Schneller als Bus und Auto

Von Agnes Handwerk · 02.12.2009
Bis zum Jahr 2015 will die dänische Hauptstadt zur weltweit führenden Fahrrad-Metropole, zur ersten Velocity, werden. Schon jetzt ist Radfahren in Kopenhagen nicht mehr nur Ausdruck einer
umweltbewegten Minderheit.

Morgens im Berufsverkehr. Schaltet die Ampel an der Kreuzung zur Dronning Louises Bro, der Königin-Luise-Brücke, auf Rot, staut sich trotz strömenden Regens schnell ein Pulk von 20 bis 30 Radlern.

"Ich fahre jeden Tag von Frederikssundvej zur Arbeit ins Zentrum, jeden Tag!"

Windböen peitschen den Radlern Regen ins Gesicht und stellen ihr Durchhaltevermögen auf die Probe.

Ich fahre jeden Tag sechs Kilometer zur Arbeit. Hin und zurück sind das täglich zwölf Kilometer. Ich fahre das ganze Jahr mit dem Rad. Ich fühle mich dadurch frei und bewege mich gerne."

Mit jedem Rad, das die Königin-Luise-Brücke passiert, rückt die rote Zahl auf dem Display der Zählsäule um eine Stelle weiter. Als erste öffentliche Verkehrsstatistik zeigt sie an, wie viele Radler diese Stelle passieren: durchschnittlich 15.000 am Tag. Die meisten fahren vom Osten der Stadt ins Zentrum zur Arbeit und kommen abends in umgekehrter Richtung wieder zurück.

Verkehrsplaner haben errechnet, dass jeder Fahrradkilometer Umweltausgaben von 30 Cent einspart. Bei über einer Million Kilometer, die in der dänischen Hauptstadt pro Tag ohne Lärm und C02 Emissionen geradelt werden, kommt eine schöne Summe zusammen. Aber Kopenhagener radeln nicht nur der Umwelt zuliebe, sondern aus pragmatischen Gründen.

"Es ist schneller als mit Bus und Metro und du kannst selbst entscheiden, wann du losfährst."

"Es geht am zügigsten. Ich bin entspannter, wenn ich bei der Arbeit ankomme, mein Kopf ist klar, und ich fühle mich gut."

"Ich fahre siebeneinhalb Kilometer. So komme ich in Kopenhagen am besten voran."

Thomas Krag war mehr als zwei Jahrzehnte lang Vorsitzender des Dansk Cyclist Forbund, des Dänischen Radfahrverbandes. Dort hat er Pionierarbeit geleistet, indem er unermüdlich für den Umstieg von Auto auf das Rad geworben hat. Heute ist Fahrradfahren in Kopenhagen auf dem Weg zum Mainstream. Kommunen, Verbände und Betriebe weisen in groß angelegten Kampagnen "We cycle to Arbed", "Mit dem Fahrrad zur Arbeit" auf die gesundheitlichen Vorteile des Radfahrens hin.

"Radfahren ist nicht nur umweltfreundlich, es ist auch freundlich für Gesundheit, für den Benutzer. Wir sind ja in Dänemark Protestanten und wir haben vielleicht auch diese praktische Einstellung zu den Dingen: Ja, Ideale sind schön, Ideen sind sehr schön, aber praktische, tagtägliche Veranstaltungen sind doch auch gut!"

Überholspuren und grüne Welle im Berufsverkehr - mit neuen Konzepten und Investitionen in die Infrastruktur ist das Zweirad zu einem Transportmittel geworden, das im Stadtverkehr schneller als das Auto ist. Niels Jensen gehört zu der Planungsgruppe im Amt für Technik und Umwelt, deren Maßnahmen das möglich gemacht haben.

"Wer morgens im Berufsverkehr von einem Außenbezirk ins Stadtzentrum fährt, sollte bei einer Geschwindigkeit von 20 Stundenkilometern über 12 Ampeln mit einer grünen Welle fahren können. Das war ein langer Prozess, bis wir das erreicht hatten. Wir haben fünf bis zehn Jahre darüber als Idee diskutiert! Zuerst meinten die Ingenieure, das sei nicht zu verwirklichen. So etwas funktioniere nur im Autoverkehr. Aber dann gab es den politischen Willen, die Bedingungen für Radfahrer zu verbessern. Der Geschwindigkeit wurde eine größere Bedeutung als zuvor beigemessen und auf einmal ging es."

Endlich, sagt Thomas Krag, würden Radfahrer als gleichberechtigte Verkehrsteilnehmer behandelt, die nicht nur sicher, sondern auch schnell vorankommen wollen.

"Beim Autofahren hat man mit großem Erfolg diese zwei Ziele kombiniert, dass man sowohl sicher als auch schnell sein kann. Das ist viel weniger so gewesen bei Radfahren. Mit Fahrrad hat man ja genug Zeit! Es braucht nicht so schnell zu sein! Radfahrer sind arm und ohne Arbeit! Das Bild von Radfahren hat sich geändert. Man kann auch sagen: Wiedererfinden von Radfahren in einer ganz neuen Welt!"

