Schluss mit Kyrillisch

Warum Kasachstan lateinische Buchstaben will

Die Tastatur einer alten Schreibmaschine.
Kasachisch soll bis 2025 in lateinischen Buchstaben geschrieben werden. © imago / McPHOTO
Von Christian Siepmann · 01.11.2017
Vor 100 Jahren schrieben die Kasachen mit arabischen Zeichen, dann in lateinischen und ab 1940 mit kyrillischen. Nun erfolgt der nächste Schriftwechsel, weil lateinische Buchstaben "moderner" seien, sagt Präsident Nasarbajew als Abkehr von Russland?
Kenje Ali arbeitet als Fahrer. Er lebt in Taras, einer Großstadt im Süden von Kasachstan - ein Vielvölkerstadt in Zentralasien mit gut 18 Millionen Einwohnern. Sie gehören 131 unterschiedlichen Ethnien an.
Im Süden, der Heimat von Kenje Ali, ist die kasachische Identität stark. Auch Kenje Ali, ein schlanker Mittvierziger mit hagerem Gesicht und braungebrannter Haut, ist ethnischer Kasache. In der Familie sprechen sie nur Kasachisch.

Russisch sprechen 85 Prozent fließend

Kasachisch ist eine Turksprache und die offizielle Landessprache. Aber weil laut letztem Zensus nur 62 Prozent der Bevölkerung in der ehemaligen Sowjetrepublik fließend Kasachisch spricht und schreibt, erkennt die Verfassung auch Russisch als Landessprache an. Russisch sprechen und schreiben laut Zensus 85 Prozent der Bevölkerung fließend. Kenje Ali spricht ebenfalls Russisch.
"Kasachstan hat sich entwickelt, viele Gäste kommen. Wir zeigen ihnen alles und helfen ihnen nach Möglichkeit. Wir lieben unser Land."
Wer Russisch schreibt, nutzt die kyrillischen Buchstaben. Auch die kasachische Sprache wird im Land bislang mit kyrillischen Zeichen geschrieben - ergänzt um einige Sonderzeichen. Aber das soll sich ändern. So will es der seit 27 Jahren schon autokratisch regierende Präsident Nursultan Nasarbajew.
Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier sitzt auf einem Sessel mit Goldschmuck neben dem kasachischen Präsidenten Nursultan Nasarbajew. Dahinter Fahnen von Deutschland und Kasachstan.
Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier im Gespräch mit dem kasachischen Präsidenten Nursultan Nasarbajew anlässlich der Expo in Kasachstans Hauptstadt Astana.© picture alliance/dpa/Bernd von Jutrczenka
Im April schrieb Nasarbajew in einer Staatszeitung, Kasachisch solle bis 2025 auf lateinische Schrift umgestellt werden. Offizielle Dokumente, Zeitschriften und Bücher in kasachischer Sprache sollen dann nur noch in lateinischer Schrift erscheinen. Die Zeit dränge, so der Präsident. In seinem Artikel beschrieb er konkret die nächsten Schritte:
"Die Regierung wird einen Zeitplan für den Schriftübergang ausarbeiten. Bis Ende 2017 müssen wir mit der Hilfe von Wissenschaftlern und der Allgemeinheit ein einheitliches Standardalphabet für Kasachisch entwickeln. Von 2018 an müssen wir Spezialisten ausbilden, die das neue Alphabet lehren. Außerdem müssen wir neue Schulbücher entwickeln. Die Arbeit an Organisation und Methoden soll in den nächsten beiden Jahren abgeschlossen werden."

