Schöner und billiger wohnen
In Frankfurt/Oder gibt es Wohnraum eigentlich mehr als genug - schließlich hat die Stadt seit der Wende rund 20.000 Einwohner verloren, ganze Neubauviertel stehen vor dem Abriss. 15 Frankfurter Studenten wollten das nicht länger hinnehmen. Seit vergangenem Jahr gibt es das "Verbündungshaus Fforst" - ein selbst verwaltetes Studentenheim für Studenten aus Deutschland, Polen und aller Welt.
Mittwochabend in der Forststraße 4 im Zentrum von Frankfurt/Oder: Seit dem späten Nachmittag schon haben türkische Studenten gekocht, jetzt sitzen sie zusammen mit ihren Kommilitonen an langen Holztischen, essen türkische Linsensuppe und Börek, trinken Raki und Bier und prosten sich zu. Ein Student spielt Gitarre, andere singen mit. Im Hintergrund Gesprächsfetzen: Deutsch und Türkisch, Französisch und Polnisch – ein babylonisches Stimmenwirrwarr zieht durch den Raum.
Gegen zehn wird es ruhiger: Die Musikanlage wird abgestellt, in der Küche helfen die Gäste beim Abwaschen.
Um elf sind auch die letzten Gäste verschwunden. Das ist die Abmachung, denn schließlich wohnen die Studenten nicht alleine in der Forststraße 3 und 4. Andere Mieter leben schon seit fast 20 Jahren in dem DDR-Plattenbau, und die wollen abends vor allem ihre Ruhe. Zu den Feiern der Studenten gehen sie nur selten. Zum Beispiel Sieglinde Grasse. Die 62 Jahre alte Frankfurterin wohnt im zweiten Stock. Vor zwei Jahren hatte sie einen Schlaganfall, nur mühsam schafft sie die Treppen bis zur Haustür. Also bleibt sie lieber zu Hause.
"Die laden mich ein, ja. Die laden uns alle ein, die hier wohnen, bloß ick geh nich hin, bin ja bloß eine Behinderung."
Junge Studenten aus aller Welt zusammen in einem Haus mit Altmietern, die sich auf ein ruhiges Leben in der Platte eingestellt haben: Eigentlich spricht alles gegen das Projekt. Doch Ronald Schürg stellte das Haus trotzdem zur Verfügung. Als Chef der Wohnungswirtschaft Frankfurt/Oder unterstützt er die Idee.
"”Sie ist eigentlich diese Idee so was von verrückt, dass sie schon wieder interessant wird. Denn dort prallen zwei Welten aufeinander: Junge Leute, die an die Grenzen gehen, mehr oder weniger bewusst und Mieter in den noch stehenden Wohnbauten, wo eben alles in Ordnung ist, die sehr konservativ sind, die zu Beginn des Projektes gelobt haben, dass sie über genügend Toleranz verfügen und in der Zwischenzeit auch an ihre Grenzen gekommen sind, so dass wir schon schlichtend eingreifen mussten, aber wir haben immer wieder Verständnis füreinander herstellen können.""
Verständnis und Verständigung sind die Schlüsselwörter des ganzen Projekts. Verständnis füreinander und für die Probleme einer schrumpfenden Stadt an der Grenze zu Polen.
Mehr als 5000 Wohnungen stehen in Frankfurt/Oder leer, in der polnischen Schwesterstadt Slubice dagegen herrscht Wohnungsmangel. Doch selbst von den rund 1500 polnischen Studenten der Europa-Universität Viadrina wohnt kaum jemand in Frankfurt/Oder. Sie können sich die Mieten auf deutscher Seite einfach nicht leisten. Janine Nuyken, die Vizepräsidentin der Uni, wollte das nicht länger hinnehmen.
"Unsere sehr simple Idee war, dass Integration nicht so sehr beim Lernen stattfindet, da auch, aber letztlich beim gemeinsamen Leben. Diese Versatzstücke führten dazu, dass ich mir überlegt habe, ich müsste ein Haus organisieren, ein leer stehendes, das keiner mehr haben will, und das irgendwie in unsere Hände kriegen und ein Projekt starten."
Hilfe kommt aus Berlin: Christian Lagé und seine zwei Kollegen vom Berliner Designerkollektiv anschlaege.de sollen die interkulturelle Platte organisieren. In einem Uni-Seminar bereiten sie 15 Studenten auf das selbst verwaltete Wohnprojekt vor.
Auch das Haus ist schnell gefunden. Eigentlich soll der Plattenbau in der Forststraße abgerissen werden, einige Wohnungen sind schon verwaist. Doch die Stadt entscheidet sich anders: Neue Mieter statt Leerzug und Abriss.