Statt mit Fahrradkluft aus atmungsaktivem Lycra steigen die meisten Kopenhagener mit normaler Straßenkleidung aufs Rad. Ob mit Stöckelschuhen oder im Anzug, bei brennender Sonne, strömendem Regen oder im Schneegestöber, am frühen Morgen oder nachts – der Photograph Mikael Colville-Andersen hat Momentaufnahmen aus dem Mikrokosmos des Radfahrens gesammelt und den alltäglichen ‚Cycle-Chic’ mit seinen subkulturellen und phantasievollen Seiten entdeckt. Mit seinem Videoclip "Kopenhagen, die Stadt der Radfahrer" wirbt die dänische Hauptstadt.

Der Fotograf zeigt eine Stadt auf zwei Rädern: Kinder selbstvergessen lesend vorne im Cargobike, während die Mutter dahinter kräftig in die Pedale tritt. Die ganze Familie auf dem Doppelrad: Ein Kind vorne, eines hinten. Paare, die außerhalb der Hauptverkehrszeit Hand in Hand nebeneinander auf den dreieinhalb Meter breiten Radwegen radeln. Die neuen Strecken haben einen komfortablen, glatten Asphaltbelag und werden regelmäßig gewartet. Keine Scherben oder zerbrochene Flaschen machen die Wege unsicher.

Auch das gehört zu den Voraussetzungen, damit der Radfahrer-Berufsverkehr morgens und abends reibungslos fließt. Für die Sicherheit wird ebenfalls viel getan: Kreuzungen sind mit breiten blauen Streifen und weißen Fahrrad–Symbolen gekennzeichnet, sodass Autofahrer querende Radler nicht übersehen können.

Neben Umweltaspekten spielen in Dänemark die Vorteile des Radelns für die Gesundheit eine große Rolle. An der Kampagne "Mit dem Rad zur Arbeit" haben sich dieses Jahr 140.000 Menschen beteiligt. Teams werden gebildet, die gemeinsam den sogenannten inneren Schweinehund überwinden und auch bei Gegenwind und heftigem Regen in die Pedale treten.

Ob in Berlin, Paris, New York, London, Rom oder Barcelona – Auch in anderen Großstädten entdecken immer mehr Menschen die Vorzüge des Radfahrens. Weil vielerorts die Infrastruktur fehlt, Radwege oder Radfahrstreifen kaum oder nur mit mäßigem Standart vorhanden sind, sind Verkehrsexperten aus Kopenhagen inzwischen international begehrte Ratgeber und Gesprächspartner. Auf einer Vortragsreise durch die USA berichtete Niels Tøersløv von der Planungsgruppe Radverkehr über Infrastrukturmaßnahmen und wurde dafür geradezu gefeiert.

In New York spricht man davon die Stadt zu "Kopenhagenisieren", wenn es darum geht, die Bedingungen für Fußgänger und Radfahrer zu verbessern. Ich bin sehr stolz auf diesen Begriff, denn unsere Leistungen und Ambitionen sind jetzt so überzeugend, dass sich andere Städte Kopenhagen zum Vorbild nehmen. Fast jede Woche haben wir Führungen mit Besuchern aus anderen Städten, die etwas Ähnliches wie wir vorhaben.

Auch Kommunen in Deutschland, die bisher bestenfalls einen "Radfahrbeauftragten" haben, entdecken ihren Nachholbedarf. Denn alle Städte leiden unter steigender Luftverschmutzung durch den Autoverkehr. Grenzwerte für Feinstaub der Europäischen Union zwingen sie zum Handeln. Kopenhagen macht vor, wie das Fahrrad, das als Transportmittel vom Auto lange Zeit an den Rand gedrängt wurde, mit den Anforderungen eines modernen Stadtlebens in Einklang gebracht werden kann.

Die Kopenhagener Planer investieren Kraft und Geld in Verkehrsforschung, um die Potenziale des Radverkehrs auszuschöpfen: Die Sicherheit von Radfahrern im Straßenverkehr, der Zustand und die Wartung von Radwegen, die Möglichkeiten, Fahrräder sicher abzustellen, das alles wird akribisch untersucht.

Jedes Jahr werden die Umfragestatistiken aktualisiert und mit dem anvisierten Ziel abgeglichen: Bis 2015, das hat die Stadtregierung von Kopenhagen beschlossen, soll der Anteil des Radverkehrs am Berufsverkehr von jetzt 37 Prozent auf 50 Prozent steigen und damit die C02 Emission um 80.000 Tonnen jährlich reduziert werden.

Dabei hatte auch Kopenhagen in den 1970er Jahren die Straßen dem Autoverkehr angepasst und den Radverkehr zurückgedrängt. Als die Politik den umgekehrten Weg einschlug, war das ohne Einschnitte für den Autoverkehr nicht zu verwirklichen. Welche Widerstände überwunden werden mussten, zeigte sich in dem Konflikt um ein Pilotprojekt an der Norrebrogade, einer Hauptverkehrsader, die vom Zentrum in den Stadtteil Norrebro führt.

