Schöffen

"Nur der Wahrheit und Gerechtigkeit dienen"

Ein Richterhammer und ein Strafgesetzbuch liegen am 19.03.2013 im Landgericht Osnabrück (Niedersachsen) auf einem Tisch.
Bei der Urteilsfindung sind Schöffen hauptamtlichen Richtern gleichgestellt. Dennoch kennt kaum einer dieses wichtige Ehrenamt. © picture alliance / dpa / Friso Gentsch
Von Rosemarie Bölts · 08.09.2014
Schöffen sind keine Juristen, aber befragen Zeugen und fällen folgenschwere Entscheidungen. Ein Feature über Gewissenskonflikte, Diskussionen mit den Berufsrichtern und zufällige Begegnungen mit den Angeklagten nach der Urteilssprechung.
"Ich weiß, dass das Schöffenamt das höchste Amt ist, Ehrenamt, was in der Bundesrepublik vergeben wird. Ich war auch sehr stolz, dass ich ausgewählt worden bin - bis zu den ersten Verhandlungen. Da hatte ich so meine Schwierigkeiten. Also, dann kriegte ich mit, wir bekommen keine Akteneinsicht, wir dürfen nicht in die Anklageschrift vorher gucken. Dann geht man in die Hauptverhandlung, und dann muss man sich das allein erschließen von den Dingen, die sich da abspielen."
Rund 60.000 Bundesbürger, etwa 37.000 Haupt- und 23.000 Hilfs-, also Ersatzschöffen, haben Anfang des Jahres an Amts- und Landgerichten in den 16 Bundesländern geschworen, „nur der Wahrheit und Gerechtigkeit zu dienen". Männer und Frauen zwischen 25 und 70, aus möglichst vielen Berufen und sozialen Schichten. Selbstständige, Angestellte, Arbeiter, Handwerker, Hausfrauen und Hausmänner; sie sollen den Querschnitt der Bevölkerung repräsentieren und so "das gesunde Volksempfinden" in die Rechtsprechung einbringen. Die gelernte Bürokauffrau und zweifache Mutter Karin Rohé war schon mal zwei Amtsperioden am Landgericht der niedersächsischen Provinzhauptstadt Oldenburg, Große Strafkammer:
"Also angenommen, dass drei hauptamtliche Richter sich zu einem Urteil durchgerungen haben, und zwei Schöffen sich zusammentun und sagen: nein. Dann wären die drei aufgeschmissen. Das ist die richterliche Mathematik. Das wurde uns auch gesagt, aber ich hatte so das Gefühl, dass die meinten, na ja, das werdet ihr ja wohl nicht tun, ne. Oder, zu dem Fall wird es ja wohl nicht kommen."
Schöffen müssen die Konsequenzen tragen
Blick auf eine Garderobe für Richter und Schöffen am 19.03.2013 im Landgericht Osnabrück (Niedersachsen).
Bei der Urteilsfindung sind Schöffen hauptamtlichen Richtern gleichgestellt. Dennoch kennen nur wenige dieses wichtige Ehrenamt. © picture alliance / dpa / Friso Gentsch
Sie sei "relativ naiv" ins Schöffenamt gegangen, erklärt Karin Rohé. Der Respekt vor den schwarzen Roben der Berufsrichter, die erhöhte Richterbank, von der man nolens volens auf die Angeklagten herabschaut, und die einem durchaus das Gefühl der Erhabenheit geben kann, das Wissen um die Macht, die man mit dem Urteil ausübt, kann mürbe oder selbstbewusster machen. So oder so muss man die Konsequenzen seines Urteils tragen. So wie Karin Rohé es in dem Verfahren um den angeklagten Kindesmissbrauch erfahren hat:
"Der Mann ist nicht verurteilt worden, weil die Beweislage so dünn gewesen ist. Und nach der Urteilsverkündung kamen wir beiden Schöffen relativ spät raus aus dem Sitzungssaal, und die Kläger mit ihren Zeugen und Gutachtern standen noch auf dem Flur. Und wir beiden Schöffen sind dann doch ziemlich angemacht worden, wie wir zu so'nem Urteil kommen, ob wir denn Kinder hätten und das beurteilen könnten. Das war so diese erste Erfahrung, wo ich gedacht hab, meine Güte - dann muss man das auch aushalten."