Alles scheint bereit. Aber im Frühjahr 2006 droht das Projekt doch noch zu scheitern, erzählt Christian Lagé vom Designerkollektiv.
"”Es gab so eine kurze Phase, wo die Gefahr war, dass es so ein Projekt wird wie alle anderen Studentenprojekte auch, dass es auf dem Papier ganz gut aussieht, und am Ende des Semesters zucken alle mit der Schulter, fahren nach Hause und im nächsten Semester weiß keiner mehr etwas davon. Das war so sicherlich der Knackpunkt.""
Doch dann geht alles ganz schnell: Im März 2006 gründen die Studenten einen Verein, den Verbündungshaus Fforst e.V. Der Name ist Programm für die Arbeit der Studenten.
"”Und dann gibt es ja diese Verbindungshäuser, und da dachten wir: Verbindungshaus hat ja so ein bisschen negativen Unterton, aber wir dachten verbünden ist auf alle Fälle in Ordnung, weil Piraten verbünden sich, Wegelagerer verbünden sich, verbünden hat immer so was von man trifft sich unter der Oberfläche und bricht dann irgendwann durch und das fanden wir einen ganz guten Titel und der hat sich dann bis heute durchgezogen.""
Der Durchbruch lässt nicht lange auf sich warten. Noch im selben Monat unterschreibt der Vorstand des Vereins den Mietvertrag mit der Wohnungswirtschaft Frankfurt/Oder. Für einen symbolischen Quadratmeterpreis von einem Euro plus Nebenkosten überlässt das städtische Unternehmen den Studenten die leer gezogenen Wohnungen in der Forststraße. Ein Gewinn für beide Seiten, denn ein anderer Mieter hätte sich kaum gefunden. Dazu sei der Zustand der Wohnungen viel zu desolat, sagt Ronald Schürg, der Chef der Wohnungswirtschaft.
"Dort ist die Durchreiche rausgerissen und nicht verputzt oder verblendet, da fehlen die Tapeten, da fehlt eine Mischbatterie, das ist ein Standard, den wir schon per Gesetz über einen normalen Wohnungsmietvertrag nicht an den Markt bringen können."
Die Studenten stört das wenig, denn Luxus will hier niemand. Im Gegenteil: Sie profitieren von den geringen Mieten. Zwischen 70 und 130 Euro kostet ein Zimmer in der Forststraße – billig genug, dass auch polnische Studenten einziehen können. Doch schnell wird aus dem deutsch-polnischen Projekt ein internationales Haus: 25 junge Menschen aus sieben Nationen leben heute hier zusammen.
Wer hier wohnt, ist aber nicht nur Mieter. Denn die Studenten verwalten das Haus selbst – und haben den tristen Plattenbau innerhalb weniger Monate in ein buntes, lebendiges Wohnprojekt verwandelt. Ein guter Praxistest für das spätere Berufsleben, meint der angehende Kulturwissenschaftler David Bardua Garzón, der zweite Vorstand des Vereins.
"”Man hat ja ganz viel Theorie an der Uni, schlägt sich durch sämtliche Konzepte von irgendwelchen Wissenschaftlern, muss die rezipieren und alles was dazugehört, aber hier kann man auch mal was lernen, was einem im beruflichen Leben auch helfen kann, weil Wissenschaftler will ich nicht werden, da bleibt für mich nur die Berufswelt, und da kriege ich hier einfach ganz viel mit.""
Die triste Ladenzeile im Erdgeschoss bauen die Studenten in einen Veranstaltungsraum um. Die verblichenen Fliesen der Fassade werden umgesprayt. Jetzt röhrt ein brauner Hirsch auf einem Mosaik aus pinken, grünen und blauen Steinchen. Auf dem Vordach begrüßt eine grelle Freiheitsstatue die Besucher.
Doch nicht alle Hausbewohner freuen sich über den Eifer der Studenten, sagt Uni-Vizepräsidentin Janine Nuyken. Schon vor dem Einzug sind die Meinungen geteilt.
"Also die über 60 waren sehr begeistert von dem Projekt, mit den unter 60 war es nicht ganz einfach, das fand ich überraschend.
Ein Teil hat gesagt: Es ist doch toll, dass hier so ein Projekt stattfindet, unser Haus schimmelt uns eigentlich unter den Füßen weg, weil es zu leer ist. Andere hatten Angst, dass es zu laut wird und dass sie nicht mehr ihre Ruhe finden. Und da gibt es so eine Eigentümlichkeit, die es öfter in Frankfurt gibt: Es gibt gleichzeitig den Wunsch, dass sich die Stadt belebt, das darf aber auf keinen Fall laut passieren. Also sozusagen: die Leute sollen schon in der Stadt wohnen, aber bloß nicht vor der Tür lachen - und das geht einfach nicht."
