Schneller, billiger, klüger
In den Telefonkabinen indischer Bürotürme in den Satellitenstädten vor Mumbai und Neu Delhi befragen Gastarbeiter aus aller Welt Angestellte großer Hotelketten nach dem Pay-TV Umsatz ihrer Gäste oder Makler in Berlin nach der Lage auf dem dortigen Immobilienmarkt. Sie leiten Trucker durch den Verkehr amerikanischer Städte, ohne dass die merken, dass ihre Anfragen nicht von einem Service-Center der eigenen Region, sondern aus dem tausende Kilometer entfernten Indien beantwortet werden. Call-Center sind Kinder der Globalisierung. Neben Irland ist Indien eine Hochburg der Dienstleistungen, die über Telefon und Internet abgewickelt werden können. Auch wenn die Arbeitsabläufe in indischen Call-Centern stark reglementiert und kontrolliert sind, für die Angestellten ist ein Job in einem der Bürotürme in den neu entstandenen Technologieparks ausgesprochen attraktiv. Gerd Brendel hat die Retortenstadt Gurgaon besucht.
"Guten Morgen! Heute wollen wir in unserer Theater-AG unsere Stimme trainieren. Es kommt darauf an, den Ton mit dem ganzen Körper zu spüren."
"Start saying a, making your whole body feel that Ahhhh....... Ahh... can you feel the vibration?"
20 Männer und Frauen laufen vor Arbeitsbeginn durch ein leer geräumtes Büro, auf der Suche nach dem inneren Klang. Sie gehören zum Heer der Call-Center-Mitarbeiter, Reklame-Psychologen, Marktforscher und Patentrechts-Experten von Gurgaon.
Reklame: "A flavour of Gurgaon it is a start up atmosphere about."
Im Reklame-Video einer großen Internet -Firma klingt der Name der nordindischen Retorten-Stadt wie ein Versprechen: Vom Dehli Highway Nr. 8 ragen Wolkenkratzerinseln aus dem Ödland. Gurgaon ist so, wie der Rest von Indien gerne sein möchte: Modern, global, weltgewandt: In den Großraumbüros hinter den verspiegelten Fassaden tragen die Chefs Anzug und ihre Sekretärinnen Jeans. Sari, Sandalen und Pyjama Kurta, die traditionelle Tracht indischer Männer, trägt hier niemand.
Noch sind die zwei Millionen Programmierer, Telefonisten und Marktanalysten nur eine Minderheit auf dem indischen Arbeitsmarkt. Aber das soll sich ändern, zumindest nach dem Willen von Unternehmern wie Ashish Gupta:
"Wir haben vor siebeneinhalb Jahren angefangen und sind heute vermutlich einer der größten Dienstleister weltweit."
Ashish Gupta ist Herr über 2500 Angestellte. Seine Firma bietet Dienstleistungen zu Spottpreisen.
"Alles von Marktforschung über Anlageberatung bis hin zum Patentrecht."
Vom Autohersteller in den USA bis zum Schweizer Pharmaunternehmen: Guptas Computerarbeiter recherchieren für ihre Kunden im Netz, verschicken Fragebögen, betreiben Marktforschung im Internet und am Telefon. Rund um die Uhr. Sie alle profitieren vom Standortvorteil Indien.
"Unser Vorteil lässt sich mit drei Stichworten zusammenfassen: Kosten, Qualität und Zeit: Natürlich können wir billiger arbeiten als die Konkurrenz in Europa oder Amerika, aber wir arbeiten auch schneller. Dauert eine Patentanmeldung für eine US-amerikanische Kanzlei normalerweise ein halbes Jahr, dann erledigen wir das in sechs bis acht Wochen. Nicht weil wir klüger sind, sondern weil wir mehr gut ausgebildete Leute für weniger Geld daran setzen können."
An seinem ersten Arbeitstag vor acht Jahren mietete sich Gupta ein kleines Büro. Mittlerweile belegt seine Firma Evalueserve einen halben Büroturm im hochmodernen und luxuriösen Lynx-Komplex, fünf Hochhäuser mit einem künstlichen Springbrunnen in der Mitte. Das Cafe im Erdgeschoss bietet täglich wechselnde Kaffee-Latte-Geschmacksrichtungen. Die Pizzeria nebenan wirbt mit extra knuspriger Käsekruste. Und zehn Etagen höher blickt Gupta optimistisch in die Zukunft - trotz weltweiter Wirtschafts- und Finanzkrise.