Für die laufende Schöffenperiode wurde Karin Rohé von ihrer Partei, Die Grünen, vorgeschlagen, gewählt und dem Amtsgericht ihrer Heimatgemeinde nahe Oldenburg zugeteilt. Dort sitzt sie auch seit drei Jahren im Gemeinderat. Sie ist immer noch gespannt, ob sich am Amtsgericht Unterschiede zu dem hierarchisch strukturierten Landgericht ergeben. So lange dauert eine Amtsperiode. Zwei darf man nacheinander absolvieren, dann muss man eine Pause einlegen.
Schuld und Sühne, Gefängnis oder Freiheit
Alle Richter sind vor dem Gesetz gleich und mit den gleichen Rechten und Pflichten ausgestattet. Und doch wird begrifflich unterschieden. Die studierten, verbeamteten Juristen sind die "Berufsrichter". Bei den Arbeits-, Verwaltungs-, Sozial- und Finanzgerichten nennt man die Laien "ehrenamtliche Richter", die für diese fachgebundenen Gerichte eine entsprechende Vorbildung mitbringen sollen. Wohingegen der historische, bis ins Mittelalter zurückgehende Begriff "Schöffe" ausschließlich in der Allgemeinen Strafgerichtsbarkeit, also bei Amts- und Landgerichten verwendet wird und so interpretationsfähige Voraussetzungen wie "Volkes Stimme" und "Lebensnähe" gefragt sind. Hier geht es um das, was man aus den Fernsehkrimis kennt und das Schöffenleben so spannend macht: Diebstahl, Raub, Mord und Totschlag, Vergewaltigung, Betrug, Drogen und dergleichen mehr. Es geht tatsächlich um nichts Geringeres als Schuld und Sühne, Gefängnis oder Freiheit:
"In dem Moment, als ich ja gesagt habe, ich bin bereit, Schöffenarbeit zu machen, in dem Moment muss dir klar sein, du hast ne wahnsinnige Verantwortung, du entscheidest über das Leben eines Menschen in dem Moment, wo du eine Entscheidung triffst. Die Verantwortung musst du auch bereit sein zu tragen."
Manuela Imkeit hat jetzt ihre zweite Amtsperiode als Schöffin am Landgericht Oldenburg begonnen. Im Gemeinderat ihres Wohnortes sitzt sie schon in der fünften Amtsperiode. Die Politik sei eine gute Schule, meint sie, um Selbstbewusstsein und Meinungsstärke zu trainieren. Auch sie wurde von ihrer Partei, der SPD, als Schöffin vorgeschlagen und dann gewählt. Sie war im Schulelternbeirat und gewerkschaftlich als Betriebsrätin aktiv, und berufstätig ist die Familienfrau auch noch, in einem Altenpflegeheim. Die heute 62-Jährige scheint mit ihren gesellschaftspolitischen Engagements und viel Lebenserfahrung prädestiniert für das Schöffenamt:
"Ich achte sehr auf die Körpersprache eines Menschen. Die Mimik ist ganz besonders wichtig, wenn die Leute etwas sagen oder wie sie sich gerade auch vor Gericht benehmen. Vielleicht liegt's ein bisschen an meinem Beruf, weil ich das auch mit gelernt habe, dass ich die Leute sehr genau beobachte. Und ich bilde mir ein, sagen zu können, dass ich eine sehr gute Menschenkenntnis habe und sehe dann, wenn der uns die Hucke voll lügt. Und dann auch natürlich den Mut zu haben, dem Richter zu signalisieren, ich hab da ne Frage, wenn mir was auffällt. Das mach ich auch."
Schöffen unterscheiden sich äußerlich von Berufsrichtern
Die Sitzplatzanordnung im Gerichtssaal ist wie der Prozessablauf vorgegeben. Schöffen sitzen immer links und rechts außen auf der Richterbank. Allerdings klar erkennbar in Zivilkleidung, während Berufsrichter, Staatsanwälte und Verteidiger schwarze Roben tragen. Ein weiterer Unterschied: Berufsrichter können über Schöffen eine „Ordnungsstrafe" verhängen. Und Berufsrichter müssen nicht nur die Verhandlungsführung, sondern auch die Schöffen im Blick haben. Der Leiter des Jugendgerichts am Amtsgericht München, Ludwig Kretzschmer:
"In der Hauptverhandlung muss man aufpassen, dass ihnen nicht irgendwas rausrutscht, was dann wirklich zu ner Ablehnung führt. Also, einmal hab ich nen Schöffen erlebt, der nen Zeugen nicht schön angesprochen hat, da haben wir unterbrochen, und in der Pause haben wir dann darüber gesprochen, dass das einfach so net geht."
