Schmerzen im Sport

"Quäl dich, du Sau!"

23:23 Minuten
Neben seinem Teamkollegen Udo Bölts (rechts) fährt Jan Ullrich bei der Tour de France 1997 im Gelben Trikot des Gesamtführenden.
Neben seinem Teamkollegen Udo Bölts (rechts) fährt Jan Ullrich bei der Tour de France 1997 im Gelben Trikot. Helfer Bölts feuerte Ullrich am Berg mit dem legendären Ruf "Quäl dich, du Sau!" an. © B2800_epa_AFP
Von Jutta Heeß · 30.06.2019
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Muskelkater, Tennisarm, Wadenkrampf: Sport und Schmerzen gehen oft Hand in Hand. Doch falscher Ehrgeiz kann zu Verletzungen und Missbrauch von Schmerzmitteln führen. Was ist ein gesunder Umgang mit dem Schmerz? Wie viel Qual muss sein im Leistungssport?
"Jetzt am Ende der Saison tun die Knochen per se einfach weh. Das geht morgens beim Aufstehen los und bleibt fast den ganzen Tag so."
Paul Drux, Handballer
"Wirklich schmerzfrei wirklich selten. Es war schon immer eigentlich zu 90 Prozent der Trainingsbegleiter oder Spielbegleiter."
Kira Walkenhorst, Beachvolleyballerin
"Dann habe ich von den 200 Kilometer die letzten 40 unfassbare Krämpfe bekommen. Solche Krämpfe hatte ich in meiner ganzen Karriere noch nicht."
John Degenkolb, Radsportler
Sport tut weh. Hochleistungssport erst recht. Davon können der Handballer Paul Drux, die Beachvolleyballerin Kira Walkenhorst und der Radsportler John Degenkolb ein Lied singen. Dass Sport weh tun kann, weiß aber auch jeder Freizeitsportler, der nach einem Fitnesstraining mit Muskelkater aufwacht oder eine Hobbyläuferin, die sich beim Joggen den Fuß verknackst hat. Sport soll gesund sein – und doch sind oft Schmerzen die Folge sportlicher Aktivitäten. Hartes Training, Unfälle, Verletzungen – besonders der Leistungssport ist für viele Athletinnen und Athleten eine Qual. Schmerzen gehören einfach dazu: "Sport ohne Schmerz ist wie Oper ohne Gesang", sagt die Soziologin Nina Degele.

Akuter Schmerz, chronischer Schmerz und Belastungsschmerz

Doch was ist Schmerz überhaupt? Es gibt Zahnschmerzen, Kopfschmerzen, chronische Schmerzen, Schmerzen nach Verletzungen und Operationen. Schmerz lässt den Menschen leiden und signalisiert ihm, dass an einer Stelle seines Körpers etwas nicht stimmt. Sven Schneider, Sportsoziologe und Professor für Epidemiologie am Universitätsklinikum Mannheim, erklärt es genauer:
"In der Medizin unterscheidet man im Wesentlichen drei Schmerzarten. Einmal den akuten Schmerz, zum Beispiel den Schmerz nach einer Verletzung. Dann gibt es den chronischen Schmerz, diesen bezeichnen wir immer als chronisch, wenn er länger als drei Monate andauert, also zum Beispiel der Schmerz bei einem Bandscheibenschaden oder den klassischen Ischiasschmerz, den auch viele Leistungssportler haben, Tennisellbogen. Und der dritte ist der Belastungsschmerz, das ist der harmloseste Schmerz, aber der häufigste Schmerz im Sport, insbesondere im Leistungssport. Also die klassischen Muskelschmerzen, der Muskelkater nach einem intensiven Training."
Akuter Schmerz, chronischer Schmerz, Belastungsschmerz – von allen drei Schmerzarten können die meisten Leistungssportler berichten. Zum Beispiel Kira Walkenhorst. Im Januar 2019 hat die 28-jährige Beachvolleyballerin ihre Karriere vorläufig beendet. Im Herbst hatte die Beachvolleyball-Olympiasiegerin noch verkündet, bis Februar verletzungsbedingt zu pausieren, jetzt aber das plötzliche und endgültige Aus. Der Grund: Ihr Körper kann nicht mehr.
Endgültig soll das Aus jedoch nicht sein, das hat Kira Walkenhorst nach einer Phase der Regeneration inzwischen beschlossen. Auf die Frage, was genau ihre Beschwerden und Verletzungen waren, antwortet sie:
"Oder welche es nicht waren? Tatsächlich war es im Laufe der gesamten Karriere so, dass beide Knie kaputt waren und dementsprechend weh taten, die Hüfte, meine linke Hüfte, geschmerzt hat, ich da auch eine Operation über mich ergehen lassen musste, meine Rippen die letzten Monate meiner aktiven Zeit immer wieder herausgesprungen sind, bei kleinsten Bewegungen schon, da wusste man nicht wirklich, wo die Ursache herkommt. Meine Schulter, natürlich mit der Schlagbelastung sehr anfällig, und ich da mittlerweile auch schon zwei OPs hinter mir habe. Ansonsten die Finger waren ganz in Ordnung. Die Handgelenke taten nicht weh, aber das waren so die Großbaustellen, die ich tatsächlich hatte."