"Wir sind nicht nur billiger, wir haben auch frische Talente, die Ihrer Bevölkerung fehlen: In Europa und den USA werden die Leute immer älter. Hier in Indien gibt es 700 Millionen Menschen unter 35 Jahren, und 500 Millionen unter 25."
Doch der demographische Vorteil hat auch seine Schattenseite: Noch immer können die Hälfte aller weiblichen und ein Viertel aller männlichen Inder weder lesen noch schreiben. So wie die Hochhaustürme Gurgaons wie Raumschiffe aus einer anderen Zeit über dem Flickenteppich aus Brachland und Feldparzellen thronen, so wenig hat der Arbeitsalltag hinter ihren Fassaden mit dem Rest Indiens zu tun: Das Land lebt von der Agrarwirtschaft. Familien und Kastenzugehörigkeit spielen nach wie vor eine große Rolle.
Das weiß auch der Chef von Evalueserve. Der 40-jährige Ashish Gupta gehört zur neuen Klasse indischer Manager, die in der globalisierten Wirtschaftswelt zuhause sind. Vor Ort kämpft er gegen Bürokratie und ein traditionelles Gesellschaftsbild.
"Die größte Herausforderung für einen Manager in Indien ist das tief verwurzelte hierarchische Denken: Darum spielen in Firmen wie unseren Kastenzugehörigkeit oder Alter keine Rolle. Hier herrscht Meritokratie - jeder wird nur nach Leistung bewertet."
"Nichts bleibt unbeobachtet, jeder gute Job fällt auf."
... übersetzt die Frau im Image-Spot einer Gurgaon-Nachbarfirma das Prinzip.
Reklame: "If I do a job well, that gets noticed."
Und wenn jemand seinen Job nicht gut macht?
"Das ganze System beruht auf Leistung. So habe ich es bisher in keiner anderen Firma erlebt."
Statt einer Antwort wiederholt Annika Bahl, die alle nur mit Annika ansprechen, das Firmenprinzip. Um zu verhindern, dass Kollegen auf die eigene Kastenzugehörigkeit schließen können, ist die Anrede mit dem Vornamen die Regel. Annika ist eine der jungen indischen Talente, die der "CEO", der chief executive, gerne für den Indien-Boom verantwortlich macht.
"Kurz nach meiner Heirat bin ich mit meinem Mann in die USA, in den Mittleren Westen gegangen. Dort habe ich als Software-Entwicklerin gearbeitet, bis wir von Evalueserve hörten."
... und den besseren Verdienstmöglichkeiten in der Heimat.
"Darum bin ich wieder zurückgekommen. Heute muss ich nicht zweimal überlegen, bevor ich mir etwas kaufe. Ich habe ein Auto und wir haben ein schönes Haus."
Reklame: "Welcome to a lifestyle unlike any other.. nestled in the heart of gurgaon .. enjoy a secure neighbourhood.""
Mit wie viel Geld sie ihr Arbeitgeber gelockt hat, darf Annika nicht verraten. Auf jeden Fall aber reicht es für die im Reklamespot von Gurgaon gepriesene gute, "sichere" Nachbarschaft.
Bis jetzt. Denn längst hat die Krise auch Gurgaon erreicht. Als erstes fielen die Immobilienpreise. Auf der Riesenbaustelle einer neuen Shopping Mall stehen jetzt die Bagger still und die Luxus-Apartments in Annikas Nachbarschaft sind mit einem Mal ein Drittel weniger wert. Europäische und amerikanische Banken haben in ihren Call-Centern in Gurgaon Angestellte entlassen und auch in der Recherche-Branche wird gespart, weil Kunden aus Übersee weggebrochen sind: Für Annika bedeutet das mehr Überstunden und kürzere Pausen. Es ist Nachmittag. Wie so oft, hat Annika erst jetzt Zeit für ihre Mittagspause, zu spät für ein warmes Gericht.