Ein studentisches Wohnprojekt ohne Lärm? - Undenkbar! Doch im hellhörigen Plattenbau werden selbst laute Gespräche gerade für ältere Nachbarn schnell zur Belastung.
Und obwohl gerade die Errichtung von "Generationenhäuser" in bayrischen, niedersächsischen und hessischen Kommunen mit Erfolg vorangetrieben wird, ist die Altbewohnerin Sieglinde Grasse skeptisch, was das Zusammenleben mit den Studenten betrifft.
"”Sind sehr höfliche Menschen, aber jung und alt passt nicht zusammen, weil wir, naja, altmodisch denken.""
Altmodisches Denken gegen neue Ideen: Kein einfacher Start für die Studenten im Verbündungshaus. Beharrlich haben sie das Gespräch mit den Nachbarn gesucht, und schließlich auch selbst Kompromisse gemacht: Bei Abendveranstaltungen ist um zehn Uhr Schluss, länger gefeiert wird nur zwei Mal im Semester. Viel habe sich seit den Anfangswochen verbessert, erzählt David Bardua Garzón – selbst wenn auch heute manchmal noch nicht alles klappt.
"”Es gibt immer noch Ausnahmefälle, wo man dann mitbekommt, dass jemand vielleicht die Polizei ruft, weil hier Studenten sich aufhalten, im Sommer hatten wir das Problem zum Beispiel, aber ich sage mal gerade mit den Nachbarn im Haus hat man doch mittlerweile ein ganz gutes Verhältnis.""
Kein Wunder: Denn wenn sie nicht zu den Veranstaltungen der Studenten kommen, werden die Altbewohner von den Studenten eben selbst besucht. Auch Sieglinde Grasse erinnert sich noch gerne an die letzte Überraschung.
"Na zu Weihnachten war es schön gewesen, da haben sie uns ein Ständchen gebracht, zum Nikolaus. Ein junger Mann hat mitgesungen, ich kannte den aber nicht. Ist schon romantisch, wie sie es machen, davon abgesehen."
So kümmern sich die Studenten im Verbündungshaus um alles auf einmal: Um das Zusammenleben mit den Nachbarn, den Umbau des Hauses – und natürlich um sich selbst. Denn auch die Kommunikation zwischen den Studenten ist nicht immer ganz einfach, erzählt Jakob Piecha. In Schlesien geboren, in Oberbayern aufgewachsen: Der zweisprachige BWL-Student kennt sich aus mit kulturellen Unterschieden.
"”Wenn man einen Polen und einen Franzosen als Beispiel jetzt mal an einem Abend zusammensitzen hat. Der Franzose ist, was gewisse persönliche Themen zwischenmenschlicher Natur betrifft, sehr offen, der Pole ist da so ein bisschen ruhiger, wenn das aufeinander trifft, ist zum Teil sehr skurril, aber auch sehr lustig mit anzusehen.""
Neben den kulturellen Unterschieden sind es manchmal auch ganz praktische Dinge, die für Missverständnisse sorgen. So mussten auch manche deutsche Studenten erst lernen, dass bei Vereinssitzungen nicht nur auf deutsch, sondern auch auf englisch diskutiert wird. Doch diese Probleme lassen sich lösen, meint Jakob Piecha.
"”Es sind Barrieren, aber alle sind in irgendeiner Form bereit, ihre eigene Engstirnigkeit, ihr eigenes Sehen aufzugeben und das des anderen anzunehmen und dadurch eine gemeinschaftliche Basis zu bilden und das macht die Sache sehr interessant, weil sehr schöne Mischungen dabei zustande kommen.""
Auch Jakobs polnischer Mitbewohner Mateusz Radecki schätzt das multikulturelle Flair im Haus. Nicht die niedrige Miete hat ihn ins Studentenwohnheim gelockt. Er wollte etwas anderes.
"Zusammenleben mit Leute aus ganze Welt eigentlich. Aus Frankreich, aus Polen, aus Deutschland. Also ich habe sehr viele Leute kennen gelernt, das macht auch Spaß, da kann man fremde Sprachen lernen."
Andere kamen ahnungslos nach Frankfurt. Zum Beispiel der Erasmus-Student Romain aus Frankreich, der in der Forststraße nicht nur ein billiges Zimmer, sondern auch Anschluss gefunden hat.
"Man hat gesagt: Ja es ist billig, und ich kenne schon jemanden, der hier wohnt, und ich hatte sowieso keinen anderen Kontakt hier in Frankfurt, ich bin gekommen und habe sofort meine Wohnung gekriegt … ist geil!