Dekret für Schriftumstellung bis 2025

Dieses Mal gilt es also. Die Idee der Schriftumstellung ist zwar schon oft diskutiert worden, seit Kasachstan 1991 mit dem Ende der Sowjetunion unabhängig wurde. Nun aber debattierte das Parlament in Astana im September tatsächlich über einen ersten Entwurf für das neue Standardalphabet. Es entspricht dem bekannten lateinischen Alphabet und hat 25 Buchstaben - lediglich das "X" gibt es nicht. Ende Oktober unterschrieb Nasarbajew dann ein Dekret, das die Schriftumstellung bis 2025 vorsieht.
Zwei turksprachige Nachbarländer, die ehemals Teil der Sowjetunion waren, haben ihre Schrift bereits von kyrillisch auf lateinisch umgestellt: Aserbaidschan und Turkmenistan. Im ebenfalls turksprachigen Usbekistan wiederum sind lateinische und kyrillische Zeichen gebräuchlich. Nur das kleine Kirgistan hält bislang an der kyrillischen Schrift fest.
So war es lange auch in Kasachstan. Bis April 2017. Präsident Nasarbajew nennt als Grund für den Übergang zu lateinischen Zeichen immer: "Modernisierung". Die Umstellung ist Teil des Entwicklungsplans der Regierung namens "Strategie 2050".

Lateinisches Alphabet dominiert in IT-Welt

Auch ein Rückgriff auf die Vergangenheit: In Kasachstan wurde schon einmal für ein gutes Jahrzehnt die Landessprache in lateinischen Buchstaben geschrieben. 1929 stellten die sowjetischen Behörden auf diese Schrift um. Zuvor hatten die Kasachen für ihre Sprache die arabische Schrift benutzt. Seit 1940 schreiben sie die kasachische Sprache in kyrillischen Zeichen.
Ob nun das künftige lateinische Alphabet praktische Vorteile für die kasachische Sprache hat, ist umstritten. Linguisten sind uneins darüber, ob es besser als das kyrillische dazu geeignet ist, die Phonetik des Kasachischen wiederzugeben. Manche führen als Argument an, dass das lateinische Alphabet in der modernen IT-Technologie dominierend sei.
Nicht wenige Beobachter vermuten allerdings weitere politische Motive hinter Nasarbajews Entscheidung zur Schriftumstellung: Stärkung der kasachischen Identität, Abwendung vom kyrillisch schreibenden Russland und von der sowjetischen Vergangenheit, Hinwendung zur lateinisch schreibenden türkischen Welt.

"Wir verändern die Richtung, weg von Russland"

Ein Café in Almaty – Millionenmetropole und kulturelles Zentrum Kasachstans. Hier sitzt ein besonders lauter Anhänger der Schriftumstellung: Aidos Sarym - politischer Analyst. Er nennt sich halb im Scherz "kasachischer Nationalist".
Sarym ist ein freundlicher, fast gemütlich wirkender Mann mit eckiger Brille. Er beschreibt die Schriftumstellung als Teil eines langen Modernisierungsprozesses seit der Unabhängigkeit - der allerdings durchaus politische Implikationen hat.
"Die Umstellung eines Alphabets oder eines Sprachsystems ist zuallererst ein zivilisatorisch-kultureller Schritt. Er bedeutet eine Anstrengung und bringt eine bestimmte Zugehörigkeit zum Ausdruck. Das praktische Ergebnis lässt sich in Aserbaidschan besichtigen. Seit 20 Jahren lernen die Kinder dort in der Schule nur noch die Landessprache und Englisch. Insofern ist die Umstellung auch ein geopolitischer Schritt. Wir verändern die Richtung. Es geht um regionale Integration."
Regionale Integration, das bedeutet für Aidos Sarym: Engere Zusammenarbeit mit den turksprachigen Nachbarländern - nicht aber mit dem Nachbarn Russland. Und das obwohl auch Kasachstan seit 2015 Mitglied der eurasischen Wirtschaftsunion ist, dem von Moskau beförderten Integrationsprojekt im postsowjetischen Raum.
In der Vergangenheit hatte sich Aidos Sarym scharf gegenüber Russland geäußert - nicht weniger scharf hatten russische Medien die Schriftumstellung in Kasachstan kritisiert. Mittlerweile gibt Sarym da fast schon den Diplomaten.
"Russland ist ein Faktor, der sich in die Isolation bewegt. Das Land erlebt eine Wiederauferstehung von Einstellungen und Narrativen aus der Zeit des Kalten Kriegs. Es wäre gefährlich, mit auf diese Reise zu gehen. Heute gilt: Modernisierung oder Tod. Entweder wir modernisieren das Land und die Gesellschaft, oder wir müssen uns morgen mit Negativszenarien befassen, die es ja durchaus gibt."
Diese Negativszenarien heißen für Aidos Sarym Afghanistan oder Iran - beides Länder, die sich einst als modern und westlich orientiert verstanden, dann aber abrupte Kehrtwendungen vollzogen. So etwas für Kasachstan auszuschließen, sei durchaus auch im russischen Interesse, argumentiert Sarym heute sanft. Beide Länder haben schließlich eine fast 7000 Kilometer lange Landgrenze.