Während ihrer Zeit in den USA hat Annika ehrenamtlich für ein Frauenprojekt gearbeitet. Hier in Indien unterrichtet sie Kinder von Bauarbeitern in den wilden Siedlungen vor ihrem Hochhausbüro in einer der beiden Grundschulen, die ihre Firma gestiftet hat.
"Hier leben viele Bauarbeiter und ihre Kinder brauchen eine einfache Schulausbildung. Also unterrichten wir sie. Neulich habe ich ihnen zum Beispiel beigebracht, wie man sich in einer Schlange anstellt."
Für das soziale Klima innerhalb der Firma sind spezielle Fachkräfte zuständig. Interessenskonflikte zwischen Firmenleitung und Angestellten kann sich Annika nicht vorstellen.
"Gewerkschaften? Nein, die haben wir hier nicht. Das ist was für Arbeiter in Fabriken."
Oder auch nicht: Die Bau- und Fabrikarbeiter, deren Kinder Annika in ihrer Freizeit unterrichtet, fordern seit Jahren Gewerkschaften. Sie arbeiten für die US-amerikanische Kaufhauskette Wall-Mart oder nähen Hemden und Hosen für den europäischen Markt. Zwischen ihrem und Annikas Arbeitsplatz liegen nicht nur zehn Hochhausetagen. Im Kampf um eine Krankenversicherung, mehr Lohn, Kündigungsschutz und Konfliktlösungs-Strategien, wie Annika sie kennt - liegen Welten.
"Im Einstellungsgespräch finden wir heraus, ob die Interessen der Firma mit den Plänen des Kandidaten übereinstimmen. Ehrlich gesagt, kann ich mir nicht vorstellen, dass jemand, der ein Problem mit der Firma hat, sich überhaupt bewirbt. Im Prinzip will unsere Organisation, dass die Angestellten glücklich sind."
Für den Fall, dass die Firma mit einem ihrer Angestellten nicht glücklich sein sollte, gelten vier Wochen Bewährungsfrist nach der ersten Abmahnung. Dann wird gekündigt.
Reklame: "Es ist aufregend, jeden Morgen mit Leuten zusammen zu arbeiten, die ihr Bestes geben wollen."
Zum Besten, was Evalueserve zu bieten hat, gehören die Dienste der rund 50 nichtindischen Gastarbeiter für die französischen, spanischen oder deutschen Kunden.
"Was mir an unseren ausländischen Kollegen gefällt, ist, dass sie sich von der indischen Kultur begeistern lassen. Sie wissen, was sie wollen, und bringen das klar zum Ausdruck."
... sagt Annika über ihre Kolleginnen und Kollegen aus Europa, wie Christina aus Deutschland.
"Schönen Tag! Ich heiße Christina Netresko, ich ruf Sie von Evalueserve in Indien an. Wir arbeiten derzeit an einem Projekt im Bereich … und ich wollte Sie fragen, ob Sie mir helfen können."
Den typischen Eröffnungssatz für eine Telefonumfrage hat Christina Netresko nur fürs Mikrofon aufgesagt. Die Bremerin hat schon lange keine deutschen oder österreichischen Ärzte nach Pharma-Unternehmen, Software-Administratoren nach Computerprogrammen oder Manager nach dem Markt für alles mögliche von Klimaanlagen bis Versicherungen ausgefragt.
"Hab mein Psychologie-Studium abgeschlossen, ein paar Praktika in der Wirtschaft gemacht und mir dann überlegt, dass ich gerne noch mal ins Ausland gehen würde, weil ich das während des Studiums nicht gemacht hab. Evalueserve war die Firma, die auf meine Bewerbung am schnellsten geantwortet hat. Wusste am Anfang nicht, wie lange, wollte erst ein halbes Jahr hier sein, und bin jetzt zwei Jahre hier."
Ihr indischer Arbeitsplatz ist Christinas erste Festanstellung. Mittlerweile ist sie aufgestiegen von der Telefon-Befragerin zur "Quality-Managerin", die die Telefon-Gespräche ihrer deutschsprachigen indischen Kollegen bewertet.
