Schmerzhafte Vergangenheit

26.09.2007
"Die Namenlose"- so heißt der erste Roman der deutsch-kroatischen Schriftstellerin Jagoda Marinic. Die Namenlose ist eine 33-jährige Frau, deren Leben im Verlauf einer Woche beschrieben wird: nicht ein beliebiger Zeitausschnitt, sondern eine Woche, die "für ihr Leben entscheidend sein wird", wie es gleich zu Anfang des Buches heißt.
Die Namenlose ist eine schmerzerfüllte, verletzte Seele: sie ist vor vielen Jahren aus einem lieblosen Elternhaus in der Provinz ins anonyme Berlin geflohen, wo sie in einer Bibliothek Bücher ausleiht. In der entscheidenden Woche lernt sie Ivan kennen, in den sie sich widerwillig verliebt. Es ist keine Begegnung, die vom großen Happy End gekrönt wird, aber sie verändert den Blick der Protagonistin auf sich und die Welt.

Ihre selbstauferlegte Einsamkeit, der Trotz und die Verweigerung gegenüber dem Leben weichen einem inneren Aufbruch, weil sich die Namenlose plötzlich eigene Bedürfnisse, Träume und Sehnsüchte erlaubt. Sie gewinnt eine Identität, erhält eine eigene Geschichte (allerdings bis zum Schluss keinen eigenen Namen!) und dieses Entstehen einer Geschichte ist - mehr als der eben angedeutete Plot - zentrales Thema des Buchs.

Formal wird das sehr ungewöhnlich umgesetzt: "Zwischen Nacht und Tag" ließe sich das Kompositionsprinzip zusammenfassen, so heißt auch der Schlussvers eines Gedichts, das dem Roman vorangestellt ist: Strukturiert wird er von jeweils sieben Kapiteln, die mit den Titeln "Wachen" und "Schlafen" überschrieben sind ("Wachen 1", "Schlafen 1" "Wachen 2" und so weiter.). Es sind gleichermaßen Zwei Ichs, das Tag-Ich und das Nacht-Ich, die hier porträtiert werden - beide aus der Sicht einer anderen Ich-Erzählerin .

Da ist zum einen ein Ich, das diese Geschichte aufschreiben will, weil sie ihr seit vielen Jahren auf der Seele brennt. Sie steht quasi auf einer Meta-Ebene außerhalb der Geschichte und blickt mit seziererischem Blick darauf. Und da ist die Namenlose selbst, die ebenfalls als Ich-Erzählerin ihr gleichförmiges Leben in einer Berliner WG, aber auch die Ereignisse der entscheidenden Woche dokumentiert.

Als sei dies noch nicht kompliziert genug, erscheinen im Roman auch noch Fußnoten, die aus der Sicht der erstgenannten Ich-Erzählerin folgenden Zweck erfüllen:

"Ich werde in dieser Woche, dann und wann, unter die losen Beobachtungen, die sie ihre Innenwelt nennt, kleine Injektionen von Schmerzgedanken setzen, täglich eine kleine Wahrheit aus ihrer persönlichen Unterwelt in ihr Bewusstsein führen."

Diese Schmerzgedanken betreffen vor allem die Vergangenheit der Namenlosen; die Geschichte ihrer Eltern, die in szenischen Rückblenden auftaucht: der Vater, der die Familie verlässt und als Trinker durch die Straßen ihrer Kleinstadt wankt. Und die Mutter, die notgedrungen einen Kiosk betreibt, in dem sie ebenfalls dem Alkohol verfällt. Die Vergangenheit wird im Romangeschehen plötzlich zur Gegenwart , als die Namenlose in der entscheidenden Woche von der Einlieferung ihrer Mutter ins Krankenhaus erfährt.

Die komplexe Struktur des Romans von Jagoda Marinic ist auch sein größtes Problem: Er ist symbolisch überladen, liest sich wie auf dem Reißbrett entworfen und bleibt leider blutleer und verkopft. Die Figuren bleiben einem seltsam fremd, sind geradezu schablonenhaft.

Hinzu kommt die ambitionierte Sprache der Autorin: man spürt förmlich ihren Wunsch, wohlklingende, philosophische Sentenzen zu produzieren à la: "Das Meer ist den Flußstimmen Heimat: bevor sie dorthin gelangt sind, fließen sie als Liebende zu ihrem Ziel: Liebende, weil Suchende, nur Suchende sind wirklich Liebende - und so sind die Flüsse die letzten großen Liebenden."

Wenn die kontemplativen Passagen in einen unaufgeregt einfachen erzählerischen Ton wechseln, hat das Buch seine stärksten Momente. Jagoda Marinic versteht es durchaus, Bilder zu evozieren. Das gilt zum Beispiel für das schön beschriebene Rendezvous mit Ivan- eine nächtliche Fahrradfahrt durch Berlin. Aber diese Passagen bleiben die Ausnahme, es überwiegen die bedeutungsschwangeren, leicht manierierten Passagen. Der Roman endet mit einem überaus enigmatischen und vagen Schluss.

Jagoda Marinic, als Kind kroatischer Einwanderer in Baden-Würrtemberg aufgewachsen, hat bereits zwei Bände mit Erzählungen veröffentlicht, deren Qualität sehr unterschiedlich war. Mit dem ersten Roman hätte sich die gerade mal 30-Jährige, die auch als Journalistin arbeitet, vielleicht noch ein paar Jahre Zeit lassen sollen. Der eher dünne Stoff wurde formal extrem überstrapaziert.

Rezensiert von Olga Hochweis

Jagoda Marinic: Die Namenlose
Verlag Nagel & Kimche, Zürich 2007, 155 Seiten, 16,90 Euro