Bei kleineren Straftaten an einem Amtsgericht oder an der Kleinen Straf-und Berufungskammer eines Landgerichts haben es zwei Schöffen mit einem Berufsrichter zu tun. Bei schwereren Vergehen an den Großen Strafkammern eines Landgerichts mit zwei oder drei Berufsrichtern. Jedes Jahr lost das Gericht das Schöffenpaar aus, das dann jeweils ein Jahr miteinander und mit wechselnden Richtern auskommen muss. Urteilsfindung und Strafmaßermittlung finden dann im schmucklosen, durch keinerlei Ablenkung getrübten und streng abgeschlossenen „Besprechungszimmer" statt, hinter dem Gerichtssaal. Ludwig Kretzschmer, der einmal in seinen sechzehn Jahren als Jugendrichter am Amtsgericht München von zwei Schöffen überstimmt wurde:
"Was die Schöffen betrifft, das ist schwierig, darüber zu sprechen, weil immer das Beratungsgeheimnis gilt für alles, was dahinten in dem Zimmer besprochen wird, darf man darüber nicht sprechen. Aber jeder Schöffe hat eine andere Sichtweise auf den Fall, bringt seine beruflichen Sachen ein, seine beruflichen Gesichtspunkte oder auch seine privaten, dass die eine eine Einrichtung kennt, in die man den Jugendlichen einweisen kann, derartige Dinge kommen durchaus vor."
Und dann gibt es juristische Tricks, mit denen sich, im Gegensatz zu den Schöffen, ein geschlagener Berufsrichter seinem Beratungsgeheimnis zumindest entziehen kann. „Faule Kompromisse" nennt das der Jugendrichter:
"Theoretisch gäb's die Möglichkeit, wenn man merkt, man kommt mit seiner Meinung nicht durch, dass man nen Prozess aussetzt. Aber das ist meines Erachtens nach net richtig. Und dann ist es so, dass man das Urteil so begründen, dass man's doch gut begründen muss natürlich, dass es allein deswegen aufgehoben wird, weil man's so schlecht begründet hat. Und es soll ja nicht aus einem Urteil nicht hervorgehen, dass man eigentlich ein anderes Urteil fällen wollte."
Man muss nicht jedesmal zu "lasche" Richter mit härteren Strafen überstimmen wollen, was den Schöffen - von wegen "gesundes Volksempfinden" - gern nachgesagt wird. Aber so blauäugig wie ihre jüngere Ko-Schöffin gewesen ist, sollte man auch nicht sein, meint die resolute Manuela Imkeit:
"Auch schon erlebt gehabt, dass jemand dabei war, die am liebsten alle nach Hause schicken will. Bloß keinen einsperren! Um Gottes Willen, die armen Leute! Ach nee! Oder ne Geldstrafe aufbrummen: o Mensch, der verdient doch so wenig, das können wir doch nicht machen! Ja, ich mein, passt nicht. Ist ja kein Kindergarten!"
"Sie müssen Lebenserfahrung haben"
Um Schöffe oder Schöffin zu werden, muss man:
  • Deutscher Staatsbürger und mindestens 25 Jahre, höchstens 69 Jahre alt sein.
  • Über ausreichende deutsche Sprachkenntnisse verfügen.
  • Länger als ein Jahr in dem der Gerichtsbarkeit zugehörigen Gemeindebezirk wohnen.
  • Kein Insolvenzverfahren haben
  • nicht vorbestraft sein.
Mehr nicht. Viel zu wenig, findet der Gründer und Vorsitzende des Bundesverbands der Ehrenamtlichen Richter und Schöffen, Hasso Lieber. Der ehemalige Richter und Justizstaatssekretär weiß sehr genau, warum es nicht reicht zu meinen, die Berufsrichter müssten eben nehmen, was kommt, und es läge an ihnen, mit diesem "Querschnitt der Bevölkerung" zurecht zu kommen. Wofür übrigens Richter auch nicht ausgebildet werden. Also auf allen Seiten trial and error?