"Mittlerweile bin ich in 'nem Projekt, was gar nichts mehr mit Deutsch zu tun hat. Es ist 'ne Studie über die Effektivität von Anzeigen. Unser Kunde macht das Projekt für einen großen Automobilhersteller in den USA und dieser Automobilhersteller möchte wissen, ob seine Werbung effektiv ist. 5000 US-Bürger bekommen eine Einladung, diese Online-Studie durchzuführen, und die gucken sich verschiedene Auto-Werbung an, die auch in echt im Fernsehen laufen. Und die müssen dann sagen, fand ich die Werbung lustig, langweilig usw. Die Daten werden ausgewertet, wir stellen Berechnungen an, bestimmte statistische Dinge und am Ende schicken wir unserem Kunden Exel-Blätter oder Powerpoint Präsentationen.Unser Kunde geht dann zum Endkunden und präsentiert dem das."
"Hier ist mein wundervoller Arbeitsplatz."
Ein Computerbildschirm, ein Telefon. Brusthohe Stellwände markieren die Grenze zum nächsten Arbeitsplatz. Hinter dem Rechner kleben Postkarten-Grüße aus der Heimat.
"Was mir fehlt? Ordentlicher Käse! Plus Mobilität fehlt. Ich geh sehr viel ins Kino.. man sitzt zusammen.. quatscht geht was essen.. normales WG-Leben, aber was anders ist, ist dass man eingeschränkt ist, was Mobilität anbetrifft, gerade als Mädchen ist es nicht unbedingt sicher. Hier sieht man nachts auf der Straße sowieso keine Frauen allein."
Nach Feierabend verabredet man sich mit den einheimischen Mitarbeitern höchstens zum Kino oder zum Einkaufen in einer der Shopping Malls von Gurgaon, deren Warenangebot sich nicht von dem in Europa oder den USA unterscheidet.
Ihre Wohnung und Christinas firmeneigenes Appartementzimmer liegen keine fünf Kilometer voneinander entfernt, aber Berührungspunkte gibt es kaum.
"Die Ausländer werden zusammen gepackt."
Christina teilt die Wohnung mit zwei europäischen Kollegen.
"Haben zu dritt ein Appartement ... ist möbliert, na ja dann hängt man sich ein paar Fotos von Zuhause an die Wand und ein paar Poster. Im Grunde ist es 'ne Wohnung wie in Deutschland … nein, das stimmt nicht, aber für Indien ist es 'ne gute Wohnung. Jeder hat sein eigenes Badezimmer, wir haben den Luxus einer Putzfrau, die jeden Morgen kommt."
Journalisten soll Christina ihre Wohnung nicht zeigen. Die Firmenleitung möchte die Privatsphäre ihrer ausländischen Kollegen schützen - lautet die offizielle Version. Im letzten Zeitungsbericht seien die Lebensbedingungen der Gastarbeiter aus Europa zu negativ geschildert worden, verrät Christina später bei einem Abendessen.
Die meisten von Christinas europäischen Kollegen kehren nach ein bis drei Jahren zurück. Will sie bleiben?
"Ich glaube, nicht in Indien. Das Gute ist, dass die Firma überall Standorte hat. Auf Dauer würde ich mich hier nicht niederlassen wollen."
An die sozialen Unterschiede zwischen dem Retorten-Luxus in den Wohnblocks und der Armut oft nur einen Steinwurf entfernt von den gläsernen Hochhaustürmen, könnte sich Christina Petresko auf Dauer nicht gewöhnen.
Auch Kollegin Annika denkt beim Stichwort Zukunft weiter, als bis zur nächst höheren Besoldungsgruppe bei Evalueserve.
"Was meine Karriere anbetrifft, will ich später meine eigene NGO gründen. Da werden mir dann die Erfahrungen helfen, die ich hier im Management sammle."
Und wie sieht Ashis Gupta, Christinas und Annikas Chef, die Zukunft? Noch im vergangenen Monat präsentierte die Firma auf einem indisch-österreichischen Wirtschaftstreffen rosige Zahlen.
"Glück wird dem zuteil, der sich auf seinen vom Karma bestimmten Platz in der Welt besinnt, der die Aufgaben erfüllt, die von ihm erwartet werden, und nicht auf die materiellen Früchte seiner Handlungen sieht. Das steht klar im Widerspruch zum Kapitalismus. Aber es geht auch nicht darum, der Welt zu entsagen und ein Wanderemit, ein Saddhu zu werden, sondern darum, entsprechend seiner Stellung in der Welt zu handeln. Das ist der Weg zum wahren Glück."
