Schönheit im Alltag

Von Siegfried Forster |
Alexandre Charpentier (1856-1909) war ein künstlerischer Tausendsassa: Er war nicht nur ein ausgezeichneter Kunsthandwerker, sondern auch Porträtist, Bildhauer und Musiker. Für ihn galten keine Schranken zwischen den schönen Künsten. Seine Möbelkreationen gelten als Vorläufer des Art Noveau und des modernen Designs.
Mit Debussy im Kopfhörer ändert sich der Blick auf Charpentiers Meisterwerke. Die Musik verstärkt den Rhythmus und die Arabesken der Möbel und Skulpturen, die Kunstwerke verleihen dem Notenreigen äußerlich fassbaren Glanz. Claude Debussy und Alexandre Charpentier waren zeit ihres Lebens eng verbunden. Der Komponist widmete seinem Künstlerfreund sogar ein Werk. Der leidenschaftliche Geiger Charpentier entwarf als Hommage an die Musik zwei Seelensegel, die als Notenständer dienen sowie einen Instrumenten-Schrank mit viel Glas und großer Klasse - eine Kathedrale für ein Cello, eine Viola und zwei Geigen, ein architektonisches Quartett, das seinesgleichen sucht.

Musik und Möbel, ein Schlüssel zum künstlerischen Glück, schwärmt Emmanuelle Héran, eine der beiden Kuratorinnen der Ausstellung:

"Das ist wirklich eine wunderbare Geschichte einer Freundschaft. Charpentier und Debussy lernten sich über einen Mäzen kennen. Dieser besaß ein Unternehmen, das Schlösser aus Bronze für Türen und Möbel herstellt. Sie fragten Charpentier, ob er für sie arbeiten und nach musikalischen Motiven Schlösser entwerfen will ... Debussy besaß mehrere dieser von Charpentier entworfenen Schlösser und bei jedem Umzug montierte er mit einem Schraubenzieher die Schlösser wieder ab und nahm sie in seine neue Wohnung mit."

Der 1856 in Paris geborene Alexandre Charpentier wuchs in bescheidenen Verhältnissen auf. Sein Vater war Straßenwärter, seine Mutter Hausfrau. Der Zwang zur Einfachheit und Sparsamkeit prägte seine künstlerische Karriere, die er als Lehrling bei einem Pfeifenbauer begann, weil die Bildhauerkurse zu teuer waren, erzählt Kuratorin Marie-Madeleine Massé:

"Er musste in vielen unterschiedlichen Berufen arbeiten. Er musste als Zwölfjähriger seinen Lebensunterhalt bei einem Pfeifenbauer verdienen. Später hat Charpentier um sich eine Künstlergruppe gebildet: Architekten, Bildhauer, Töpfer, Zeichner, die sich 'L'art dans tout' nannten. Der Titel resümiert gut das Ziel: sämtlichen alltäglichen Gegenständen Schönheit einhauchen. Das waren die Vorfahren der heutigen Designer. Natürlich haben das die dekorativen Künste schon immer gemacht, aber hier ging es wirklich darum, das für alle zu machen."

Schon sehr bald hatte Charpentier sich nicht nur den Ruf eines begabten Handwerkers, sondern eines talentierten Künstlers verschafft. Der kleine aber feine Unterschied ist bereits bei seinen ersten und bis heute bekanntesten Werken erkennbar: das Bild der stillenden Mutter, das er zuerst als Flachrelief fertigt, schon bald jedoch originell in einen Kommodenschrank als Motiv aus Messing klopft.

Charpentier macht vor nichts und niemandem halt. Ab 1896 bringt Charpentier überall sein künstlerisches Konzept zum Blühen: "L'art dans tout" - " Die Kunst in allem ": vom sichelförmigen Krümelbesen über einen Weinverschluss mit Bacchus-Wappen bis zum prunkvollen Billardtisch reicht die Palette. Mit anderen Worten: Charpentier, der Philippe Starck des 19. Jahrhunderts.

Emmanuelle Héran: " Wenn Sie heute in ein Geschäft gehen und sich ganz einfach die Zitronenpresse von Philippe Starck holen, dann haben sie den gleichen Blickwinkel wie damals: ein Gegenstand, der an sich sehr schön ist, aber gleichzeitig funktionell bleibt und gleichzeitig für alle erschwinglich ist. In gewisser Hinsicht gehört Charpentier zu den Vorläufern des Designs."

Als Mensch und Künstler hatte Charpentier einen Hang zum Utopischen, politisch gefiel er sich als polizeilich überwachter Anarchist, der "Proletarier aller Länder vereinigt Euch" auf Medaillen prägt, Zola in seinem Kampf für Dreyfus unterstützt, mit neo-impressionistischen Künstlern wie Signac und Pissaro verkehrt und natürlich die etablierte Kunstordnung auf den Kopf stellt. Als er auf der Weltausstellung 1900 geehrt wird und Rodin das Festbankett für ihn organisiert, war für Charpentier längst klar: Die dekorativen Künste stehen auf einer Ebene mit Malerei und Skulptur.

"Er weigert sich vollkommen, die etablierte Hierarchie zwischen den Künsten anzuerkennen. Die Schönen Künste der Malerei und Bildhauerei waren für ihn nicht weniger wert als die bis dahin als niedriger eingestuften dekorativen Künste des alltäglichen Lebens. Für ihn gab es keine Grenzen mehr zwischen diesen Künsten."

Kein Zufall war es auch, dass er vom revolutionären "Théâtre libre" als Zeichner zugelassen wurde. Darsteller wie Goncourt spielten damals mit ihrem natürlichen Spiel die Konventionen zu Tode und feierten Ibsen und Strindberg, Charpentier packte den revolutionären Elan in handtellergroße dreidimensionale Fresken aus Terrakotta:

"Wenn Sie heute einen Film drehen oder ein Theaterstück entwerfen, dann sind wir es gewohnt, Probenfotos zu machen. Im 19. Jahrhundert gab es das praktisch nicht. Was bei Charpentier außergewöhnlich ist: Er fertigte sozusagen dreidimensionale Skizzen an. Er ging zu den Proben und schuf Medaillons zuerst in Terrakotta, dann in Bronze."

Dass er im Gegensatz zu den prominenten Vertretern des Art Nouveau nach seinem Tod niemals Kultstatus erlangte, erklärt sich Kuratorin Marie-Madeleine Massé folgendermaßen:

"Bereits 1922 ist Charpentier in Vergessenheit geraten, nachdem er zuvor äußerst berühmt gewesen war. Einer der Gründe war, dass er in sämtlichen Bereichen aktiv gewesen ist. Er hatte sich in unterschiedlichste Richtungen zerstreut. Ein Kunstkritiker seiner Epoche hatte einmal formuliert: Charpentier ist nicht so wie viele seiner Kollegen, die, sobald sie ein Erfolgsrezept gefunden haben, dieses bis zum geht nicht mehr ausreizen. Ihn interessierte nicht so sehr das Geld, sondern vor allem die Recherche."