Am Anfang ich wusste nicht worum es geht, dann bin ich hergekommen und man hat mir das Projekt erzählt und ja es gefällt mir sehr, also die Kommunikation usw. geht gut zwischen uns, zwischen Studenten, es passt gut zusammen zu wohnen, es passt gut."
Mit großer Selbstverständlichkeit erzählen die Studenten aus sieben Nationen über ihr Zusammenleben. Es ist ihr Alltag, und interkulturelle Probleme lassen sich lösen.
"Hier fängt Europa an!", steht in der bunten Broschüre, die der Verein gedruckt hat. Doch manchen ist das multikulturelle Zusammenleben auch ein Dorn im Auge.
Der Müll, die Zigarettenkippen, das Saufen: Eine wohl 40-jährige Anwohnerin steckt ihren Kopf aus der Wohnungstür und wettert gegen das Verbündungshaus und die osteuropäischen Studenten. Vor dem Mikro aber bleibt sie stumm. Auch ihren Namen möchte sie lieber nicht nennen.
Mit offener Fremdenfeindlichkeit hatten die Studenten bisher trotzdem wenig zu kämpfen. Denn über die Vorurteile mancher Frankfurter setzen sich die Bewohner einfach hinweg, erzählt Christian Lagé vom Designerkollektiv anschlaege.de.
"Irgendwer hat angefangen, die Flagge aus seinem Heimatland aus dem Fenster zu hängen, bis dann aus drei, vier, fünf Wohnungen die absurdesten Flaggen hingen und das war mit so einer Selbstverständlichkeit und so einem Selbstvertrauen passiert, dass die Leute, die immer Angst vor Fremden haben und immer was zu meckern haben, einfach nichts tun konnten als unten auf der Straße zu stehen und vor sich hin zu brubbeln. Da strahlt das Haus so viel Stärke und Lebensfreude aus, das für so etwas eigentlich kein Platz ist."
Denn die Studenten machen einfach weiter. Mehrmals pro Woche organisieren sie im Haus Veranstaltungen wie das internationale Kochen, das Tandem-Café zum Sprachenlernen oder Diskussionen und Filmabende zum Thema schrumpfende Stadt. Kein Wunder, dass sich das Haus schon ein halbes Jahr nach seiner Einweihung zu einem beliebten Treffpunkt in der Stadt entwickelt hat, meint Uni-Vizepräsidentin Janine Nuyken.
"Mein Eindruck ist, das ist so eine Art ‚cooler Ort’, also Berlin ist ja die Inkarnation des coolen Ortes, und in Frankfurt gibt es nicht so vieles was man als junger Mensch als coolen Ort bezeichnet, aber dieses Haus.
Und ich glaube, das hat schon eine Funktion, die wichtig ist."
Ein cooler Ort ist das Verbündungshaus. Mit seinen 25 Bewohnern ist es heute komplett belegt – und immer mehr Studenten interessieren sich für das Haus. Doch statt einer schnellen Expansion wünscht sich Janine Nuyken lieber eine ruhige Entwicklung.
"Ich würde gerne erstmal über die ersten zwei Winter kommen, um zu gucken: Kann sich das wirklich tragen? Denn irgendwann kommt ja auch eine Phase der Reinvestitionen, und da muss man dann gucken – hat man mit den geringen Mieten genug, um das bewältigen zu können. Oder muss man Anträge stellen, sind die erfolgreich oder nicht?
Ich glaube, da muss man einfach ein bisschen Zeit lassen und ich würde auch ungern so ein Projekt überfordern einfach durch zu schnelles Vergrößern, Projekte werden nicht immer besser nur weil sie größer werden."
Wahrscheinlich lässt sich die Größe ohnehin nicht an der Anzahl der Studenten messen. Sondern an der Kraft einer Idee, die neue Perspektiven eröffnet für das Zusammenleben in einer schrumpfenden Stadt. Das weiß auch Martin Patzelt, der Oberbürgermeister der Stadt. Von Beginn an hat er das Projekt unterstützt und seine Entwicklung genau verfolgt.
"Ich habe immer aufmerksam geguckt in den ersten Monaten: Na, haben sie sich da nicht übernommen, wird das nicht zu viel und freue mich, dass sie sagen nein wir wollten das so, wir kriegen das auch hin und jetzt unterdessen schon sagen wir machen die Türen weit auf und laden regelmäßig zum Beispiel zum Kochen ein, wir wollen Gäste haben und wir wollen selber gestalten."