"So ist es in der Praxis, aber so darf es nicht sein! Immerhin, wenn Sie gleichberechtigter Richter sind als Schöffe, dann müssen Sie bestimmte Fähigkeiten mitbringen. Sie müssen ein Urteilsvermögen haben. Sie müssen bereit sein, über andere Menschen zu urteilen. Sie müssen Lebenserfahrung haben. Sie müssen Menschenkenntnis haben. Sie müssen also über andere Leute urteilen können, ob die sich schuldig gemacht haben oder nicht. Und da können Sie nicht irgend jemanden von der Straße reißen und sagen, jetzt machst du das mal, sondern müssen sich vorher den Kopf darüber machen, wer das wohl ist, der auf der Richterbank sitzt."
Der - ehrenamtlich organisierte - Schöffenverband DVS ist die einzige Interessenvertretung der Laienrichter. Er veranstaltet Fortbildungen, bietet Unterstützung in der Auseinandersetzung mit Richtern oder Arbeitgebern an, setzt sich auf politischer und kommunaler Ebene für die Stärkung der Schöffen ein, gibt Publikationen mit Titeln wie "Fit fürs Schöffenamt" und die auch in Juristenkreisen renommierte Zeitschrift "Richter ohne Robe" heraus. Kurz, der DVS macht eigentlich das, was Justiz und Politik versäumen: Er setzt sich für die Schöffen und ehrenamtlichen Richter ein. Hauptsächlich geht es bei den Fragen an den DVS um Konflikte mit den Arbeitgebern, berichtet die DVS-Landesvorsitzende in Niedersachsen, Hildegard Minthe. Ein Schöffe ist nämlich für die Zeit der Gerichtsverhandlung vom Arbeitgeber frei zu stellen, egal, ob dem das passt oder nicht und egal, ob sich manche Prozesse über Wochen oder Monate hinziehen:
"Ich trau mich gar nicht, das zu sagen, aber die Schlimmsten sind die Institutionen. Und zwar angefangen von der ARGE, Sparkassen, Banken, die haben die kühne Idee, dass doch bitteschön der Schöffe, der in Gleitzeit arbeitet, seine Arbeit dann nachholt. Es gibt 6 Euro die Sitzungsstunde, man kriegt die Fahrtkosten erstattet. Ja, und dann gibt es die ständige Auseinandersetzung zwischen dem, was der Arbeitgeber erstattet bekommt dafür, dass man nicht da ist. Und im Öffentlichen Dienst ist es noch komplizierter."
Viele Schöffen kommen aus den Parteien
Wie wird man Schöffe? Ganz einfach. Indem man sich rechtzeitig vor der nächsten Schöffenperiode bei seiner zuständigen Gemeindeverwaltung mit einem Formblatt bewirbt. Oder auch von einem Verein, einem Verband oder einer Partei vorgeschlagen wird. Oder wenn, bei Schöffenmangel, der auf dem Land häufiger vorkommt als in der Stadt, der Zufallsgenerator angeworfen wird. Dann werden die Kandidaten gesammelt und auf eine Liste gesetzt, die der Schöffenwahlausschuss am zuständigen Amtsgericht erhält. Also hat jeder unbescholtene Bürger eine Chance, ganz demokratisch. Oder? Hildegard Minthe über einen Mann, der sich auf seine Kandidatur extra mit einem Kurs des Schöffenverbands in Hannover vorbereitet hatte:
"Der ist sogar extra aus dem hohen Norden zum Schnupperkurs gekommen, das waren acht Veranstaltungen, da ist er immer extra angereist gekommen, um dann sehr enttäuscht, ja empört mir mitzuteilen, stell dir vor, ich habe meiner Kommune gesagt, ich möchte mich gern für das Schöffenamt bewerben. Da haben die geantwortet, 1. Das kennen wir hier überhaupt nicht, dass man sich selbst bewerben darf. Und Punkt 2, bei uns machen das alles die Parteien. Tja. Leider ist das kein Einzelfall."