Ein paar Stockwerke unter Guptas Büro stehen die Autos im Feierabendstau. Noch fällt kaum auf, dass viel weniger Firmentaxis und Kleinbusse die Mitarbeiter in ihre neuen Appartements bringen. Am Ende sind vielleicht sie es, die in der Krise einen höheren Preis zahlen als der Altmetallhändler, der seinen Büffelkarren mitten durch den Verkehr manövriert.
"Start saying a, making your whole body feel that Ahhhh....... Ahh... can you feel the vibration?"
20 Männer und Frauen laufen vor Arbeitsbeginn durch ein leer geräumtes Büro, auf der Suche nach dem inneren Klang. Sie gehören zum Heer der Call-Center-Mitarbeiter, Reklame-Psychologen, Marktforscher und Patentrechts-Experten von Gurgaon.
Reklame: "A flavour of Gurgaon it is a start up atmosphere about."
Im Reklame-Video einer großen Internet -Firma klingt der Name der nordindischen Retorten-Stadt wie ein Versprechen: Vom Dehli Highway Nr. 8 ragen Wolkenkratzerinseln aus dem Ödland. Gurgaon ist so, wie der Rest von Indien gerne sein möchte: Modern, global, weltgewandt: In den Großraumbüros hinter den verspiegelten Fassaden tragen die Chefs Anzug und ihre Sekretärinnen Jeans. Sari, Sandalen und Pyjama Kurta, die traditionelle Tracht indischer Männer, trägt hier niemand.
Noch sind die zwei Millionen Programmierer, Telefonisten und Marktanalysten nur eine Minderheit auf dem indischen Arbeitsmarkt. Aber das soll sich ändern, zumindest nach dem Willen von Unternehmern wie Ashish Gupta:
"Wir haben vor siebeneinhalb Jahren angefangen und sind heute vermutlich einer der größten Dienstleister weltweit."
Ashish Gupta ist Herr über 2500 Angestellte. Seine Firma bietet Dienstleistungen zu Spottpreisen.
"Alles von Marktforschung über Anlageberatung bis hin zum Patentrecht."
Vom Autohersteller in den USA bis zum Schweizer Pharmaunternehmen: Guptas Computerarbeiter recherchieren für ihre Kunden im Netz, verschicken Fragebögen, betreiben Marktforschung im Internet und am Telefon. Rund um die Uhr. Sie alle profitieren vom Standortvorteil Indien.
"Unser Vorteil lässt sich mit drei Stichworten zusammenfassen: Kosten, Qualität und Zeit: Natürlich können wir billiger arbeiten als die Konkurrenz in Europa oder Amerika, aber wir arbeiten auch schneller. Dauert eine Patentanmeldung für eine US-amerikanische Kanzlei normalerweise ein halbes Jahr, dann erledigen wir das in sechs bis acht Wochen. Nicht weil wir klüger sind, sondern weil wir mehr gut ausgebildete Leute für weniger Geld daran setzen können."
An seinem ersten Arbeitstag vor acht Jahren mietete sich Gupta ein kleines Büro. Mittlerweile belegt seine Firma Evalueserve einen halben Büroturm im hochmodernen und luxuriösen Lynx-Komplex, fünf Hochhäuser mit einem künstlichen Springbrunnen in der Mitte. Das Cafe im Erdgeschoss bietet täglich wechselnde Kaffee-Latte-Geschmacksrichtungen. Die Pizzeria nebenan wirbt mit extra knuspriger Käsekruste. Und zehn Etagen höher blickt Gupta optimistisch in die Zukunft - trotz weltweiter Wirtschafts- und Finanzkrise.
"Wir sind nicht nur billiger, wir haben auch frische Talente, die Ihrer Bevölkerung fehlen: In Europa und den USA werden die Leute immer älter. Hier in Indien gibt es 700 Millionen Menschen unter 35 Jahren, und 500 Millionen unter 25."