Selber gestalten, auch wenn noch nicht alles klappt. Erst vor kurzem wollten die Studenten einen Keller im Haus zum Proberaum für Bands umbauen - doch wegen fehlender Fluchtwege sorgten Ordnungsamt und Bauaufsicht für ein schnelles Ende. Ronald Schürg von der Wohnungswirtschaft Frankfurt hat dennoch keine Sorgen, wenn er an die Zukunft des Verbündungshauses denkt.
"Dann schöpfe ich meine Hoffnung einfach aus der Geschichte: Es war immer die Jugend, die für Reibung und für Wärme und für Bewegung gesorgt hat – und das soll meines Erachtens in der heutigen Zeit auch richtig sein."
Gegen zehn wird es ruhiger: Die Musikanlage wird abgestellt, in der Küche helfen die Gäste beim Abwaschen.
Um elf sind auch die letzten Gäste verschwunden. Das ist die Abmachung, denn schließlich wohnen die Studenten nicht alleine in der Forststraße 3 und 4. Andere Mieter leben schon seit fast 20 Jahren in dem DDR-Plattenbau, und die wollen abends vor allem ihre Ruhe. Zu den Feiern der Studenten gehen sie nur selten. Zum Beispiel Sieglinde Grasse. Die 62 Jahre alte Frankfurterin wohnt im zweiten Stock. Vor zwei Jahren hatte sie einen Schlaganfall, nur mühsam schafft sie die Treppen bis zur Haustür. Also bleibt sie lieber zu Hause.
"Die laden mich ein, ja. Die laden uns alle ein, die hier wohnen, bloß ick geh nich hin, bin ja bloß eine Behinderung."
Junge Studenten aus aller Welt zusammen in einem Haus mit Altmietern, die sich auf ein ruhiges Leben in der Platte eingestellt haben: Eigentlich spricht alles gegen das Projekt. Doch Ronald Schürg stellte das Haus trotzdem zur Verfügung. Als Chef der Wohnungswirtschaft Frankfurt/Oder unterstützt er die Idee.
"”Sie ist eigentlich diese Idee so was von verrückt, dass sie schon wieder interessant wird. Denn dort prallen zwei Welten aufeinander: Junge Leute, die an die Grenzen gehen, mehr oder weniger bewusst und Mieter in den noch stehenden Wohnbauten, wo eben alles in Ordnung ist, die sehr konservativ sind, die zu Beginn des Projektes gelobt haben, dass sie über genügend Toleranz verfügen und in der Zwischenzeit auch an ihre Grenzen gekommen sind, so dass wir schon schlichtend eingreifen mussten, aber wir haben immer wieder Verständnis füreinander herstellen können.""
Verständnis und Verständigung sind die Schlüsselwörter des ganzen Projekts. Verständnis füreinander und für die Probleme einer schrumpfenden Stadt an der Grenze zu Polen.
Mehr als 5000 Wohnungen stehen in Frankfurt/Oder leer, in der polnischen Schwesterstadt Slubice dagegen herrscht Wohnungsmangel. Doch selbst von den rund 1500 polnischen Studenten der Europa-Universität Viadrina wohnt kaum jemand in Frankfurt/Oder. Sie können sich die Mieten auf deutscher Seite einfach nicht leisten. Janine Nuyken, die Vizepräsidentin der Uni, wollte das nicht länger hinnehmen.
"Unsere sehr simple Idee war, dass Integration nicht so sehr beim Lernen stattfindet, da auch, aber letztlich beim gemeinsamen Leben. Diese Versatzstücke führten dazu, dass ich mir überlegt habe, ich müsste ein Haus organisieren, ein leer stehendes, das keiner mehr haben will, und das irgendwie in unsere Hände kriegen und ein Projekt starten."
Hilfe kommt aus Berlin: Christian Lagé und seine zwei Kollegen vom Berliner Designerkollektiv anschlaege.de sollen die interkulturelle Platte organisieren. In einem Uni-Seminar bereiten sie 15 Studenten auf das selbst verwaltete Wohnprojekt vor.
Auch das Haus ist schnell gefunden. Eigentlich soll der Plattenbau in der Forststraße abgerissen werden, einige Wohnungen sind schon verwaist. Doch die Stadt entscheidet sich anders: Neue Mieter statt Leerzug und Abriss.
Alles scheint bereit. Aber im Frühjahr 2006 droht das Projekt doch noch zu scheitern, erzählt Christian Lagé vom Designerkollektiv.
"”Es gab so eine kurze Phase, wo die Gefahr war, dass es so ein Projekt wird wie alle anderen Studentenprojekte auch, dass es auf dem Papier ganz gut aussieht, und am Ende des Semesters zucken alle mit der Schulter, fahren nach Hause und im nächsten Semester weiß keiner mehr etwas davon. Das war so sicherlich der Knackpunkt.""
