Schöner Wohnen

Von Margarete Blümel |
Delhis Nobelviertel Vasant Vihar rangiert auf der Liste der weltweit teuersten Wohngebiete auf Platz sechzehn. Doch neben der kleinen reichen Elite Indiens, der eine große verarmte Masse gegenüberstand, ist in den letzten Jahren eine immer größer werdende Mittelschicht gewachsen.
An einer Kreuzung im Süden Delhis liegt eine alte Frau. Sie atmet stoßweise. Ihre rechte Augenhöhle ist leer. Ihr linkes starrt ins Nichts. Die Frau ist blind.

Anil Kumar Kapoor hat die Kreuzung am Morgen passiert – und nichts gesehen: Er hat nicht gewagt, seinen Blick von der Straße zu nehmen. Denn sein Fahrer hat frei. Und der Verkehr in Delhi, sagt er, sei einfach mörderisch.

Anil Kumar Kapoor ist fünfundvierzig Jahre alt, verheiratet, zwei Kinder. Sohn und Tochter studieren in den USA. Er besitzt einen Mercedes und einen Geländewagen. Ihm gehören ein Hotel im noblen Stadtteil Green Park und ein sehr gepflegtes Anwesen im mindestens ebenso feinen Vasant Vihar. Dort wohnen auch seine Eltern. In einem Anbau sind die Dienstboten untergebracht.

"Indiens wirtschaftliche Bandbreite ist groß. Und unsere Armen haben bis heute das Nachsehen. Warum nichts für sie abfällt? - Weil die Regierung korrupt ist. Und weil all die ausgeklügelten Pläne und die am Computer entworfenen Projekte für arme Leute nicht in die Tat umgesetzt werden."

Trotz seines rasanten Wirtschaftswachstums ist Indien das Land großer Kontraste geblieben. Indiens Arme sind in der Summe arm geblieben. Neben der kleinen reichen Elite, der eine große verarmte Masse gegenüberstand, ist allerdings in den letzten Jahren eine immer größer werdende Mittelschicht gewachsen.

"Ein Gutteil unseres Wohlstands hängt mit den steigenden Immobilienpreisen zusammen. Was unsere großen Städte angeht, reden wir da von Summen, die selbst in Europa oder Amerika nicht ihresgleichen finden. Wer hier die richtige Immobilie am rechten Platz hat, ist ein gemachter Mann. Der Wert einiger dieser Liegenschaften ist in den letzten Jahren um das zehntausendfache gestiegen."

Delhis Nobelviertel Vasant Vihar rangiert auf der Liste der weltweit teuersten Wohngebiete auf Platz sechzehn. Die Straßen sind von imposanten, hochgewachsenen Bäumen gesäumt. Die von Gärtnerhand gepflegten Parkanlagen des Bezirks bergen seltene Pflanzen. Jogger laufen über die Wege. Dienstmädchen sitzen auf den Bänken und schauen ab und an in die Kinderwagen mit dem Babys ihrer Hausherrinnen, bevor sie sich wieder ihren Gesprächen zuwenden.

Nahebei, vor den noblen Häusern der Bewohner Vasant Vihars, fallen kleine Kubikel auf, Notunterkünfte, die wie Schwalbennester an Mauern in der Nähe der Hauseingänge kleben. Es sind die Dienstbehausungen der Guards, der Sicherheitsleute, möbliert mit einem Sitzbrett, einem Fernseher, einem Ventilator und einer Telefonverbindung in das zu bewachende Anwesen.

Morgens sitzen die Sicherheitsmänner gern auf Plastikstühlen am Straßenrand, um den Fahrern dabei zuzuschauen, wenn sie sich mit Lederlappen und Eimern bewaffnet die Autos ihrer Chefs vornehmen. Delhi ist staubig. Und Wasserknappheit hin und her - die Bediensteten haben die Anweisung, die Autos allmorgendlich gründlich zu reinigen.

Eilig und grußlos kommt der Chef angelaufen. Einer der Guards reißt für ihn das Tor auf, das vom eingezäunten Wohnkomplex nach draußen führt. Dies ist das Signal für den Fahrer, der aus dem Wagen springt, die Tür zum Fond öffnet, wartet, bis der Hausherr Platz genommen hat, um dann die Autotür zuklappen zu lassen und loszufahren.

Anil Kondody kennt diese Rituale in- und auswendig. Er ist dreiundzwanzig Jahre alt, studiert und arbeitet zusätzlich als Hausmeister in einem Fünf-Parteien-Haus. Sein Vater ist seit dreißig Jahren im Viertel für die Sicherheit zuständig, seine Mutter ebenso lange als Hausangestellte. Was Anil stört ist, dass in einer noblen Wohngegend wie dieser nicht nur die Reichen zur Ader gelassen werden. Auch ihre Dienstboten müssen den sogenannten Vasant-Vihar-Zuschlag bezahlen – beim lokalen Gemüsehändler, beim Schuster, im Lebensmittelgeschäft oder im Internet- Cafe.