Doch der demographische Vorteil hat auch seine Schattenseite: Noch immer können die Hälfte aller weiblichen und ein Viertel aller männlichen Inder weder lesen noch schreiben. So wie die Hochhaustürme Gurgaons wie Raumschiffe aus einer anderen Zeit über dem Flickenteppich aus Brachland und Feldparzellen thronen, so wenig hat der Arbeitsalltag hinter ihren Fassaden mit dem Rest Indiens zu tun: Das Land lebt von der Agrarwirtschaft. Familien und Kastenzugehörigkeit spielen nach wie vor eine große Rolle.
Das weiß auch der Chef von Evalueserve. Der 40-jährige Ashish Gupta gehört zur neuen Klasse indischer Manager, die in der globalisierten Wirtschaftswelt zuhause sind. Vor Ort kämpft er gegen Bürokratie und ein traditionelles Gesellschaftsbild.
"Die größte Herausforderung für einen Manager in Indien ist das tief verwurzelte hierarchische Denken: Darum spielen in Firmen wie unseren Kastenzugehörigkeit oder Alter keine Rolle. Hier herrscht Meritokratie - jeder wird nur nach Leistung bewertet."
"Nichts bleibt unbeobachtet, jeder gute Job fällt auf."
... übersetzt die Frau im Image-Spot einer Gurgaon-Nachbarfirma das Prinzip.
Reklame: "If I do a job well, that gets noticed."
Und wenn jemand seinen Job nicht gut macht?
"Das ganze System beruht auf Leistung. So habe ich es bisher in keiner anderen Firma erlebt."
Statt einer Antwort wiederholt Annika Bahl, die alle nur mit Annika ansprechen, das Firmenprinzip. Um zu verhindern, dass Kollegen auf die eigene Kastenzugehörigkeit schließen können, ist die Anrede mit dem Vornamen die Regel. Annika ist eine der jungen indischen Talente, die der "CEO", der chief executive, gerne für den Indien-Boom verantwortlich macht.
"Kurz nach meiner Heirat bin ich mit meinem Mann in die USA, in den Mittleren Westen gegangen. Dort habe ich als Software-Entwicklerin gearbeitet, bis wir von Evalueserve hörten."
... und den besseren Verdienstmöglichkeiten in der Heimat.
"Darum bin ich wieder zurückgekommen. Heute muss ich nicht zweimal überlegen, bevor ich mir etwas kaufe. Ich habe ein Auto und wir haben ein schönes Haus."
Reklame: "Welcome to a lifestyle unlike any other.. nestled in the heart of gurgaon .. enjoy a secure neighbourhood.""
Mit wie viel Geld sie ihr Arbeitgeber gelockt hat, darf Annika nicht verraten. Auf jeden Fall aber reicht es für die im Reklamespot von Gurgaon gepriesene gute, "sichere" Nachbarschaft.
Bis jetzt. Denn längst hat die Krise auch Gurgaon erreicht. Als erstes fielen die Immobilienpreise. Auf der Riesenbaustelle einer neuen Shopping Mall stehen jetzt die Bagger still und die Luxus-Apartments in Annikas Nachbarschaft sind mit einem Mal ein Drittel weniger wert. Europäische und amerikanische Banken haben in ihren Call-Centern in Gurgaon Angestellte entlassen und auch in der Recherche-Branche wird gespart, weil Kunden aus Übersee weggebrochen sind: Für Annika bedeutet das mehr Überstunden und kürzere Pausen. Es ist Nachmittag. Wie so oft, hat Annika erst jetzt Zeit für ihre Mittagspause, zu spät für ein warmes Gericht.
Während ihrer Zeit in den USA hat Annika ehrenamtlich für ein Frauenprojekt gearbeitet. Hier in Indien unterrichtet sie Kinder von Bauarbeitern in den wilden Siedlungen vor ihrem Hochhausbüro in einer der beiden Grundschulen, die ihre Firma gestiftet hat.
"Hier leben viele Bauarbeiter und ihre Kinder brauchen eine einfache Schulausbildung. Also unterrichten wir sie. Neulich habe ich ihnen zum Beispiel beigebracht, wie man sich in einer Schlange anstellt."
Für das soziale Klima innerhalb der Firma sind spezielle Fachkräfte zuständig. Interessenskonflikte zwischen Firmenleitung und Angestellten kann sich Annika nicht vorstellen.
