken. Auch Roberto Rodriguez bezweifelt, dass die Menschen in den Armenvierteln der Stadt wirklich vom Tourismus profitieren:

Roberto Rodriguez: "Den größten Teil der Einkünfte (aus dem Tourismus) sichern sich die Unternehmer. Auch der Bezirk profitiert von zusätzlichen Steuereinnahmen. Die Menschen aus den Armenvierteln aber...... Da gibt es einige, die in der Altstadt als fliegende Händler arbeiten – aber selbst das funktioniert nur in der Hochsaison, den Rest des Jahres nagen sie am Hungertuch und haben nichts vom Tourismus."