"Vasant Vihar ist ein teures Pflaster geworden! Es ist eine der vornehmsten Adressen Delhis. Was für Summen die Leute hinlegen müssen, die hier ein Haus kaufen wollen. Das Gebäude, das meinen Chefs gehört, ist inzwischen sechsundneunzig Millionen Rupien wert! "
Das sind umgerechnet 1,4 Millionen Euro. Für seine Arbeit als Hausmeister bekommt Anil etwas mehr als hundert Euro.

Die Fahrer, sagt er, können im Monat bis knapp dreihundert Euro verdienen. Allerdings müssten sie sich dann rund um die Uhr bereithalten. Die Maids, die weiblichen Hausangestellten, dürfen mit hundert Euro rechnen, ein wenig mehr erhalten die privaten Sicherheitsleute für ihre Zwölf-Stunden-Schicht. Am schlechtesten kommen die Gärtner mit umgerechnet siebenunddreißig Euro weg.

Großverdiener sind die von Anil Aufgezählten alle nicht. Die Fahrer, die bei entsprechendem Einsatz am besten verdienen, zahlen dafür in der Regel jahrelang die Kosten für ihre Ausbildung zurück. Und: Alle schicken regelmäßig Geld an ihre Verwandten auf dem Dorf – jedenfalls, solange sie ihren Job behalten.

"Das liegt ganz in der Hand der Chefs. Sie können das halten, wie sie wollen. Wie viel sie am Ende wirklich zahlen, ob sie einen anderen einstellen – in diesem Bereich gibt es keinerlei Sicherheit."

Immerhin: Viele der Angestellten von Vasant Vihar haben ein Dach über dem Kopf, einige werden auch im Haushalt verköstigt. Dass sie es vergleichsweise gut getroffen haben, ist den Guards, den Gärtnern, den Fahrern und den Hausmädchen von Vasant-Vihar täglich vor Augen.

Die Wanderarbeiter etwa, die bei der Errichtung eines Neubaus in der Nachbarschaft beschäftigt sind, werden auch im Vergleich mit ihnen erbärmlich bezahlt. Sie hausen unter Zeltverschlägen und müssen sich, nachdem der Bau erstellt ist, einen anderen Job suchen. Sie staksen über unsichere Bambus-Baugerüste, tragen bei Wind und Wetter Schutt, Sand und Zement in Körben auf dem Kopf. Die Einsatzzeiten sind flexibel – gearbeitet wird so viel wie möglich, so lange wie möglich.

Wer sich in Vasant Vihar leisten kann, ein Gebäude hochziehen zu lassen, der kann auch die Kanäle ölen, mit deren Hilfe Vorschriften umgangen werden: Zum Beispiel mit Bestechungsgeldern an die Polizei. Werden die Beamten dann wegen nächtlichen Baulärms gerufen, haben sie plötzlich kein Fahrzeug zur Verfügung oder alle Polizisten sind plötzlich wegen eines dringenden Einsatzes unterwegs. Mitarbeiter des Bauamtes wiederum sehen unter gewissen Umständen großzügig über Bestimmungen hinweg, die die maximale Gebäudehöhe oder die Funktion des Neubaus definieren. So kommt es, dass Privatschulen in Wohngebieten errichtet werden. Vorschriftswidrig und zum großen Ärger vieler Anwohner.

Mit dem nötigen Geld, weiß auch der Hotelier und Geschäftsmann Anil Kumar Kapoor, sei in Indien alles möglich. Leute wie er, die der Mittel – oder der Oberklasse entstammten, seien von kleinauf gewöhnt, nur mit dem Finger schnippen zu müssen, um das zu bekommen, was sie wünschten.

"Jeder Geschäftsmann, der gut Geld verdient, lebt auch dementsprechend. Er verfügt über Angestellte, die sein Haus putzen, kochen, das Geschirr spülen, das Frühstück zubereiten, die seinen Wagen waschen und den Garten pflegen. Auf diese Weise bleibt natürlich einiges an Zeit für ihn."
Diese Freizeit lässt sich angenehm im Zweitwohnsitz am Meer in Goa oder in einem der Bergorte im Himalaya verbringen. Wer nicht gleich ein paar Tage wegfahren kann, spielt in einem der exklusiven Freizeitclubs Golf und lässt den Abend anschließend mit ein paar Drinks ausklingen. Andere schauen sich auf dem großen LCD-Bildschirm den neuesten Bollywood-Film an oder die Familie geht gemeinsam essen – in eines der teuren Restaurants am Connaught Place, in dem der Vater Whisky ausgeschenkt bekommt und die Mutter an einem Gläschen Krimsekt nippen kann. Manchmal gibt es auch Pizza und oder Burger.

"Ich kann nicht verstehen, wie teuer ein Pizza-Laden in Indien ist! Eine vierköpfige Familie bezahlt dort für ihr Essen so viel, wie ein Sicherheitsmann im ganzen Monat verdient. Soweit zu den Unterschieden hinsichtlich des Einkommens!"