Wer wählt also wen? Und warum? Entscheidend für die Berufung der Schöffen ist der "Wahlausschuss" am zuständigen Amtsgericht. Er besteht aus sieben "Vertrauenspersonen" aus den örtlichen Gemeinden, einem Verwaltungsbeamten - in Oldenburg der Oberbürgermeister - und einem Vorsitzenden Richter. Übrigens ist es oft so, dass die Vertrauenspersonen aus den Parteien kommen, die dann natürlich auch ihre Vorschläge benennen. Amtsgerichtsdirektor Jürgen Possehl hat bereits drei Mal den Schöffenwahlausschuss an dem großen, ovalen Tisch in seinem Amtszimmer geleitet. Vor ihm liegt der dicke Ordner, in dem alle Kandidaten aufgelistet sind. Insgesamt 176 Haupt-, Hilfs- und Jugendschöffen fürs Amts- und Landgericht Oldenburg mussten letztes Jahr gewählt werden. Das geht immer ziemlich zügig, weil die Wahlausschussmitglieder die meisten, nämlich "ihre" Kandidaten schon kennen.
"Also, jeder der Anwesenden bekommt diese Liste (raschelt, blättert) sehn Sie, da steht drauf, Name, Adresse und Alter und Beruf. Und dann sitz ich hier und sag, so, jetzt fangen Sie mal an, wen möchten Sie denn. Ja, dann kommt jemand und sagt, ich hätte gern Herrn Müller. Ja, welche Nummer ist denn das hier, ach so, der, denn gucken wir mal. Was macht der denn beruflich. Aha. Und dies Alter. Ja, gut, der könnte ja wohl insgesamt passen. Dann wird der genommen und dann: weitere Vorschläge. Dann streichen wir immer ab, dass wir nicht jemand doppelt wählen. Es gibt dann auch noch so'n bisschen Kaffee und Kekse dabei, die spendier ich dann, damit die auch alle ein bisschen zufrieden sind. Zweieinhalb bis drei Stunden dauert das, aber dann sind wir auch durch damit, ne."
Wenn man seine Kandidaten so gut zu kennen glaubt, fragt man sich allerdings schon, wie es dann zu solchen Schöffen kommen kann, die als „lustige" Anekdoten über die Gerichtsflure geistern. Amtsgerichtsdirektor Jürgen Possehl:
"Dass man vielleicht manchmal ein bisschen aufpassen muss, wenn die Sitzung zu lange dauert, dass auch keiner von den Schöffen einschläft. Dass man auch schon mal erlebt hat, dass man den Schöffen darauf hinweist, dass er doch bitte seine Fingernägel nicht in seiner Sitzung, sondern vielleicht abends im Badezimmer schneidet. Oder dass es auch nicht so gut kommt, wenn man in der Sitzung Erdnüsse isst oder Nüsse knackt und ähnliches."
"Zwei Paar Augen und zwei Paar Ohren zusätzlich"
Und die Berufsrichter? Wie werden sie von den Schöffen erlebt?
Helmut Fokkena, große Hände, offener Blick, in über 30 Vereinen dabei, bedauert trotz seiner vielen Aktivitäten, dass er nun mit 67 sein Schöffenamt ((leider)) aufgeben muss. Helmut Fokkena ist ausnahmsweise nicht von einer Partei, sondern Ende der 90er-Jahre von einem Sozialverband nominiert worden. "Mit großer Freude", betont er immer wieder, habe er seinen Schöffendienst geleistet. Obwohl es anfangs, am Landgericht, gar nicht danach aussah:
"Also, die ersten Richter, die ich erlebt habe, die waren so, na ja, hab ich mich gefragt, was soll ich als Schöffe hier? Die waren also sehr selbstherrlich, aber im Laufe der Zeit hat sich also wesentlich verändert. Die Schöffen wurden mehr beachtet, mehr einbezogen. Die Richter wurden jünger. Ich erinner mich an einen Prozess hier beim Amtsgericht Oldenburg, das fand ich auch toll, da hat die Richterin erstmal die Schöffen vorgestellt, Das ist Herr Fokkena, das ist Frau Soundso, das sind die Schöffen, ich bin Frau Soundso, in über 20 Jahren einmalige Vorstellung."