Die Fahrbahn für den Autoverkehr wurde zugunsten einer Verbreiterung des Radfahrstreifens verengt. Die rechtspopulistische Dänische Volks partei und die Liberalen sahen dadurch die Freiheit der Autofahrer unzulässig beschränkt. Es gab zahlreiche Auseinandersetzungen, ehe der Plan durchgesetzt werden konnte, erinnert sich Jens Loft Rasmussen vom Dänischen Radfahrverband.

Auf der Nørrebrogade hatten wir eine sehr unübersichtliche Verkehrssituation. Mehr als 30.000 Radfahrer am Tag, viele Leute, die mit dem Bus fuhren. Trotzdem beanspruchte der Autoverkehr den größten Teil der Straße. Daraufhin beschloss der Bürgermeister für Verkehr in Kopenhagen, die Fahrspuren für Autos zu verengen. Einige Leute waren darüber wütend. Sie waren gewohnt, mit dem Auto zu fahren. Auch Geschäftsleute befürchteten, dass Kunden ausbleiben. Es gab viel Kritik.

Nach einem Jahr hat sich die Lage beruhigt. Der Autoverkehr auf der Nørrebrogade ist inzwischen verlangsamt und hat insgesamt abgenommen. Geschäftsleute, die zuvor hohe Umsatzverluste befürchtet haben, erkennen die Vorteile der Verkehrsberuhigung: Es gibt mehr Laufkundschaft. Im Sommer stellen Cafébesitzer Stühle und Tische nach draußen.

Der Eisenwarenhändler präsentiert seine Haushaltsleitern, Eimer und Besen vor der Ladentür. Nørrebro, einer der ärmeren Stadtteile Kopenhagens, hat so an Lebensqualität und Attraktivität gewonnen und wird heute in Touristenführern als multikulturelles Szeneviertel zum Flanieren empfohlen. Außerdem liegt nicht weit von der Nørrebrogade entfernt ein schöner alter Friedhof, mit dem Grab des berühmten dänischen Philosophen Søren Kierkegaard. Auch dort ist Radeln erlaubt.

Vom Kopenhagener Hauptbahnhof aus dauert der Weg mit dem Fahrrad gerade mal fünf Minuten zu dem neuen Stadtteil Islands Brygge am Südhafen. Zwei Wohnsilos aus Glas und Beton direkt am Wasser sind sein Wahrzeichen. Dahinter liegt eine alte Häuserzeile aus rotem Backstein mit kleinen Geschäften. Im Bioladen kauft Katrine Andresen ein, die mit ihrer Familie aus einem Vorort nach Island Brygge gezogen ist.

"Das ist sehr wichtig für mich: Ich habe keine weiten Wege. Ich wohne im Grünen, kann lange Spaziergänge machen und bin gleichzeitig schnell in die Stadt. Diese Möglichkeit nutze ich gerne - ebenso mein Mann und mein Sohn. Wir gehen oft in die Stadt."

Von den heute begrünten ehemaligen Kaianlagen wurden noch in den Siebzigerjahren jede Woche zehn Schiffe mit Lebensmitteln nach Island abgefertigt. Jetzt ist hier eine Flaniermeile am Wasser mit Cafes und Spielplätzen entstanden. Eine Brücke für Radfahrer und Fußgänger verbindet Islands Brygge mit dem alten Stadt- und Geschäftszentrum Vesterbro.

Mehr Bevölkerungswachstum, mehr Wirtschaftswachstum und weniger Verkehr – dieses Ziel verfolgt Kopenhagen. Die dänische Hauptstadt meint es ernst mit urbaner Lebensqualität, wozu auch weniger Lärm und bessere Luft gehört. In Islands Brygge werden die Straßen für den Durchgangsverkehr zurückgebaut. Beim nächsten Hafenentwicklungsgebiet weiter nördlich plant Niels Tøersløv vom Amt für Technik und Umwelt zusammen mit künftigen Bewohnern von vorne herein stadtnahes Wohnen ohne Auto.

"Ich glaube, wir in Kopenhagen haben vielleicht ein wenig mehr den Mut als viele unserer Kollegen überall sonst auf der Welt zu sagen: Es ist wichtig, in eine Strategie für bessere Umweltbedingungen, zu investieren. Dazu gehört auch mehr Fahrrad- und Fußgängerverkehr. Beides macht die Stadt lebenswerter.

Vielleicht sollten wir keine Straßen mehr nur für den Autoverkehr bauen. Unsere Einstellung hat sich geändert. Wir fragen stattdessen: Wer wird dort wohnen? Wie können wir die Bewohner dazu bewegen, darüber nachzudenken, ob ihr Wohngebiet mit weniger Autos nicht schöner ist? Und ob die täglich notwendige Mobilität nicht mit dem Rad und dem öffentlichen Nahverkehr bewerkstelligt werden kann."

In dem neuen Stadtteil auf dem Gebiet des Nordhafens werden künftig 40.000 Menschen wohnen und noch einmal so viele arbeiten. Schnelle Fahrradwege haben Priorität. Vor allem soll es möglich sein, das ganze Jahr über im Trockenen zu radeln – unterhalb einer geplanten Metrolinie, die auf Stelzen den Stadtteil durchquert.