Weil der Wohlstand der einen die Begehrlichkeit der anderen weckt, versuchen sich die Reichen in der indischen Hauptstadt Neu Delhi nach Kräften zu schützen. Neue Angestellte sind vorzugsweise Verwandte langjähriger Bediensteter oder sie kommen auf Empfehlung. Alle Häuser in wohlhabenden Vierteln sind mit Alarmanlagen geschützt.

"Die Hauptrolle spielen aber die Guards, die Sicherheitsleute. Außerdem fährt die Polizei regelmäßig durch die Straßen. Die Polizisten fragen uns, ob irgendetwas los ist. Und sie wenden sich mit der gleichen Nachfrage nochmals an die Guards."

Doch trotz aller Vorsichtsmaßnahmen: Sicherheit gibt es in Indien nicht. Der wunde Punkt ist das Personal. Loyale Dienstboten zu bekommen, die nicht stehlen, ihr Insiderwissen nicht an professionelle Diebe weiter geben oder bei nächster Gelegenheit auf Nimmerwiedersehen in ihr Heimatdorf verschwinden, sind schwer zu bekommen.

Der Platz der blinden alten Frau an der Unterführung Richtung Vasant Vihar ist inzwischen verwaist. Ein paar Meter weiter verschwinden gerade zwei völlig zerlumpte, vielleicht zehn-, zwölfjährige Mädchen zwischen den Autos, die vor der Ampel aufgereiht sind. Die beiden Kinder halten Rosen in den Händen. Sie haben die Blumen morgens am Depot des Regierungsprojekts abgeholt. Statt zu betteln sollen sie Blumen verkaufen. Die meisten Autofahrer haben allerdings die Fenster hochgekurbelt und schauen stur nach vorn.

Der Mercedesfahrer, der gerade bei Rot über die Ampel gefahren ist, wird von der Polizei angehalten und muss zahlen. Aber auch der Lenker des Ochsengespanns, die Karrenzieher, deren Gefährte unter der Last von Baustahls oder Lkw-Reifen ächzen, auch sie müssen zahlen. Wieviel, wird an Ort und Stelle ausgemacht. Eine Quittung erübrigt sich, da das Geld in die Tasche des Polizisten wandert. Wer keines hat, muss zu Fuß weiter.

Mit diesem System und seinen Varianten sind alle Beteiligten bestens vertraut.
Es begegnet ihnen bei jeder Behörde oder auch am Bahnhof, wenn sie ein Ticket für den Langstreckenzug lösen wollen und mit einem "All full - alles belegt" abgespeist werden, bis ein unter dem Tresen durchgeschobener Schein den Belegungsstand dramatisch ändert.

"Hierzulande wird dauernd bestochen, selbst um die einfachsten Dinge unter Dach und Fach zu bekommen. Bei den Behörden, bei der Polizei, wenn es um die Stromversorgung geht oder um den Anschluss ans Wassernetz. Es ist einfacher, die Geldbörse zu zücken und seine Anliegen auf illegale Weise zu erledigen, als sich korrekt zu verhalten und nichts zu bezahlen. Dadurch ergeben sich allerdings eine ganze Menge zusätzlicher Kosten."

Es trifft betuchte Inder, die damit ganz gut leben können, aber auch die Bettler, die Schuhflicker und mobilen Bügler, die Altpapiersammler mit ihren klapprigen Rädern.
Angesichts dessen, findet der Hausmeister Anil Kondody, habe er es gut getroffen. Sein derzeitiger Job sei nicht allzu schlecht und er kann studieren, ohne Vater und Mutter zu belasten.

"Ich bereite meinem Vater und meiner Mutter keine sonderlichen Kopfschmerzen, weil ich für meinen Lebensunterhalt selbst sorge. Meine Eltern blicken optimistisch in die Zukunft. Sie gehen davon aus, dass ich eines Tages erfolgreich sein werde und gutes Geld verdienen kann."

Auch Anil Kumar Kapoor meint, dass Leute wie sie, sich nicht wirklich beklagen könnten. Trotz all der zusätzlichen Kosten und Sorgen um die Besitztümer. Aber was seien die schon, verglichen mit dem Los vieler ihrer Landsleute? Und nicht nur in den großen Städten des Landes Städten wie Neu Delhi.

"Vor zwei Jahren war ich in einem Dorf – ich will den Namen nicht sagen. Er spielt auch keine Rolle. Jedenfalls zeigten mir die Lehrer die nagelneuen Computer, die man der Schule geschenkt hatte. ’Toll!’ sagte ich. ’Computer - und sogar mit Flachbildschirmen!’ - ’Ja, da ist nur ein Problem.’ antworteten die Lehrer. ’Hier im Dorf gibt es keinen Strom.’ In meinen Augen ist das ein gutes Beispiel für die gesamte Misswirtschaft hierzulande!"
Mehr zum Thema