Einmalige Vorstellung! Damit ist Dr. Melanie Bitter gemeint. Sie ist nach Promotion und Universitätsjahren erst 2007 in die Justiz eingetreten. Seit 2009 ist sie Vorsitzende des Schöffengerichts am Amtsgericht Oldenburg:
"Ich bin grundsätzlich ein Befürworter des Schöffensystems. In einer Hauptverhandlung muss ich mich auf viele Dinge gleichzeitig konzentrieren. Wenn ich den Zeugen vernehme, mach ich mir gleichzeitig Stichpunkte. Ich muss Vorhalte aus der Akte machen, und da nehm ich nicht alles wahr, was in der Verhandlung passiert, und die Schöffen sind dann zwei Paar Augen und zwei Paar Ohren zusätzlich, und das ist immer eine Erkenntnisquelle, die ich gerne nutze. Das andere ist, der Richter ist schon derjenige, der natürlich mehr Ahnung von den üblichen Straftarifen hat, der die rechtlichen Kenntnisse hat, aber dadurch, dass ich die Dinge auch den Schöffen begreiflich machen und erläutern muss, ist das eine Kontrolle für mich, und das schätze ich sehr."
Schöffenrichterin Melanie Bitter ist nicht nur bemüht, die Verhandlungsatmosphäre im Gerichtssaal so entspannt wie möglich zu gestalten, sondern auch das Klima im Besprechungszimmer, wo sie mit den Schöffen zu einem begründeten Urteil kommen muss:
"Ich sprech die dann auch drauf an, sag denn auch so: Sie mögen den nicht, ne? Aber Sie wissen ja, deswegen verurteilen wir ihn nicht. Schon haben wir wieder ne sachlichere Ebene erreicht. Das liegt dann auch viel an meiner Verantwortung als diejenige, die halt mehrfach die Woche Sitzungen hat, solche Schwellen auch zu erkennen."
Dass die Berufsrichterin auch ihre eigenen Gefühle thematisiert, um ein Verfahren wieder dahin zu bringen, wohin es im Gericht gehört, nämlich auf die sachliche Ebene, ist auch bei jüngeren Richtern eine ungewohnte und ganz besondere Qualität. Wer nimmt seine richterliche Aufgabe schon so ernst?
"Ich hatte mal ein Verfahren, da fand ich den Angeklagten ganz schrecklich. Und wir hatten eine Zwischenberatung, und ich hab den Schöffen gesagt, ich muss das jetzt mal sagen, das muss mal kurz raus. Und der eine Schöffe guckte mich ganz erschüttert an, sag ich zu ihm, wissen Sie, jetzt geht's mir besser. Jetzt kann ich ihm auch wieder unvoreingenommen gegenüber treten und mir überlegen, hat er auch ne Straftat begangen oder nicht. Und ich glaube, man muss sich ganz klar bewusst werden, was für Gefühle hat man, und woher kommen die."
Zwei problematische Typen
Gute Schöffen, nicht so gute Schöffen. Gute Richter, nicht so gute Richter. Dass es mittlerweile immer mehr Richterinnen gibt, tut dem Berufsrichterstand offensichtlich sehr gut, nicht nur optisch. Sie dächten nicht so hierarchisch, seien nicht so karrierebeflissen und in der Verhandlungsführung souveräner, hört man von den Schöffen. Allerdings sind Richter auch nicht über jeden Schöffen an ihrer Seite glücklich:
"Es gibt zwei Typen, die sind ganz problematisch. Das eine sind Menschen, die eigentlich nicht soviel mitbekommen oder aus irgendwelchen Gründen intellektuell nicht in der Lage, so einer Hauptverhandlung ordentlich zu folgen. Und ein weiterer Schöffentypus ist problematisch, das sind, ich nenn es mal etwas despektierlich: die Weltverbesserer. Und da ist es ganz einfach so, ich bin an Recht und Gesetz gebunden, wenn eine Straftat stattgefunden hat und das Gesetz schreibt dafür Mindestfreiheitsstrafen vor, dann hilft mir eine Diskussion darüber, wie sinnvoll die Drogenpolitik und die Drogengesetzgebung zum Beispiel ist, nicht viel weiter. Und das ist auch schwierig, solche Schöffen dann wieder einzufangen und an den konkreten Fall heranzubringen."