"Wenn es nicht kracht, ist es nicht Handball"

Kira Walkenhorst geht es mittlerweile viel besser. Sie mache wieder ein bisschen Sport, erzählt sie beim Treffen in der Nähe von Berlin. Momentan kümmert sie sich mit ihrer Frau Maria aber vor allem um die gemeinsamen 8 Monate alten Drillinge. Kira Walkenhorst hat alles gewonnen, was es im Beachvolleyball zu gewinnen gibt. Mit Laura Ludwig war sie deutsche Meisterin, Europameisterin, Weltmeisterin und Olympiasiegerin.
Beach-Volleyballerin Kira Walkenhorst in Aktion
Beach-Volleyballerin Kira Walkenhorst in Aktion© picture alliance / dpa / Kurth / HOCH ZWEI
Doch Walkenhorst hatte dabei immer mit körperlichen Beschwerden zu kämpfen. Ist die Liste der Verletzungen und Erkrankungen am Ende länger als die der Erfolge? "Nee, aufgelistet nicht, aber die Erfolge überschatten auf jeden Fall die Verletzungen. Also für mich im Kopf ist ganz klar der Weg, den ich gegangen bin, der war hart und Schmerzen gehörten immer dazu. Aber es hat sich definitiv gelohnt. Mit den Erfolgen und den Träumen, die man sich erfüllen konnte, würde ich den Weg auf jeden Fall wieder gehen.
"Schmerzen gehören dazu" – das sieht auch Handballer Paul Drux so. Der Rückraumspieler der Berliner Füchse und Nationalspieler kommt gerade vom Training im Kraftraum. Auch der 24-Jährige kann schon auf eine ausführliche Verletzungs- und Operationsgeschichte zurückblicken:
"Ich wurde zweimal an der rechten Schulter operiert, dreimal am rechten Knie und einmal am Fußgelenk." Handball ist ein harter Sport. Oft prallen große und kräftige Spieler gegeneinander. Körpereinsatz und Schnelligkeit sind gefragt. "Wenn es nicht kracht, ist es nicht Handball", schreibt Ex-Profi Stefan Kretzschmar in seiner Biografie. "Hat er recht", findet Paul Drux.
Ist Handball eine Sportart, in der vorausgesetzt wird, dass man Schmerzen erleiden und aushalten muss? "Ich glaube schon, dass natürlich von einem erwartet wird, dass man auch ein bisschen was aushalten kann. Ich glaube, sonst kommt man auch nicht oben an, das gehört schon so ein bisschen dazu."
Auch Radprofi John Degenkolb sieht den Schmerz als einen ständigen Begleiter im Hochleistungssport. Seine größten Erfolge waren im Jahr 2015 die Siege bei den Rennen Paris-Roubaix sowie Mailand-San Remo. Im vergangenen Jahr hat er eine Etappe bei der Tour de France gewonnen. Es ist bekannt, dass Athleten beim Straßenradsport über ihre körperliche Grenzen gehen müssen – nicht erst, seit Udo Bölts seinen Teamkollegen Jan Ullrich mit "Quäl dich, du Sau!" anfeuerte. Für John Degenkolb ist diese Grenzüberschreitung Alltag. Er sagte sogar einmal: "Ich liebe den Schmerz." Was genau meinte der 30-Jährige damit? Er erklärt es am Telefon, er ist gerade auf dem Weg zu einem Radrennen in Holland:
"Im Hochleistungssport ist das was, was eigentlich direkt mit dem täglichen Training, mit den Wettkämpfen, mit allem irgendwie direkt verknüpft ist. Es gehört gewissermaßen dazu. Ich glaube, dass man mit der Zeit und über die Jahre sich daran gewöhnt und damit dann auch einfach klarkommt. Ich glaube, das wollte ich eigentlich damit zum Ausdruck bringen: Dass es nicht schlimm ist, wenn man auf dem Rad Schmerzen hat, weil man weiß im Grunde genommen, dass der auch relativ schnell wieder weg gehen und man sich von den Strapazen auch wieder erholen kann."

