Schmerz, Einsamkeit und heimliche Liebe
Der Vater ist weg. Die Polizei hat ihn entführt - aus politischen Gründen. Der 14-jährige Nuri hat nun nur noch seine Stiefmutter Mona. Er ist verwirrt und auch ein bisschen verliebt in die neue Frau des Vaters. Der Roman beschreibt die Gefühle des Jungen psychologisch genau und zeigt, was Menschen in autoritären Regimen angetan wird.
Manchmal schreibt das wahre Leben die unglaublichsten Geschichten. Seit 20 Jahren lebt der 1970 geborene Hisham Matar mit der Ungewissheit über den Verbleib seines Vaters. Dieser war ein berühmter libyscher Dissident, hatte sich gegen Gaddafi aufgelehnt und wurde 1990 in Kairo – wohin die Familie aus politischen Gründen emigriert war – vom libyschen Geheimdienst entführt.
Schon Hisham Matars erster Roman "Land der Männer" über eine Kindheit in Libyen ist durchzogen vom beständigen Widerhall eines solchen Verlusts und dem Schmerz der Abwesenheit. Nun liegt sein zweiter Roman vor: "Geschichte eines Verschwindens". Und nur wenige Wochen, bevor der Roman Anfang des Jahres in England erschien – Matar lebt seit 1986 in London – hat der Autor erfahren, dass sein Vater möglicherweise noch lebt. In einem ergreifenden Essay bat er die Entführer postwendend, endlich Gewissheit zu geben. Und er schließt mit den Worten: "Sein Mantel hängt noch immer in meiner Garderobe. Vielleicht passt er ihm noch."
Mit dem Bild eines Sohnes, der den Mantel seines Vaters aufbewahrt, endet auch "Geschichte eines Verschwindens". Auch hier schildert in der Rückschau ein Sohn – Nuri el-Alfi ist sein Name – wie sein Vater, ein arabischer Dissident, 1972 aus seinem Genfer Exil gekidnappt wird. Nuri ist zu diesem Zeitpunkt 14 Jahre alt. Er befindet sich in Begleitung seiner jungen, 28-jährigen Stiefmutter Mona, die der Vater zwei Jahre nach dem Tod von Nuris Mutter geheiratet hat – und für die Nuri mehr als nur kindliche Gefühle hegt. Als Mona und Nuri nach Genf eilen, um die persönlichen Gegenstände des Vaters von der Polizei überreicht zu bekommen, stehen sie vor einem Rätsel: Der Vater sei aus einer Wohnung entführt worden, die er mit einer anderen Frau bewohnt habe.
Tatsächlich liefert ‚Anatomie eines Verschwindens’ – so der Titel des Romans im Original – nicht so sehr die minutiöse Geschichte eines Verschwindens. Matar erzählt vielmehr von den (teils auch erotischen) Verwirrungen eines Jungen, der erst die Mutter, dann den Vater verliert – und aus diesem Verlust heraus sowohl Schuld empfindet als auch verzweifelt nach Liebe sucht. Die Frauen, nicht der Vater, stehen daher im Vordergrund dieses Romans.
Nicht nur Nuri, auch der Leser versteht erst spät, dass dieser Vater nicht nur eine, sondern mehrere Geliebte, nicht nur ein Gesicht, sondern mehrere Gesichter hat. Das gilt auch für den Roman: "Geschichte eines Verschwindens" spiegelt die Ungewissheit des Sohnes in einer fast lapidaren, bewusst mit Leerstellen und Aussparungen agierenden Prosa, und funkelt doch durch psychologische Genauigkeit.
Ob es der literarischen Umwege einer erotischen (und letztlich ödipal angelegten) Obsession zu seiner jungen Stiefmutter bedurft hätte, bleibt an manchen Stellen des Romans fraglich. Dennoch: Ohne je nur ein Wort über die große Politik zu verlieren, macht Hisham Matar mit "Geschichte eines Verschwindens" spürbar, was Menschen in einer Autokratie wie etwa Libyen tief in ihrem Innersten widerfährt.
Besprochen von Claudia Kramatschek
Hisham Matar: Geschichte eines Verschwindens
Aus dem Englischen von Werner Löcher-Lawrence
Luchterhand Verlag, München 2011
192 Seiten, 19,99 Euro
Schon Hisham Matars erster Roman "Land der Männer" über eine Kindheit in Libyen ist durchzogen vom beständigen Widerhall eines solchen Verlusts und dem Schmerz der Abwesenheit. Nun liegt sein zweiter Roman vor: "Geschichte eines Verschwindens". Und nur wenige Wochen, bevor der Roman Anfang des Jahres in England erschien – Matar lebt seit 1986 in London – hat der Autor erfahren, dass sein Vater möglicherweise noch lebt. In einem ergreifenden Essay bat er die Entführer postwendend, endlich Gewissheit zu geben. Und er schließt mit den Worten: "Sein Mantel hängt noch immer in meiner Garderobe. Vielleicht passt er ihm noch."
Mit dem Bild eines Sohnes, der den Mantel seines Vaters aufbewahrt, endet auch "Geschichte eines Verschwindens". Auch hier schildert in der Rückschau ein Sohn – Nuri el-Alfi ist sein Name – wie sein Vater, ein arabischer Dissident, 1972 aus seinem Genfer Exil gekidnappt wird. Nuri ist zu diesem Zeitpunkt 14 Jahre alt. Er befindet sich in Begleitung seiner jungen, 28-jährigen Stiefmutter Mona, die der Vater zwei Jahre nach dem Tod von Nuris Mutter geheiratet hat – und für die Nuri mehr als nur kindliche Gefühle hegt. Als Mona und Nuri nach Genf eilen, um die persönlichen Gegenstände des Vaters von der Polizei überreicht zu bekommen, stehen sie vor einem Rätsel: Der Vater sei aus einer Wohnung entführt worden, die er mit einer anderen Frau bewohnt habe.
Tatsächlich liefert ‚Anatomie eines Verschwindens’ – so der Titel des Romans im Original – nicht so sehr die minutiöse Geschichte eines Verschwindens. Matar erzählt vielmehr von den (teils auch erotischen) Verwirrungen eines Jungen, der erst die Mutter, dann den Vater verliert – und aus diesem Verlust heraus sowohl Schuld empfindet als auch verzweifelt nach Liebe sucht. Die Frauen, nicht der Vater, stehen daher im Vordergrund dieses Romans.
Nicht nur Nuri, auch der Leser versteht erst spät, dass dieser Vater nicht nur eine, sondern mehrere Geliebte, nicht nur ein Gesicht, sondern mehrere Gesichter hat. Das gilt auch für den Roman: "Geschichte eines Verschwindens" spiegelt die Ungewissheit des Sohnes in einer fast lapidaren, bewusst mit Leerstellen und Aussparungen agierenden Prosa, und funkelt doch durch psychologische Genauigkeit.
Ob es der literarischen Umwege einer erotischen (und letztlich ödipal angelegten) Obsession zu seiner jungen Stiefmutter bedurft hätte, bleibt an manchen Stellen des Romans fraglich. Dennoch: Ohne je nur ein Wort über die große Politik zu verlieren, macht Hisham Matar mit "Geschichte eines Verschwindens" spürbar, was Menschen in einer Autokratie wie etwa Libyen tief in ihrem Innersten widerfährt.
Besprochen von Claudia Kramatschek
Hisham Matar: Geschichte eines Verschwindens
Aus dem Englischen von Werner Löcher-Lawrence
Luchterhand Verlag, München 2011
192 Seiten, 19,99 Euro