Ortswechsel. Von Niedersachsen nach Bayern. Von Oldenburg mit seinen 140 000 Einwohnern nach München mit dessen 1,4 Millionen. Vom verstaubten Amtsgerichtsgebäude, Baujahr 1901, zum auch nicht einladenden Zweckbau aus den 70er Jahren mit seinen endlosen Fluren. Der Wahlausschuss am Amtsgericht Oldenburg musste 176 Schöffen wählen. Der Wahlausschuss am Amtsgericht München für seine Amts- und Landgerichte insgesamt 1 210 Schöffen aus der doppelten Zahl von Kandidaten aus München und seinen 29 Landkreisgemeinden. In Bayern versucht man, mit Hilfe der statistischen Daten einen Querschnitt der Bevölkerung auszuwählen. Beim aktuellen Jahrgang legte man noch ein besonderes Gewicht auf Schöffen mit Migrationshintergrund. Zwei Tage sind die sechs gewählten Münchner Stadträte und ein Verwaltungsbeamter unter dem Vorsitz von Strafrichter Rolf-Dieter Madlindl mit der Wahl beschäftigt. Bei diesem ganzen Aufwand wäre es schon gut, wenn sich die Bewerber vorher informierten, was auf sie zukommt, stöhnt der Leiter des Schöffenwahlausschusses. Denn sobald die 1210 Schöffen „berufen" worden seien, hätte er auch schon an die Hundert Entbindungsanträge auf dem Tisch:
"Wenn Sie halt sagen, den nehm ich jetzt raus, den Schöffen, aus dem und dem Grunde, dann muss das auch mit dem Gesetz übereinstimmen, das ist das, was viele nicht ein sehen, weil viele ihr persönliches Problem sehen. Dann schreibt halt jetzt die Oma, dass ihre Tochter doch das dritte Kind bekommen hat und sie als Oma einspringen muss und sonstwas. Was halt auffällig ist, nach den ersten Sitzungen kommt so ne Welle, also, angeblich haben die sich ja alle freiwillig beworben."
Einmal gewählt, lässt sich das kaum wieder rückgängig machen. Selbst Alkoholausfälle, die das Gericht ja erst in den Verhandlungen mitbekommt, sind höchstens ein Grund, den betroffenen Schöffen von der einen Verhandlung, aber nicht ganz aus seinem Schöffenamt zurückzuziehen. Einem Schöffen kann man nicht kündigen. Darin sind Schöffen und Berufsrichter gleich. Beklagen sich bei Rolf-Dieter Madlindl auch Schöffen über Richter? „Extreme Einzelfälle", meint der Abteilungsleiter für Allgemeine Strafsachen im größten Amtsgericht Bayerns, und extrem schwierig zu behandeln, betrifft das doch immer auch die „richterliche Unabhängigkeit". Und die gelte eben auch für beide, für Berufsrichter wie für Schöffen. Nur, Berufsrichter haben eine Personalakte. Die haben Schöffen nicht:
"Was man macht, man bespricht schon mal Dinge, wenn man was hört. Dass man mal sagt, unter vier Augen, was ja schon heikel ist wegen der Unabhängigkeit, aber dann redet man halt mit dem Richter, wie er das gesehen hat, was er da gemacht hat und wie das vielleicht möglicherweise auch ankommt. Und die werden ja auch beurteilt, was ja auch möglicherweise für das berufliche Fortkommen von Bedeutung sein könnte!"
Akribische Vorbereitung
Im Personalrat der Stadt München hat Sonja Doff viel mit Bewertungen über junge Auszubildende zu tun. Deshalb wollte und wurde sie als Jugendschöffin berufen. Konsequenz in der Erziehung" könnte man auch das Konzept von Jugendgerichten nennen, bei dem es eher um "Maßnahmen" als um Gefängnis geht. Konsequent werde dem Schöffenpaar eingeschärft, die "Elternrolle" zu übernehmen. Deshalb ist es obligatorisch an Jugendgerichten, dass immer ein Mann und eine Frau da sitzen. Eine Aufgabe, die Empathie und Distanz fordert und die, so Sonja Doff, manchmal auch zermürben kann:
"Es ist oft der Fall, dass junge Menschen bedingt durchs Elternhaus in solche Situationen kommen. Und da kommt dann schon Wut dem Elternhaus gegenüber, ändert aber nichts an der Tatsache, dass der junge Mensch das angestellt hat. Und das ist so'ne Gratwanderung. Die innerliche Wut, die innerliche Mutter, die da zum Vorschein kommt und dann aber trotzdem sagen muss, es hilft nichts, er oder sie hat diese Tat begangen, auch wenn's vom Elternhaus her nicht gestimmt hat, die Eltern haben nicht die Tat begangen, die angeklagte Person hat das gemacht, sie ist nicht dazu gezwungen worden. Jetzt muss sie auch dafür grade stehen."