Schmerz wird zum Normalzustand

Stehen Leistungssport und Schmerz tatsächlich in einer untrennbaren Verbindung? Wie ein Liebespaar? Sind Schmerzen wirklich unvermeidlich und der Preis für eine erfolgreiche Karriere? Sportsoziologe Sven Schneider:
"Also zunächst einmal, da sind zwei Dinge zu unterscheiden: Erst einmal sind Leistungssportler eine Selektion, also eine positive Auswahl besonders Talentierter, deren Schmerzschwelle ist einfach viel höher als bei der Normalbevölkerung. Das heißt, sie spüren den Schmerz genauso wie wir, nur können sie ihn besser ertragen und besser aushalten. Das ist der Selektionseffekt. Der zweite Punkt ist, dass man, wenn man die Erfahrung hat, trotz Schmerzen geht es am nächsten Tag dann doch irgendwie weiter, dass sich der Schmerz dann zunehmend normalisiert, wie wir sagen. Er wird zum Normalzustand. Und das ist dann problematisch, wenn ein Sportler überhört, dass die Warnsignale eben nicht nur ein ganz normaler Trainingsschmerz sind, sondern dass es akute Schmerzen sind, die auf eine spätere Verletzung hindeuten."
Nicht nur Walkenhorst, Drux und Degenkolb beschreiben diese Akzeptanz des Schmerzes, auch andere Sportlerinnen und Sportler sprechen offen über ihre Erfahrungen mit körperlichem Leid. Ex-Diskuswerfer Robert Harting sagte vor den Olympischen Spielen 2016, dass es bei jedem Wurf oder jeder Krafteinheit weh tue: 70 bis 80 Wiederholungen am Tag. Also 70- bis 80-mal Schmerzen. Und Boris Becker, der heute künstliche Hüftgelenke und ein versteiftes Fußgelenk hat, kommentiert: "Das sind Narben des Krieges. Wer in die Schlacht zieht, bekommt was ab."
Der ehemalige Basketballer Johannes Herber widmet in seinem Buch "Almost Heaven" dem Schmerz ein ganzes Kapitel: "No pain, no gain" heißt es. Schmerzen zu tolerieren gehöre dazu und sei sogar zwingend notwendig gewesen, um Grenzen auszuloten und sie weiter hinauszuschieben, schreibt er. Viele Verletzungen zwangen Herber zum Rücktritt im Alter von 29 Jahren.

