Schmierfink oder Künstler?

Von Jürgen Stratmann |
Heute beginnt in Berlin das Filmfest "Rhythm of the Line", das erste deutsche Graffiti- und Hip-Hop-Festival mit über 30 Filmen aus aller Welt. Das Festival soll zeigen, dass Graffiti mehr ist als gedankenlose Sachbeschädigung jugendlicher Schmierfinken, meint Initiator Frank Lämmer alias Esher.
In einem Fernsehwerbespot eines Internetproviders schwebt ein Graffiti-Sprayer vor einer fensterlosen Hauswand und sprüht Verse aus Goethes Faust auf den graubraunen Putz, und eine Kinderstimme singt dazu das schöne alte Gedankenfreiheitslied "Über die ganze Wand", geschrieben stehen da Verse wie:

"Was glänzt, ist für den Augenblick geboren,
Das Echte bleibt der Nachwelt unverloren. "

Der Name des fliegenden Sprayers: Frank Lämmer, alias "Esher", Graffiti-Szene-Legende aus Berlin, in bürgerlicher Existenz Graphiker, Comiczeichner, Webdesigner u.v.m., in letzter Zeit vor allem Drehbuchautor, Kameramann, Cutter und Filmfestivalveranstalter.
Und, ja, Wände besprühen hat er ja gelernt, also warum nicht auch mal für Geld, Kommerz und Werbung? Wenn die Botschaft stimmt?

"Is total mein Stil, glücklicherweise, und ich kann mich damit voll identifizieren, es is´n Dialog zwischen dem Schreiber und dem Theatermacher, und der Theatermacher möchte, dass der Herr doch ein gefälliges Stück schreibe, und der Schreiber sagt, ich mach lieber was der Freigeist macht, ich möchte bei meinen Kollegen bekannt und anerkannt sein und möchte bitte nicht für die Massen schreiben... "

Genau, darum geht´s, sein eigenes Ding machen, ist bei Esher nicht anders, er ist schließlich von der gleichen Zunft: ein Schreiber, wenn auch in einem anderen Genre:

"...also dieses Graffiti, wo ich herkomme, ist die Writing-Kultur, das was in New York ´79 groß rausgekommen ist mit den Zügen, die aus der Bronx nach Downtown gefahren sind, was man halt kennt, in dieser Writing-Kultur geht's um dieses Namen schreiben, dieses: I write my name for fame on the wall... "

Im Esher-eigenen Szene-Slang-Glossar heißt es dazu:

"Writer - amerikanisch - to write: postmoderner Schriftsetzer auf urbanen Untergründen. Riskantes Hobby, das von Schöpfungsdrang, Persönlichkeitsstörung und Frustration begleitet wird... "

Sprayer: "... der Buchstabe wird überall hinkommen und wird uns alle verfolgen, egal was wir machen, wir können uns nicht vor ihm verstecken, der Buchstabe ist einfach zu stark... "

Esher: "Writer lungern auf Bahnanlagen rum und sind meist als kleine Gruppe schwarzgekleideter Kids mit Rucksäcken zu erkennen. "

" ...seit Anfang der 70er wird jemand so genannt, der mit Sprühflaschen großflächige Buchstabenkombinationen und Charakter auf Wände und Züge aufträgt, um sich mit Ruhm zu bekleckern. "

Und seit Anfang der 90er ist Esher dabei.

"Bin jetzt seit - ach, 15 Jahren bestimmt Graffiti-Muckel, komm jetzt schon ins Graffiti-Rentenalter, mit 30 Jahren, und da geht man nicht mehr selber auf die Straße, sondern guckt irgendwie, was macht man, um der Kultur noch was zu bringen. "

Ein notwendiges Engagement des emeritierten Altvorderen: in den meisten europäischen Großstädten soll es der Sprühdosen-Guerilla verschärft an die Kapuze gehen. In Berlin tagt am 7. April ein internationaler Anti-Graffiti-Kongress der überparteilichen Fassadenschutz-Initiative Noffitti unter der Schirmherrschaft Klaus Wowereit. Ein Skandal, meint Esher:

"Die Graffiti-Gegner, diese Nofitti-Fraktion, das sind aus meiner Sicht die eigentlichen Freaks, diese Typen, die mit Programmen da an Start gehen, mit "Zero Tolerance", wo man sich als aufgeklärter Europäer sagen muss, wir sind hier nich in Amerika, und die überhaupt nichts kapiert haben, also ganz schöne Freaks... "

Und nun für uns alle, die wir es bisher vielleicht auch noch nicht so ganz kapiert haben, eine kurze Einführung in die theoretischen Grundlagen der Writing-Culture nach Esher: zunächst historisch:

"Graffiti, das liegt in den Leuten drinne, ´ne Markierung zu setzen, Zeichen zu setzen, es hat angefangen mit den ersten Höhlenmalereien .Graffiti - aus´m italienischen" graphiare" - is kratzen, das sind Handlungsreisende gewesen, die von Rom nach Rom gefahren sind und auf ihren Wegstationen ihre Namen in Stein gekratzt haben, da sagt heut auch niemand, das is Vandalismus, das is natürlich ´n Kulturgut heutzutage. "

Dann soziologisch:

"Ich glaube, dass das Graffiti-Sprühen ´ne natürliche Reaktion auf die Zeichenflut von ´ner Werbung ist: Jede Firma hat ´n Logo, was für mich gleichbedeutend mit ´m Tag ist, also meinem Zeichen, und der Graffiteur setzt sozusagen sein Zeichen gegen das Zeichen der Konzerne. "

Die Koalition der Reinlichen setzt zur Zeit auf die Strategie, nicht bestellten Wandschmuck im Eilverfahren überpinseln zu lassen, um den Kunstwilligen zu entmutigen. Spezialfirmen sind bei Alarm in Rekordzeit am Tatort. Was dem Sprüher bleibt, ist nur das Erinnerungsphoto. Und das ist enorm wichtig:

Was zählt, ist das Photo! Beim Sprühen geht es also nicht mehr primär darum, nachhaltig das Stadtbild zu dekorieren, denn:

"Graffiti is was Kurzlebiges und kann und soll von daher auch archiviert und festgehalten werden"

also macht man Bilder von Bildern ...

"Mit den heutigen Digi-Cams: klick Photo, rauf ins Netz hochladen, gleich multipliziert, das is so Wahnsinn, was da passiert grad im Moment, und Film auch, Bewegt- Bilder und Graffiti in ´ner natürlichen Umgebung, mit Sound, mit Ton in Entstehung, das is ja auch was wahnsinniges Schnelles, darum kann man es ja auch so schön mal eben da in zehn Minuten da die Entstehung von nem Graffiti mal live miterleben. "
Auch solche Strafen kann der Teen-Court verhängen: Jugendlicher beim Entfernen seiner Graffitis
Jugendlicher beim Entfernen seiner Graffitis© AP-Archiv