Doch dann geht alles ganz schnell: Im März 2006 gründen die Studenten einen Verein, den Verbündungshaus Fforst e.V. Der Name ist Programm für die Arbeit der Studenten.
"”Und dann gibt es ja diese Verbindungshäuser, und da dachten wir: Verbindungshaus hat ja so ein bisschen negativen Unterton, aber wir dachten verbünden ist auf alle Fälle in Ordnung, weil Piraten verbünden sich, Wegelagerer verbünden sich, verbünden hat immer so was von man trifft sich unter der Oberfläche und bricht dann irgendwann durch und das fanden wir einen ganz guten Titel und der hat sich dann bis heute durchgezogen.""
Der Durchbruch lässt nicht lange auf sich warten. Noch im selben Monat unterschreibt der Vorstand des Vereins den Mietvertrag mit der Wohnungswirtschaft Frankfurt/Oder. Für einen symbolischen Quadratmeterpreis von einem Euro plus Nebenkosten überlässt das städtische Unternehmen den Studenten die leer gezogenen Wohnungen in der Forststraße. Ein Gewinn für beide Seiten, denn ein anderer Mieter hätte sich kaum gefunden. Dazu sei der Zustand der Wohnungen viel zu desolat, sagt Ronald Schürg, der Chef der Wohnungswirtschaft.
"Dort ist die Durchreiche rausgerissen und nicht verputzt oder verblendet, da fehlen die Tapeten, da fehlt eine Mischbatterie, das ist ein Standard, den wir schon per Gesetz über einen normalen Wohnungsmietvertrag nicht an den Markt bringen können."
Die Studenten stört das wenig, denn Luxus will hier niemand. Im Gegenteil: Sie profitieren von den geringen Mieten. Zwischen 70 und 130 Euro kostet ein Zimmer in der Forststraße – billig genug, dass auch polnische Studenten einziehen können. Doch schnell wird aus dem deutsch-polnischen Projekt ein internationales Haus: 25 junge Menschen aus sieben Nationen leben heute hier zusammen.
Wer hier wohnt, ist aber nicht nur Mieter. Denn die Studenten verwalten das Haus selbst – und haben den tristen Plattenbau innerhalb weniger Monate in ein buntes, lebendiges Wohnprojekt verwandelt. Ein guter Praxistest für das spätere Berufsleben, meint der angehende Kulturwissenschaftler David Bardua Garzón, der zweite Vorstand des Vereins.
"”Man hat ja ganz viel Theorie an der Uni, schlägt sich durch sämtliche Konzepte von irgendwelchen Wissenschaftlern, muss die rezipieren und alles was dazugehört, aber hier kann man auch mal was lernen, was einem im beruflichen Leben auch helfen kann, weil Wissenschaftler will ich nicht werden, da bleibt für mich nur die Berufswelt, und da kriege ich hier einfach ganz viel mit.""
Die triste Ladenzeile im Erdgeschoss bauen die Studenten in einen Veranstaltungsraum um. Die verblichenen Fliesen der Fassade werden umgesprayt. Jetzt röhrt ein brauner Hirsch auf einem Mosaik aus pinken, grünen und blauen Steinchen. Auf dem Vordach begrüßt eine grelle Freiheitsstatue die Besucher.
Doch nicht alle Hausbewohner freuen sich über den Eifer der Studenten, sagt Uni-Vizepräsidentin Janine Nuyken. Schon vor dem Einzug sind die Meinungen geteilt.
"Also die über 60 waren sehr begeistert von dem Projekt, mit den unter 60 war es nicht ganz einfach, das fand ich überraschend.
Ein Teil hat gesagt: Es ist doch toll, dass hier so ein Projekt stattfindet, unser Haus schimmelt uns eigentlich unter den Füßen weg, weil es zu leer ist. Andere hatten Angst, dass es zu laut wird und dass sie nicht mehr ihre Ruhe finden. Und da gibt es so eine Eigentümlichkeit, die es öfter in Frankfurt gibt: Es gibt gleichzeitig den Wunsch, dass sich die Stadt belebt, das darf aber auf keinen Fall laut passieren. Also sozusagen: die Leute sollen schon in der Stadt wohnen, aber bloß nicht vor der Tür lachen - und das geht einfach nicht."
Ein studentisches Wohnprojekt ohne Lärm? - Undenkbar! Doch im hellhörigen Plattenbau werden selbst laute Gespräche gerade für ältere Nachbarn schnell zur Belastung.
Und obwohl gerade die Errichtung von "Generationenhäuser" in bayrischen, niedersächsischen und hessischen Kommunen mit Erfolg vorangetrieben wird, ist die Altbewohnerin Sieglinde Grasse skeptisch, was das Zusammenleben mit den Studenten betrifft.