Es steht viel auf dem Spiel

Der Mechanismus des Schmerznormalisierens ist unter Profi- und Leistungssportlern akzeptierte Realität. Ab einem gewissem Level steht viel auf dem Spiel: Siege, Ruhm, Preisgelder, Sponsorenverträge. Dass sich aber auch schon jugendliche Sportlerinnen und Sportler mit Schmerzen und mit Verletzungen zum Training und zu Wettkämpfen schleppen, hat nun eine Studie nachgewiesen, die der Sportsoziologe Sven Schneider durchgeführt hat. Darin wurden 182 deutsche Elite-Basketballspielerinnen und -spielern im Alter zwischen 13 und 19 Jahren befragt. 39 Prozent gaben zum Beispiel an, dass sie verletzt, krank oder unter Schmerzen spielen würden. Sven Schneider:
"’Playing hurt’ ist ein Fachbegriff, ein internationaler Fachbegriff für das Phänomen, dass ein Sportler, obwohl er Schmerzen hat, obwohl er krank ist, obwohl er verletzt ist, trotzdem aufläuft, antritt, zum Training oder zum Wettkampf erscheint. Das nennt man ‚Playing hurt’. Und es gibt sehr gute Studien aus den USA und jetzt auch unsere Studie, die wir zusammen mit der Universität Tübingen und an der Universität Heidelberg hier durchgeführt haben, im Leistungssport. Und wir sehen, dass dieses ’Playing hurt’- Phänomen bereits im Nachwuchsleistungssport weit verbreitet ist."
Diese Beobachtung bestätigt Handballer Paul Drux – aus eigener Erfahrung: "Ich sage mal, sobald man glaube ich als Jugendlicher wirklich anfängt, Hochleistungssport zu machen, dann gewöhnt man sich auch relativ schnell dran. Es gibt ja auch als junger Spieler schon Verletzungen. Das sind ja dann keine großen Verletzungen, sondern kleine Wehwehchen, mal ein bisschen umgeknickt, irgendwas mit der Hand oder sowas. Dann zwickt es mal ein bisschen, und deswegen jedes Mal Pause zu machen, das kommt halt dann auch nicht in Frage. Um Handball professionell zu machen, muss man schon austeilen, aber vor allem einstecken können."
"Die Gründe sind, wenn sie den Athleten fragen, im Grunde bei ihm zu suchen. Ein Athlet wird immer sagen oder in der Regel sagen, ja, ich entscheide ja selber, ob ich auflaufe oder nicht, ich kenne meinen Körper am besten, das ist meine Privatsache. Ich als Sportsoziologe sehe natürlich auch den ganzen Kontext. Der Athlet entscheidet das durchaus nicht alleine, er ist kein Freizeitläufer im Wald, sondern er ist in diesem Kontext Trainer – Mannschaft – Konkurrenten – Funktionäre – der Vereinsarzt – der Hausarzt, all diese Akteure spielen eine Rolle bei der Entscheidung, spiele ich unter Schmerzen oder spiele ich eben nicht unter Schmerzen. Und deswegen ist diese Entscheidung durchaus nicht eine individuelle Entscheidung, die im stillen Kämmerlein getroffen wird."

Falscher Sportsgeist

Leistungsdruck, hohe Erwartungen, Mannschaftsgeist, finanzielle Aspekte – all das schafft ein Klima, in dem Athletinnen und Athleten mit ihrem Körper bis zum Äußersten gehen. Natürlich ist es auch der eigene Ehrgeiz, in diesem System zu bestehen, im Kader zu bleiben, Qualifikationen zu schaffen, Siege zu erringen. Beachvolleyballerin Kira Walkenhorst kann diesen Gedankengang nachvollziehen, hat aber selbst die Erfahrung gemacht, dass sie immer auf Verständnis in ihrem Umfeld sowie bei ihrer Spielpartnerin Laura Ludwig stieß, wenn sie wirklich mal nicht mehr konnte.
"Bei mir war es eher so, dass ich mich selber unter Druck gesetzt habe, ich wollte nicht pausieren, ich wollte nicht Trainingseinheiten verpassen. Ich wollte die Wettkämpfe nicht verpassen und habe mich da irgendwie durchgebissen, weil ich keine Pause haben wollte. Aber der Druck kam eigentlich mehr von mir selber als von dem Team, oder dass ich mich vom Team unter Druck gesetzt gefühlt habe."
Andreas Toba liegt verletzt auf dem Boden bei der Qualifikation zu den Olympischen Spielen 2016
Trotz Kruezbandriss turnte Andreas Toba weiter.© imago images / Schreyer
Andreas Toba: "Sie wollten mich ins Krankenhaus fahren; ich hab' gesagt: nix da, ich brauche meine Handgelenkschoner und meine Pferdhose und dann gehe ich da hoch. Und dann bin ich ans Pferd und habe geturnt."

