Schmerzhafte Trennung des Liebespaares Himmel und Erde
Kreation des Menschen aus Langeweile, Tränen nach der Trennung von Himmel und Erde - jede Kultur, jede Religion hat ihre eigenen Vorstellungen zur Entstehung der Welt und des Menschen. Der Franzose Benoît Reiss hat Schöpfungsgeschichten aus aller Welt gesammelt. Mal humorvoll, mal grausam erklären die Mythen den Ursprung der Erde.
"An einem sterbenslangweiligen Tag, der, wie ein trostloser Sonntag, kein Ende nehmen wollte, schuf Abassi eine Frau und einen Mann. Er gähnte, hielt sich die Hand vor den Mund und nannte sie Menschen. Er wusste nicht, was er mit ihnen anfangen sollte."
Abassi und seine Frau Atai setzen in diesem nigerianischen Schöpfungsmythos den langweiligen Menschen auf die grüne und blaue Erde, um ihn nicht ständig vor Augen zu haben. Doch so ganz loslassen wollen sie ihn dann doch nicht. Abassi und Atai laden Mann und Frau jeden Tag zum Essen und Trinken ein, damit die Menschen nicht lernen, selbst für sich zu sorgen.
"Auf der Erde verbrachte der Mann seine Tage damit, im Schatten eines Trompetenbaums zu liegen und vor sich hin zu dösen. Er dachte an die künftigen Mahlzeiten und an die Gläschen voll köstlichem Wein. Währenddessen gärtnerte die Frau heimlich und ließ Gemüse und Früchte hinter ihrem Haus wachsen."
Am Ende ist es die Frau, die dem Mann alles beibringt, was er wissen muss, um sich zu entwickeln und sich und seine Nachfahren von den Göttern zu emanzipieren. Zur Strafe schickt die Göttin Atai Tod und Eifersucht auf die Erde.
Benoît Reiss hat in seinem Buch Schöpfungsgeschichten gesammelt, nacherzählt und weitergedacht. Sie stammen aus allen Enden der Erde: Von Afrika bis Südamerika, von Alaska bis Mikronesien, vom Sudan bis Lettland.
Es sind anrührende, verstörende, humorvolle oder auch grausame Geschichten. Mal wächst alles Leben aus einem Ei, mal stoßen die Faustschläge und Fußtritte eines Gottes alle Energien an. Oder es ist der Schmerz der Trennung, der nach einer Erzählung der Maori der Erde zum Leben verhalf.
"Wenn ihr eure Augen nach oben richtet, werdet ihr Rangi sehen, er ist der Himmel, unten werdet ihr Papa sehen, sie ist die Erde. Vor langer, langer Zeit trennte nichts den Himmel und die Erde. Papa, die Göttin der Erde und Rangi, der Gott des Himmels, waren verliebt. Sie hielten sich in einem endlosen Kuss umfangen. Zwischen Erde und Himmel gab es keinen Lichtstrahl, keinen Lufthauch, so eng hielt Rangi Papa umschlungen, so fest umarmte Papa Rangi."
Diese Symbiose sprengen die Kinder der beiden Götter. Sie drängen sich aus der Einheit heraus und drücken den Himmel nach oben, die Erde nach unten, und die beiden Schöpfereltern für immer auseinander. Die Erde kann nun leben, doch Rangi und Papa leiden unter ihrer Trennung, nur noch verbunden durch ihre Tränen.
"Gewiss ist die Welt so entstanden, werdet ihr denken und euren Mantelkragen hochschlagen, während ein dichter Nebel aufkommt und ein feiner Nieselregen einsetzt."
Auch hier befreien sich die Kinder des Schöpferpaares aus deren Umklammerung und machen dadurch das Leben auf der Erde erst möglich. Der Erschaffer der Welt stößt nur etwas an. Sein Geschöpf ist dagegen maßgeblich beteiligt am Fortgang der Welt. Anders als die Botschaft des paradiesischen Sündenfalls sind diese Geschichten eher ein Aufruf an die eigene Kreativität und an die Verantwortung für die Schöpfung. Eine Botschaft, die Kindern Freude bereiten wird.
Der kriegerische Schöpfungsmythos aus Mesopotamien scheint zunächst wenig kindgerecht, doch am Ende ist es auch hier der Mensch, der dem äußerst grausamen Gott Marduk ein friedliches Lächeln entlockt.
"Marduk erschuf die Menschen aus weißen Knochen, die er mit Fleisch umhüllte. Er blies Leben in die neuen Wesen. Sie alle waren dazu geschaffen, den Göttern zu dienen. Sie sollten so lange auf der Erde wohnen, wie die Götter den Himmel bewohnten. Das alles verlief anschließend nicht so reibungslos, doch trotz zahlreicher Mängel fand Marduk seine kleinen Lebewesen sehr unterhaltsam."
Die Bilder zu den Geschichten malte der in Äthiopien geborene Künstler Alexios Tjoyas. Seine Illustrationen lassen auf ihre Weise Leben entstehen. Die explodierenden Farben und die archaischen, geheimnisvollen Formen erzählen selbst so viel, dass man sich ihnen kaum entziehen kann. Die Zusammenarbeit von Benoît Reiss und Alexios Tjoyas geht mit besonderem Mut an die Mythen heran.
Bizarre und befremdliche Gedanken aus fernen Kulturen werden nicht aufgeweicht und unserer Wahrnehmungswelt angepasst. Umso spannender ist es für Kinder und Erwachsene, in dem Buch auf Entdeckungsreise zu gehen in ferne und vergangene Welten und sich immer wieder der Frage stellen zu dürfen: War es so? Oder so? Oder vielleicht doch ganz anders?