"”Sind sehr höfliche Menschen, aber jung und alt passt nicht zusammen, weil wir, naja, altmodisch denken.""
Altmodisches Denken gegen neue Ideen: Kein einfacher Start für die Studenten im Verbündungshaus. Beharrlich haben sie das Gespräch mit den Nachbarn gesucht, und schließlich auch selbst Kompromisse gemacht: Bei Abendveranstaltungen ist um zehn Uhr Schluss, länger gefeiert wird nur zwei Mal im Semester. Viel habe sich seit den Anfangswochen verbessert, erzählt David Bardua Garzón – selbst wenn auch heute manchmal noch nicht alles klappt.
"”Es gibt immer noch Ausnahmefälle, wo man dann mitbekommt, dass jemand vielleicht die Polizei ruft, weil hier Studenten sich aufhalten, im Sommer hatten wir das Problem zum Beispiel, aber ich sage mal gerade mit den Nachbarn im Haus hat man doch mittlerweile ein ganz gutes Verhältnis.""
Kein Wunder: Denn wenn sie nicht zu den Veranstaltungen der Studenten kommen, werden die Altbewohner von den Studenten eben selbst besucht. Auch Sieglinde Grasse erinnert sich noch gerne an die letzte Überraschung.
"Na zu Weihnachten war es schön gewesen, da haben sie uns ein Ständchen gebracht, zum Nikolaus. Ein junger Mann hat mitgesungen, ich kannte den aber nicht. Ist schon romantisch, wie sie es machen, davon abgesehen."
So kümmern sich die Studenten im Verbündungshaus um alles auf einmal: Um das Zusammenleben mit den Nachbarn, den Umbau des Hauses – und natürlich um sich selbst. Denn auch die Kommunikation zwischen den Studenten ist nicht immer ganz einfach, erzählt Jakob Piecha. In Schlesien geboren, in Oberbayern aufgewachsen: Der zweisprachige BWL-Student kennt sich aus mit kulturellen Unterschieden.
"”Wenn man einen Polen und einen Franzosen als Beispiel jetzt mal an einem Abend zusammensitzen hat. Der Franzose ist, was gewisse persönliche Themen zwischenmenschlicher Natur betrifft, sehr offen, der Pole ist da so ein bisschen ruhiger, wenn das aufeinander trifft, ist zum Teil sehr skurril, aber auch sehr lustig mit anzusehen.""
Neben den kulturellen Unterschieden sind es manchmal auch ganz praktische Dinge, die für Missverständnisse sorgen. So mussten auch manche deutsche Studenten erst lernen, dass bei Vereinssitzungen nicht nur auf deutsch, sondern auch auf englisch diskutiert wird. Doch diese Probleme lassen sich lösen, meint Jakob Piecha.
"”Es sind Barrieren, aber alle sind in irgendeiner Form bereit, ihre eigene Engstirnigkeit, ihr eigenes Sehen aufzugeben und das des anderen anzunehmen und dadurch eine gemeinschaftliche Basis zu bilden und das macht die Sache sehr interessant, weil sehr schöne Mischungen dabei zustande kommen.""
Auch Jakobs polnischer Mitbewohner Mateusz Radecki schätzt das multikulturelle Flair im Haus. Nicht die niedrige Miete hat ihn ins Studentenwohnheim gelockt. Er wollte etwas anderes.
"Zusammenleben mit Leute aus ganze Welt eigentlich. Aus Frankreich, aus Polen, aus Deutschland. Also ich habe sehr viele Leute kennen gelernt, das macht auch Spaß, da kann man fremde Sprachen lernen."
Andere kamen ahnungslos nach Frankfurt. Zum Beispiel der Erasmus-Student Romain aus Frankreich, der in der Forststraße nicht nur ein billiges Zimmer, sondern auch Anschluss gefunden hat.
"Man hat gesagt: Ja es ist billig, und ich kenne schon jemanden, der hier wohnt, und ich hatte sowieso keinen anderen Kontakt hier in Frankfurt, ich bin gekommen und habe sofort meine Wohnung gekriegt … ist geil!
Am Anfang ich wusste nicht worum es geht, dann bin ich hergekommen und man hat mir das Projekt erzählt und ja es gefällt mir sehr, also die Kommunikation usw. geht gut zwischen uns, zwischen Studenten, es passt gut zusammen zu wohnen, es passt gut."
Mit großer Selbstverständlichkeit erzählen die Studenten aus sieben Nationen über ihr Zusammenleben. Es ist ihr Alltag, und interkulturelle Probleme lassen sich lösen.