"Gewerkschaften? Nein, die haben wir hier nicht. Das ist was für Arbeiter in Fabriken."
Oder auch nicht: Die Bau- und Fabrikarbeiter, deren Kinder Annika in ihrer Freizeit unterrichtet, fordern seit Jahren Gewerkschaften. Sie arbeiten für die US-amerikanische Kaufhauskette Wall-Mart oder nähen Hemden und Hosen für den europäischen Markt. Zwischen ihrem und Annikas Arbeitsplatz liegen nicht nur zehn Hochhausetagen. Im Kampf um eine Krankenversicherung, mehr Lohn, Kündigungsschutz und Konfliktlösungs-Strategien, wie Annika sie kennt - liegen Welten.
"Im Einstellungsgespräch finden wir heraus, ob die Interessen der Firma mit den Plänen des Kandidaten übereinstimmen. Ehrlich gesagt, kann ich mir nicht vorstellen, dass jemand, der ein Problem mit der Firma hat, sich überhaupt bewirbt. Im Prinzip will unsere Organisation, dass die Angestellten glücklich sind."
Für den Fall, dass die Firma mit einem ihrer Angestellten nicht glücklich sein sollte, gelten vier Wochen Bewährungsfrist nach der ersten Abmahnung. Dann wird gekündigt.
Reklame: "Es ist aufregend, jeden Morgen mit Leuten zusammen zu arbeiten, die ihr Bestes geben wollen."
Zum Besten, was Evalueserve zu bieten hat, gehören die Dienste der rund 50 nichtindischen Gastarbeiter für die französischen, spanischen oder deutschen Kunden.
"Was mir an unseren ausländischen Kollegen gefällt, ist, dass sie sich von der indischen Kultur begeistern lassen. Sie wissen, was sie wollen, und bringen das klar zum Ausdruck."
... sagt Annika über ihre Kolleginnen und Kollegen aus Europa, wie Christina aus Deutschland.
"Schönen Tag! Ich heiße Christina Netresko, ich ruf Sie von Evalueserve in Indien an. Wir arbeiten derzeit an einem Projekt im Bereich … und ich wollte Sie fragen, ob Sie mir helfen können."
Den typischen Eröffnungssatz für eine Telefonumfrage hat Christina Netresko nur fürs Mikrofon aufgesagt. Die Bremerin hat schon lange keine deutschen oder österreichischen Ärzte nach Pharma-Unternehmen, Software-Administratoren nach Computerprogrammen oder Manager nach dem Markt für alles mögliche von Klimaanlagen bis Versicherungen ausgefragt.
"Hab mein Psychologie-Studium abgeschlossen, ein paar Praktika in der Wirtschaft gemacht und mir dann überlegt, dass ich gerne noch mal ins Ausland gehen würde, weil ich das während des Studiums nicht gemacht hab. Evalueserve war die Firma, die auf meine Bewerbung am schnellsten geantwortet hat. Wusste am Anfang nicht, wie lange, wollte erst ein halbes Jahr hier sein, und bin jetzt zwei Jahre hier."
Ihr indischer Arbeitsplatz ist Christinas erste Festanstellung. Mittlerweile ist sie aufgestiegen von der Telefon-Befragerin zur "Quality-Managerin", die die Telefon-Gespräche ihrer deutschsprachigen indischen Kollegen bewertet.
"Mittlerweile bin ich in 'nem Projekt, was gar nichts mehr mit Deutsch zu tun hat. Es ist 'ne Studie über die Effektivität von Anzeigen. Unser Kunde macht das Projekt für einen großen Automobilhersteller in den USA und dieser Automobilhersteller möchte wissen, ob seine Werbung effektiv ist. 5000 US-Bürger bekommen eine Einladung, diese Online-Studie durchzuführen, und die gucken sich verschiedene Auto-Werbung an, die auch in echt im Fernsehen laufen. Und die müssen dann sagen, fand ich die Werbung lustig, langweilig usw. Die Daten werden ausgewertet, wir stellen Berechnungen an, bestimmte statistische Dinge und am Ende schicken wir unserem Kunden Exel-Blätter oder Powerpoint Präsentationen.Unser Kunde geht dann zum Endkunden und präsentiert dem das."