Der deutsche Turner Andreas Toba zog sich bei den Olympischen Spielen 2016 in Rio de Janeiro bei seiner Bodenübung im Mannschaftsmehrkampf einen Kreuzbandriss zu. Mit dieser äußerst schmerzhaften Verletzung absolvierte er dennoch seine Übung am Pferd und sicherte damit der deutschen Mannschaft die Qualifikation für das olympische Finale. Für den damaligen Bundestagspräsidenten Norbert Lammert wurde er dadurch zu seinem persönlichen "Sportler des Jahres": "Lieber Herr Toba, für viele Sportfreunde verkörpern Sie mit ihrem Einsatz den wahrhaft olympischen Geist. Für viele, mich jedenfalls, sind Sie der Sportler des Jahres."
Auch Kira Walkenhorst ist heute noch voller Bewunderung für die Leistung von Andreas Toba: "Hut ab, dachte ich damals auch schon, als ich ihn gesehen habe in Rio, das war eine sehr, sehr starke Leistung. Ich glaube, wenn der Körper so viel Adrenalin ausschüttet, was er zu den Olympischen Spielen definitiv macht, dann war es ja der Team-Wettkampf, da haben wir diesen Druck, den man dann vielleicht hat: Wenn ich jetzt aussteige, dann steigt das ganze Team aus. Ich kann es gut nachvollziehen, dass er das gemacht hat, glaube dass es viele Sportler gemacht hätten, aber das dann so gut durchzuziehen. Hut ab!"
Sven Schneider beurteilt das Geschehen deutlich kritischer: "Er wurde dann in der Presse als ‚Hero de Janeiro’ glorifiziert und herausgestellt als unser Held bei Olympia. Die Frage ist, ob das die richtige Botschaft, insbesondere an unsere Freizeit- und Nachwuchssportler, war: So starke Verletzungen schlicht zu ignorieren und trotzdem anzutreten."