"Hier fängt Europa an!", steht in der bunten Broschüre, die der Verein gedruckt hat. Doch manchen ist das multikulturelle Zusammenleben auch ein Dorn im Auge.
Der Müll, die Zigarettenkippen, das Saufen: Eine wohl 40-jährige Anwohnerin steckt ihren Kopf aus der Wohnungstür und wettert gegen das Verbündungshaus und die osteuropäischen Studenten. Vor dem Mikro aber bleibt sie stumm. Auch ihren Namen möchte sie lieber nicht nennen.
Mit offener Fremdenfeindlichkeit hatten die Studenten bisher trotzdem wenig zu kämpfen. Denn über die Vorurteile mancher Frankfurter setzen sich die Bewohner einfach hinweg, erzählt Christian Lagé vom Designerkollektiv anschlaege.de.
"Irgendwer hat angefangen, die Flagge aus seinem Heimatland aus dem Fenster zu hängen, bis dann aus drei, vier, fünf Wohnungen die absurdesten Flaggen hingen und das war mit so einer Selbstverständlichkeit und so einem Selbstvertrauen passiert, dass die Leute, die immer Angst vor Fremden haben und immer was zu meckern haben, einfach nichts tun konnten als unten auf der Straße zu stehen und vor sich hin zu brubbeln. Da strahlt das Haus so viel Stärke und Lebensfreude aus, das für so etwas eigentlich kein Platz ist."
Denn die Studenten machen einfach weiter. Mehrmals pro Woche organisieren sie im Haus Veranstaltungen wie das internationale Kochen, das Tandem-Café zum Sprachenlernen oder Diskussionen und Filmabende zum Thema schrumpfende Stadt. Kein Wunder, dass sich das Haus schon ein halbes Jahr nach seiner Einweihung zu einem beliebten Treffpunkt in der Stadt entwickelt hat, meint Uni-Vizepräsidentin Janine Nuyken.
"Mein Eindruck ist, das ist so eine Art ‚cooler Ort’, also Berlin ist ja die Inkarnation des coolen Ortes, und in Frankfurt gibt es nicht so vieles was man als junger Mensch als coolen Ort bezeichnet, aber dieses Haus.
Und ich glaube, das hat schon eine Funktion, die wichtig ist."
Ein cooler Ort ist das Verbündungshaus. Mit seinen 25 Bewohnern ist es heute komplett belegt – und immer mehr Studenten interessieren sich für das Haus. Doch statt einer schnellen Expansion wünscht sich Janine Nuyken lieber eine ruhige Entwicklung.
"Ich würde gerne erstmal über die ersten zwei Winter kommen, um zu gucken: Kann sich das wirklich tragen? Denn irgendwann kommt ja auch eine Phase der Reinvestitionen, und da muss man dann gucken – hat man mit den geringen Mieten genug, um das bewältigen zu können. Oder muss man Anträge stellen, sind die erfolgreich oder nicht?
Ich glaube, da muss man einfach ein bisschen Zeit lassen und ich würde auch ungern so ein Projekt überfordern einfach durch zu schnelles Vergrößern, Projekte werden nicht immer besser nur weil sie größer werden."
Wahrscheinlich lässt sich die Größe ohnehin nicht an der Anzahl der Studenten messen. Sondern an der Kraft einer Idee, die neue Perspektiven eröffnet für das Zusammenleben in einer schrumpfenden Stadt. Das weiß auch Martin Patzelt, der Oberbürgermeister der Stadt. Von Beginn an hat er das Projekt unterstützt und seine Entwicklung genau verfolgt.
"Ich habe immer aufmerksam geguckt in den ersten Monaten: Na, haben sie sich da nicht übernommen, wird das nicht zu viel und freue mich, dass sie sagen nein wir wollten das so, wir kriegen das auch hin und jetzt unterdessen schon sagen wir machen die Türen weit auf und laden regelmäßig zum Beispiel zum Kochen ein, wir wollen Gäste haben und wir wollen selber gestalten."
Selber gestalten, auch wenn noch nicht alles klappt. Erst vor kurzem wollten die Studenten einen Keller im Haus zum Proberaum für Bands umbauen - doch wegen fehlender Fluchtwege sorgten Ordnungsamt und Bauaufsicht für ein schnelles Ende. Ronald Schürg von der Wohnungswirtschaft Frankfurt hat dennoch keine Sorgen, wenn er an die Zukunft des Verbündungshauses denkt.
"Dann schöpfe ich meine Hoffnung einfach aus der Geschichte: Es war immer die Jugend, die für Reibung und für Wärme und für Bewegung gesorgt hat – und das soll meines Erachtens in der heutigen Zeit auch richtig sein."