"Hier ist mein wundervoller Arbeitsplatz."
Ein Computerbildschirm, ein Telefon. Brusthohe Stellwände markieren die Grenze zum nächsten Arbeitsplatz. Hinter dem Rechner kleben Postkarten-Grüße aus der Heimat.
"Was mir fehlt? Ordentlicher Käse! Plus Mobilität fehlt. Ich geh sehr viel ins Kino.. man sitzt zusammen.. quatscht geht was essen.. normales WG-Leben, aber was anders ist, ist dass man eingeschränkt ist, was Mobilität anbetrifft, gerade als Mädchen ist es nicht unbedingt sicher. Hier sieht man nachts auf der Straße sowieso keine Frauen allein."
Nach Feierabend verabredet man sich mit den einheimischen Mitarbeitern höchstens zum Kino oder zum Einkaufen in einer der Shopping Malls von Gurgaon, deren Warenangebot sich nicht von dem in Europa oder den USA unterscheidet.
Ihre Wohnung und Christinas firmeneigenes Appartementzimmer liegen keine fünf Kilometer voneinander entfernt, aber Berührungspunkte gibt es kaum.
"Die Ausländer werden zusammen gepackt."
Christina teilt die Wohnung mit zwei europäischen Kollegen.
"Haben zu dritt ein Appartement ... ist möbliert, na ja dann hängt man sich ein paar Fotos von Zuhause an die Wand und ein paar Poster. Im Grunde ist es 'ne Wohnung wie in Deutschland … nein, das stimmt nicht, aber für Indien ist es 'ne gute Wohnung. Jeder hat sein eigenes Badezimmer, wir haben den Luxus einer Putzfrau, die jeden Morgen kommt."
Journalisten soll Christina ihre Wohnung nicht zeigen. Die Firmenleitung möchte die Privatsphäre ihrer ausländischen Kollegen schützen - lautet die offizielle Version. Im letzten Zeitungsbericht seien die Lebensbedingungen der Gastarbeiter aus Europa zu negativ geschildert worden, verrät Christina später bei einem Abendessen.
Die meisten von Christinas europäischen Kollegen kehren nach ein bis drei Jahren zurück. Will sie bleiben?
"Ich glaube, nicht in Indien. Das Gute ist, dass die Firma überall Standorte hat. Auf Dauer würde ich mich hier nicht niederlassen wollen."
An die sozialen Unterschiede zwischen dem Retorten-Luxus in den Wohnblocks und der Armut oft nur einen Steinwurf entfernt von den gläsernen Hochhaustürmen, könnte sich Christina Petresko auf Dauer nicht gewöhnen.
Auch Kollegin Annika denkt beim Stichwort Zukunft weiter, als bis zur nächst höheren Besoldungsgruppe bei Evalueserve.
"Was meine Karriere anbetrifft, will ich später meine eigene NGO gründen. Da werden mir dann die Erfahrungen helfen, die ich hier im Management sammle."
Und wie sieht Ashis Gupta, Christinas und Annikas Chef, die Zukunft? Noch im vergangenen Monat präsentierte die Firma auf einem indisch-österreichischen Wirtschaftstreffen rosige Zahlen.
"Glück wird dem zuteil, der sich auf seinen vom Karma bestimmten Platz in der Welt besinnt, der die Aufgaben erfüllt, die von ihm erwartet werden, und nicht auf die materiellen Früchte seiner Handlungen sieht. Das steht klar im Widerspruch zum Kapitalismus. Aber es geht auch nicht darum, der Welt zu entsagen und ein Wanderemit, ein Saddhu zu werden, sondern darum, entsprechend seiner Stellung in der Welt zu handeln. Das ist der Weg zum wahren Glück."
Ein paar Stockwerke unter Guptas Büro stehen die Autos im Feierabendstau. Noch fällt kaum auf, dass viel weniger Firmentaxis und Kleinbusse die Mitarbeiter in ihre neuen Appartements bringen. Am Ende sind vielleicht sie es, die in der Krise einen höheren Preis zahlen als der Altmetallhändler, der seinen Büffelkarren mitten durch den Verkehr manövriert.