Schmerzmittel wie Bonbons eingeworfen

Oftmals nicht weit ist der Weg vom Schmerz zum Schmerzmittel. Ibuprofen, Diclofenac, ASS und Paracetamol – das sind die gängigsten Substanzen, die von Sportlerinnen und Sportlern eingenommen werden. Oder kann man sagen: gefuttert werden?
"Der Schmerzmittelkonsum im Nachwuchsleistungssport und im Leistungssport nimmt zu mit zunehmender Professionalisierung. Im Olympiabereich, also bei den Olympioniken, haben wir eine regelmäßige Einnahme von Schmerzmitteln von 50 Prozent, über 70 Prozent im Marathonlauf, und die Spitzenwerte werden aus Italien aus der Liga A berichtet, also die Bundesliga in Italien, von über 90 Prozent, das heißt, absolut üblich, dort mit Schmerzmitteln auf den Platz zu gehen. Und man muss bedenken, dass es sich hier natürlich auch um eine große Dunkelziffer handelt, die man hier gar nicht berichtet bekommt. Dieses Phänomen scheint insbesondere in diesem hoch selektierten Kollektiv der Hochleistungssportler sehr verbreitet zu sein. Es gibt da das Zitat von Frank Busemann, dem ehemaligen Zehnkämpfer, der sagte: 'Ich habe die Dinger wie Bonbons eingeworfen.'"
Schmerzmittel sind keineswegs harmlos – auch wenn sie nicht auf der Dopingliste stehen. Alle Substanzen schädigen Leber und Nieren. Darüber hinaus können Magen-Darm-Blutungen und Blut im Urin die Folge sein. Asthmaanfälle, Dickdarminfarkte und tödliche Elektrolyt-Störungen können schlimmstenfalls die Folgen von übermäßiger Schmerzmitteleinnahme sein. Deswegen sollten Menschen diese Medikamente höchstens vier Tage am Stück einnehmen – Leistungssportler nehmen sie zum Teil täglich über Wochen ein.
Schmerzhafter Moment: Berlins Handballer Paul Drux (links) wird geblockt von Olle Forsell-Schefvert aus Wetzlar.
Schmerzhafter Moment: Berlins Handballer Paul Drux (links) wird geblockt von Olle Forsell-Schefvert aus Wetzlar© picture alliance / dpa / Andreas Gora
Auch für viele Handballer gehören Schmerzmittel dazu – die Bundesliga wird auch scherzhaft "Voltaren-Liga" genannt. Paul Drux: "Es gibt Momente bei jedem Spieler in der Karriere, in der Saison, wo er darauf zurückgreift. Keine Frage, das gehört schon ein bisschen dazu, muss man leider sagen. Anders geht es manchmal auch gar nicht. Ich glaube aber, dass es auch viele andere Sportarten und Ligen gibt, in denen es genauso ist."
Doch nicht nur unter Leistungs- und Profisportlern ist die Einnahme von Schmerzmedikamenten verbreitet. Auch Hobbysportlerinnen und -sportler schlucken die Tabletten – in einem Umfang, der erschreckt, zumal Freizeitsportler im Gegensatz zu professionellen Athletinnen und Athleten nicht dauernd medizinisch betreut werden. Sven Schneider:
"Problematisch wird es bei Freizeitsportlern. Wir wissen aus Befragungen vom Bonn-Marathon, dass 60 Prozent der Läufer beim Bonn-Marathon, also Freizeitläufer, engagierte, ambitionierte Freizeitläufer, zu 60 Prozent bereits vor dem Lauf Schmerzmittel einnehmen, prophylaktisch. Ein großes Problem. Im Jugendbereich ist es so, auch im Jugendleistungsbereich, dass diese Athleten natürlich noch nicht die Erfahrung des erfahrenen Athleten haben. Die kennen ihren Körper noch nicht so und wissen nicht, wann dosiere ich über und wann dosiere ich nicht über. Hinzu kommt, dass oft der Trainer gar nicht weiß, was der Hausarzt oder was die Eltern an Tabletten, an Schmerzmitteln besorgen, die der Athlet dann ohne Aufsicht und ohne Diagnose einnimmt."

Über die Grenzen hinauswachsen

Schmerzen sind Qualen. Und doch hat der Körper einen eigenen Mechanismus entwickelt, so dass Schmerzen erträglicher oder gar nicht wahrgenommen werden. Kira Walkenhorst, John Degenkolb und Paul Drux kennen alle diesen Rausch.
Kira Walkenhorst: "Adrenalin ist ein natürliches Schmerzmittel. Meistens war es dann auch tatsächlich so, dass es im Laufe des Spiels bei mir schmerzlich immer besser wurde. Man hat sich kaum bewegen können vorm Spielstart, und als es dann losging und man immer wieder weiter reingekommen ist und das Adrenalin gestiegen ist, vergisst man den Schmerz einfach."
John Degenkolb: "Ja, ich glaube schon, dass es da irgendwie Sachen gibt, die dann aufgrund des Adrenalins und aufgrund der Aufregung dann irgendwie umgangen werden im Körper, und dass man da halt einfach über seine Grenzen hinauswachsen kann."
Paul Drux: "Ja, ich meine, vor allem im Spiel ist es ja oft so, dass man den Schmerz ja gar nicht spürt. Das kommt ja meistens erst dann auf der Busfahrt, auf dem Heimweg oder wenn man dann morgens aufwacht, da merkt man, oh, das war doch ein bisschen härter. Im Spiel hat man so viel Adrenalin und dann kriegt man das gar nicht mit."
Schmerzen ohne Ende? Immer wieder Operationen, Reha, Eisspray und Massagen, immer noch mehr Schmerztabletten? Nein. Irgendwann geht es nicht mehr.