Klar, manchmal komme es vor, dass der ganze Clan des Angeklagten auf den Zuhörerbänken sitzt und das Geschehen nicht gerade mit freundlicher Aufmerksamkeit verfolgt. Einmal habe sie deshalb auch mit ihrem Mitschöffen unter Polizeischutz einen anderen Ausgang nehmen müssen, erzählt Sonja Doff. Aber Angst, weil man, wie das Sprichwort sagt, „sich immer zweimal sieht"? Nein, die habe sie nie. Und wenn man sich vielleicht mal später über den Weg läuft, was ja auch in einer Großstadt wie München vorkommen kann? Dann weiß Sonja Doff, was sie der Neutralität ihrer Schöffenrolle schuldet:
"Ich hatte einmal eine Person gesehen, ja, die Person hat auch mich erkannt. Aber wir haben beide nicht zu erkennen gegeben, dass wir uns kennen. Das ist auch gut so. Weil, das ist ein abgeschlossenes Kapitel, das darf nicht immer wieder mit herangezogen werden. Das ist abgeschlossen, das Kapitel, und von daher ist es gut."
Wem nützt welche Strafe?
Mit 70 ist es dann auch gut gewesen, meint Herbert Beimler, der Ende 2013 seine zweite Schöffenperiode an der Großen Strafkammer am Landgericht München abgeschlossen hat. Der Familienvater und Golfspieler hatte genug Erfahrungen als Geschäftsmann gesammelt, bevor er, wie er sagt, seinem "Gerechtigkeitssinn eine Chance geben" wollte. Dazu hatte er sich damals akribisch vorbereitet und am Gericht den "Einführungsvortrag" mit anschließendem Besuch einer Justizvollzugsanstalt absolviert. Eine Erfahrung, die ihn nachhaltig für seine Schöffenzeit prägen sollte:
"Also, dieses paradiesische Gefängnis, von dem manche Leute sprechen, existiert immer nur im Fernsehen. Die Zellen sind mickrig, etwa zwei Meter breit, zwei Meter lang, ein Doppelstockbett drin, eine Nasszelle, die also wirklich mickrigst ist, und ein ausklappbarer Tisch mit zwei primitiven Stühlen. Und ein vergittertes Fenster natürlich. So, kann ich nur sagen, sollte kein Mensch leben müssen, wenn er nichts verbrochen hat."
Herbert Beimlers Credo lautete danach immer, wem nützt welche Strafe? Wenn niemand etwas davon hat und nur irgendein Paragraph erfüllt wird? Für ihn war immer klar, dass er als Schöffe schaut, was "der Gesellschaft als ganzer gut tut". Wie in dem folgenden Fall, wo ein erwachsener Mann zufällig anhand eines Bluttests seiner Tat als Jugendlicher überführt wurde:
"Und dann hat man festgestellt, dass er vor 17 Jahren mal einen Einbruchdiebstahl begangen hat, mit Freiheitsberaubung und paar so Scherzen. Und nach 17 Jahren hat der ein Verfahren bekommen. Und er hat inzwischen Frau, zwei Kinder, und alles läuft super. Und den Menschen jetzt da aus der Situation wieder rauszunehmen und ins Gefängnis zu setzen - eine Familie mit zwei Kindern unversorgt da zu lassen und so weiter - da hab ich also alles versucht und zum Schluss auch erreicht, dass der - obwohl der Richter sagte, ich kann das eigentlich gar nicht, ich kann dem nicht zustimmen. Das ist der Punkt, wo ich sage: Da geht mein Verständnis als Staatsbürger einfach nicht mit dem Formaljuristischen, hier gibt's eine Strafandrohung, und die muss, die geht da nicht mit überein. Und wir haben dann auch einen Weg gefunden, dass der nicht ins Gefängnis musste. Da hab ich das Gefühl gehabt, dass mein Einsatz wirklich manchmal sinnlos war, aber in dem Fall war er ganz bestimmt sinnvoll."
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