„Der Westcoast-Mythos“ von 1973 wiederveröffentlicht

Skizze einer traurigen Ausverkaufsgeschichte

08:03 Minuten
Ein orangfarbener VW Bus mit Surfboards auf dem Dach und einem Peace-Zeichen anstelle des VW-Emblems.
War es Mythos oder Schwindel? © Unsplash / Tyler Nix
Von Sonja Eismann · 25.05.2022
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Surfsounds, Hippie-Ideologie und die Idee der Befreiung durch Musik: Die deutsche Musikjournalistin Ingeborg Schober schrieb vor knapp 50 Jahren als eine der ersten über die neuen Pop-Entwicklungen an der US-Westküste – und sah bereits die Schattenseite.
Vor mehr als 50 Jahren wurden an der amerikanischen Westküste die wahrscheinlich größten Mythen der Popkultur ausgebrütet, die bis ins Heute strahlen: Die Entstehung von Surfsounds, die Peace-, Love-and-Happiness-Ideologie der Hippies und die Vorstellung einer Befreiung durch Musik und Happenings. Die deutsche Musikjournalistin Ingeborg Schober, die erst vergangenes Jahr anhand einer Anthologie ihrer Texte wiederentdeckt wurde, schrieb als eine der ersten über diese neuen Pop-Entwicklungen. Von den durchgeknallten Beach Boys über die pychedelischen Byrds bis zu den politisch engagierten Jefferson Airplane kommen in ihrer jetzt als Buch wiederveröffentlichen Artikelreihe „Der Westcoast-Mythos“ aus dem Jahr 1973 alle vor.
Darin blickt Schober auf ein Phänomen zurück, das damals gerade erst seit einigen Jahren existiert – für uns heute aber bereits mehr als 50 Jahre alt ist. Dieser zweifache Zeitsprung ist beim Lesen tatsächlich erst einmal eine Herausforderung. Zumal die Erwartungshaltung, aus diesem Buch aus erster Hand zu erfahren, wie es damals mittendrin in der Westcoast-Musikszene „wirklich“ war. Ingeborg Schobers fünfteilige Serie für die Musikzeitschrift „Sounds“ aus dem Jahr 1973 über diese damals neuen musikalischen Entwicklungen endet aber 1972. Und der Untertitel der Serie lautet: „Eine leicht verklärte Erinnerung“. Auch die Herausgeberin Gabriele Werth merkt in ihrem Vorwort an: „Heute ist der Blick zurück ein anderer als der von 1973, denn für uns liegt alles in derselben Vergangenheit.“

Einordnung von Phänomenen wandelt sich

Doch genau dieser Umstand macht das Buch auch so interessant: Weil uns damit ganz deutlich vor Augen geführt wird, wie sehr Musikjournalismus oder auch Popgeschichte jeweils ein Produkt ihrer eigenen Epoche sind; und dass es keine endgültigen Einordnungen von Phänomenen geben kann, sondern dass diese sich – je nach Zeitkontext – ständig wandeln. Besonders deutlich wird das, wenn Ingeborg Schober beschreibt, wie sich Jerry Garcia und Bob Hunter kennenlernen, die später gemeinsam in der Band Grateful Dead sein werden: Sie treffen sich in Palo Alto, das von Schober als „Künstlernest, Treffpunkt für die ausgeflipptesten Beatniks, Herumhänger und Verlorengegangenen“ beschrieben wird.
Heute ruft Palo Alto wahrscheinlich mehrheitlich Assoziationen an die heftigsten Auswüchse des Silicon Valley und datenkapitalistische Unternehmen wie Facebook hervor, das dort seinen Sitz hatte. Doch Schober skizziert mit ganz wenig zeitlichem Abstand schon klarsichtig eine recht traurige Ausverkaufsgeschichte: Wie die großen Plattenfirmen sich auf die neuen „Hippiebands“ gestürzt haben und ihnen horrende Summen angeboten haben – und auf einmal in Haight-Ashbury in San Francisco ständig Kamerateams und Touris zwischen den Hippies herumstolperten.
Ingeborg Schober hat diese prototypische Erfolgs- und Verfallsgeschichte vom Aufstieg aus dem Underground in den Mainstream am Beispiel von Gruppen wie den Community-orientierten Grateful Dead bis hin zu den kommerziell erfolgreichen Doors quasi modellhaft beschrieben. Das ist der Anfang einer langen Geschichte von Subversion und Aufgehen im profitorientierten Popbusiness, die hier zum ersten Mal im Detail ausbuchstabiert wird. In einem Interview mit Marty Balin von Jefferson Airplane wird auf fast rührende Weise deutlich, wie sehr es den Protagonistinnen und Protagonisten damals um gesellschaftliche Veränderung ging und wie ernst sie das meinten.

Lange vergessene Pionierin

Heute würde man natürlich einen anderen musikjournalistischen Zugang wählen. Jede Zeit hat ihre eigenen Schreibweisen und Perspektiven. Aber um die entwickeln zu können, braucht es eine Kenntnis des Archivs – und damit auch von wegweisenden Personen wie Ingeborg Schober, die ja trotz ihrer Pionierrolle lange Zeit vergessen war.
Auffällig ist, wie beinahe versessen Ingeborg Schober darauf war, Namen und Orte zu benennen. Vermutlich, weil es damals extrem schwierig war, an gesicherte transatlantische Informationen – zumal aus dem „Underground“ – zu kommen. Und vermutlich auch, weil sie gerade als Frau in einem Männerbusiness beweisen wollte beziehungsweise musste, dass sie alle Fakten und Akteurinnen und Akteure besser als alle männlichen Kollegen kennt. Ihre Informationen bezog sie – in dieser Vor-Internet-Zeit – aus amerikanischen Magazinen wie „Rolling Stone“, „Creem“ oder „Crawdaddy“. Vor allem stützte sie sich aber auf die „Rock-Encyclopedia“ ihrer geschätzten, leider schon 1973 verstorbenen Kollegin Lillian Roxon.

Geschlecht kaum thematisiert

Aber auch wenn diese beiden sich als Ausnahmefrauen in einer Männerdomäne sicher besonders verbunden fühlten, werden Kategorien wie Geschlecht oder auch ethnische Zugehörigkeit im „Westcoast-Mythos“ kaum thematisiert. Schobers große Bewunderung für Grace Slick von Jefferson Airplane wird deutlich. Aber das antirassistische Civil Rights Movement, Schwarze Musikerinnen und Musiker oder die damals aufblühende Frauenbewegung kommen nicht oder nur am Rande vor.
Doch genau dadurch wird das Buch zu einem wichtigen Zeitdokument. Weil es zeigt, dass es damals als weiblich positionierte Kritikerin wohl schwer möglich war, all diese Dinge gemeinsam zu thematisieren, ohne sich angreifbar zu machen. Daraus können wir auch heute noch viel lernen. zum Beispiel, dass alle radikalen oder emanzipatorischen Bewegungen eben doch immer Leerstellen haben.

Ingeborg Schober: „Der Westcoast-Mythos. Eine leicht verklärte Erinnerung“, herausgegeben von Gabriele Werth, Verlag Andreas Reiffer, Meine, 2022

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