Die Schmerzen im Rücken waren stärker. Deswegen hat Gunda Nierman-Stirnemann in Berlin ihren endgültigen Rücktritt vom Eisschnelllaufsport erklärt: "Wenn möchte ich mich messen mit der Weltspitze, ohne Schmerzen, nur so kann man das erreichen, mein Maßstab, den ich habe, und das gelingt mir leider nicht."
"Laura Dahlmeier, drei Schuss, drei Treffer, Dahlmeier vier Schuss, vier Treffer. Keine konnte sich so schinden, so ans Limit und darüber hinaus gehen."
In der Regel signalisiert der Körper deutlich, wann es ihm zu viel wird. Manchmal schon in jungen Jahren. Der 31-jährige Tennisspieler Andy Murray verkündete im Januar 2019 unter Tränen seinen Rücktritt – um jetzt doch wieder – ähnlich wie Beachvolleyballerin Kira Walkenhorst – an seinem Comeback zu arbeiten. Mit einem Hüftgelenk aus Metall spielt er wieder Doppelturniere. Die Liste derer, die früh aus körperlichen Gründen nicht mehr können oder wollen, lässt sich fortsetzen: Die 25-jährige Biathletin Laura Dahlmeier, Fußballer David Odonkor, Basketballer Johannes Herber, Skifahrerin Katja Seitzinger, die Tennisspielerinnen Tracy Austin und Anna Kournikowa und viele mehr. Sie alle litten an ihrem geschundenen Körper – aber auch am System, das viel, manchmal zu viel, von den Athletinnen und Athleten verlangt. Ein Warnruf kam gerade von Handballerinnen und Handballern aus aller Welt, die in einem Video auf ihre Überlastung im Spielbetrieb aufmerksam gemacht haben.

"Heroisieren nicht unterstützen"

"Handball players stand united. Protect the players. Handball players stand united. Listen to the players. Don’t play the players."

Eine vorbildliche Aktion, die auch ein Signal an Verantwortliche in Verbänden und Vereinen sendet. Auch Sven Schneider ist der Auffassung, dass sich hier das Bewusstsein verändern müsse:
"Akteure, die hier moderierend eingreifen könnten, sind natürlich die Trainer, aber eben auch die Funktionäre, die Vereinsärzte, Physiotherapeuten, die häufig der erste Ansprechpartner für Leistungssportler sind, aber eben auch die Mannschaften, Mannschaftskameraden, die dieses Heroisieren nicht unbedingt unterstützen sollten, sondern sagen sollten: ‚Hey, pass wirklich auf, dass du dir nicht das Kreuzband durchreißt und dann deine Karriere für immer beendet ist.’ Das heißt, so ein Problembewusstsein muss nicht nur beim Athleten geschaffen werden, sondern auch in den Institutionen. Und die Trainer sind in diesen Institutionen eingebunden über Weiterbildungen, die Vereinsärzte sind natürlich sowieso qualifiziert per se, und dieses Risikobewusstsein tut tatsächlich in einigen Fällen noch not."
Ein Sportsystem, das Athletinnen und Athleten nicht permanent abfordert, über die Schmerzgrenze zu gehen, wäre sicher humaner. Wenn zwei Fußballer mit blutenden Kopfverbänden einfach weitermachen wie beim Relegationsspiel des VfB Stuttgart gegen Union Berlin, vom TV-Kommentator gefeiert, ist das sicher die falsche Botschaft an Zuschauer und Nachwuchssportler. Doch was wäre ein Triathlon ohne einen Sieger, der im Ziel vor Erschöpfung zusammenbricht? Eine Tour de France ohne Radfahrer, die sich den Mont Ventoux hinaufquälen? Sport und Schmerz stehen nun mal in einer innigen Verbindung. Es ist eine Hassliebe, die vermutlich existieren wird, solange Wettkampfsport betrieben wird.
Die Schmerzen sind’s, die ich zu Hilfe rufe. Denn es sind Freunde, Gutes raten sie.
Johann Wolfgang von Goethe, deutscher Dichter
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