Benoît Reiss: Schöpfungsgeschichten der Welt
Mit Illustrationen von Alexios Tjoyas.
Aus dem Französischen von Rosemarie Griebel-Kruip
Patmos Verlag, Düsseldorf 2006
173 Seiten, 19,90 Euro
Abassi und seine Frau Atai setzen in diesem nigerianischen Schöpfungsmythos den langweiligen Menschen auf die grüne und blaue Erde, um ihn nicht ständig vor Augen zu haben. Doch so ganz loslassen wollen sie ihn dann doch nicht. Abassi und Atai laden Mann und Frau jeden Tag zum Essen und Trinken ein, damit die Menschen nicht lernen, selbst für sich zu sorgen.
"Auf der Erde verbrachte der Mann seine Tage damit, im Schatten eines Trompetenbaums zu liegen und vor sich hin zu dösen. Er dachte an die künftigen Mahlzeiten und an die Gläschen voll köstlichem Wein. Währenddessen gärtnerte die Frau heimlich und ließ Gemüse und Früchte hinter ihrem Haus wachsen."
Am Ende ist es die Frau, die dem Mann alles beibringt, was er wissen muss, um sich zu entwickeln und sich und seine Nachfahren von den Göttern zu emanzipieren. Zur Strafe schickt die Göttin Atai Tod und Eifersucht auf die Erde.
Benoît Reiss hat in seinem Buch Schöpfungsgeschichten gesammelt, nacherzählt und weitergedacht. Sie stammen aus allen Enden der Erde: Von Afrika bis Südamerika, von Alaska bis Mikronesien, vom Sudan bis Lettland.
Es sind anrührende, verstörende, humorvolle oder auch grausame Geschichten. Mal wächst alles Leben aus einem Ei, mal stoßen die Faustschläge und Fußtritte eines Gottes alle Energien an. Oder es ist der Schmerz der Trennung, der nach einer Erzählung der Maori der Erde zum Leben verhalf.
"Wenn ihr eure Augen nach oben richtet, werdet ihr Rangi sehen, er ist der Himmel, unten werdet ihr Papa sehen, sie ist die Erde. Vor langer, langer Zeit trennte nichts den Himmel und die Erde. Papa, die Göttin der Erde und Rangi, der Gott des Himmels, waren verliebt. Sie hielten sich in einem endlosen Kuss umfangen. Zwischen Erde und Himmel gab es keinen Lichtstrahl, keinen Lufthauch, so eng hielt Rangi Papa umschlungen, so fest umarmte Papa Rangi."
Diese Symbiose sprengen die Kinder der beiden Götter. Sie drängen sich aus der Einheit heraus und drücken den Himmel nach oben, die Erde nach unten, und die beiden Schöpfereltern für immer auseinander. Die Erde kann nun leben, doch Rangi und Papa leiden unter ihrer Trennung, nur noch verbunden durch ihre Tränen.
"Gewiss ist die Welt so entstanden, werdet ihr denken und euren Mantelkragen hochschlagen, während ein dichter Nebel aufkommt und ein feiner Nieselregen einsetzt."
Auch hier befreien sich die Kinder des Schöpferpaares aus deren Umklammerung und machen dadurch das Leben auf der Erde erst möglich. Der Erschaffer der Welt stößt nur etwas an. Sein Geschöpf ist dagegen maßgeblich beteiligt am Fortgang der Welt. Anders als die Botschaft des paradiesischen Sündenfalls sind diese Geschichten eher ein Aufruf an die eigene Kreativität und an die Verantwortung für die Schöpfung. Eine Botschaft, die Kindern Freude bereiten wird.
Der kriegerische Schöpfungsmythos aus Mesopotamien scheint zunächst wenig kindgerecht, doch am Ende ist es auch hier der Mensch, der dem äußerst grausamen Gott Marduk ein friedliches Lächeln entlockt.
"Marduk erschuf die Menschen aus weißen Knochen, die er mit Fleisch umhüllte. Er blies Leben in die neuen Wesen. Sie alle waren dazu geschaffen, den Göttern zu dienen. Sie sollten so lange auf der Erde wohnen, wie die Götter den Himmel bewohnten. Das alles verlief anschließend nicht so reibungslos, doch trotz zahlreicher Mängel fand Marduk seine kleinen Lebewesen sehr unterhaltsam."
Die Bilder zu den Geschichten malte der in Äthiopien geborene Künstler Alexios Tjoyas. Seine Illustrationen lassen auf ihre Weise Leben entstehen. Die explodierenden Farben und die archaischen, geheimnisvollen Formen erzählen selbst so viel, dass man sich ihnen kaum entziehen kann. Die Zusammenarbeit von Benoît Reiss und Alexios Tjoyas geht mit besonderem Mut an die Mythen heran.
Bizarre und befremdliche Gedanken aus fernen Kulturen werden nicht aufgeweicht und unserer Wahrnehmungswelt angepasst. Umso spannender ist es für Kinder und Erwachsene, in dem Buch auf Entdeckungsreise zu gehen in ferne und vergangene Welten und sich immer wieder der Frage stellen zu dürfen: War es so? Oder so? Oder vielleicht doch ganz anders?
Benoît Reiss: Schöpfungsgeschichten der Welt
Mit Illustrationen von Alexios Tjoyas.
Aus dem Französischen von Rosemarie Griebel-Kruip
Patmos Verlag, Düsseldorf 2006
173 Seiten, 19,90 Euro