24 Prozent ethnische Russen in Kasachstan

Trotzdem ist klar: die Schriftumstellung ist eine hochpolitische Frage für Kasachstan. Es geht dabei auch um kasachische Identität. Und kaum eine andere Teilrepublik der UdSSR war zu Sowjetzeiten so konsequent russifiziert worden wie das zentralasiatische Land.
Im Jahr 1989, kurz vor dem Zusammenbruch der Sowjetunion also, waren laut Zensus knapp 38 Prozent der Bevölkerung ethnische Russen und knapp 40 Prozent ethnische Kasachen. Der letzte Zensus aus dem Jahr 2009 verzeichnete für das nun unabhängige Kasachstan über 63 Prozent ethnische Kasachen und knapp 24 Prozent ethnische Russen. Viele Russen sind seit der Unabhängigkeit emigriert. Auch andere haben das Land verlassen, viele Deutsche zum Beispiel.
Pavel Bannikov ist 33 Jahre alt. Ein langer, schmaler Mann. Er ist einer der bekanntesten jungen Dichter und Literaten Kasachstans. Bannikov versteht und spricht auch Kasachisch, seine Texte allerdings schreibt er auf Russisch.
Der kasachische Dichter Pavel Bannikov ist Ende 30 und trägt ein motörhead-T-Shirt.
Der kasachische Dichter Pavel Bannikov.© Von Christian Siepmann
Bannikov ist zu Sowjetzeiten in Almaty geboren. Seine Eltern stammen aus Russland. Natürlich beherrscht Bannikov selbst die lateinische Schrift. Aber er macht auf die gravierenden Folgen der Schriftumstellung aufmerksam.
"Was für eine Modernisierung wird das sein? Es ist nun einmal so, dass in den vergangenen 80 Jahren der Großteil der kasachischsprachigen Literatur in kyrillischer Schrift erschienen ist. Das gilt für künstlerische Texte wie für wissenschaftliche Literatur. Wenn die Schriftumstellung nun kommt, wird ein Großteil davon natürlich nicht in die lateinische Schrift übertragen. Die junge Generation wird also von einem Teil dieses sowjetischen Vermächtnisses in kasachischer Sprache abgeschnitten sein. Es wird für sie nicht leicht zu lesen sein. So ähnlich ist es jedenfalls in Aserbaidschan gekommen."
Noch schwerwiegender als für die Jungen wären die Folgen der Schriftumstellung aber für seine älteren Kollegen.
"Das Problem betrifft in erster Linie die kasachische Intelligenz, die auf Kasachisch schreibt und ihre Gedanken formuliert. Es wird so kommen, dass diese intellektuelle Schicht in diesem Moment zu Analphabeten wird. Es wird für diese Leute sehr schwierig sein, weiterhin neue Gedanken zu formulieren. Das bedeutet: Sie bleiben in der Vergangenheit."

Kasachstan als Teil der russischen Welt?

Pavel Bannikov selbst bezeichnet sich als kasachischen Poeten russischer Sprache. Russkij Mir, "russische Welt", so heißt ein Konzept, das dem russischen Präsidenten Wladimir Putin im fernen Moskau lieb und teuer ist. Es betont unter anderem die Bindungskraft der russischen Sprache und Kultur über Russlands Grenzen hinweg. Putin und der Kreml benutzen dieses Konzept auch dazu, Russlands Streben nach politischem Einfluss im postsowjetischen Raum zu legitimieren - unter anderem in der Ukraine.
Was bedeutet "Russkij Mir" nun für Pavel Bannikov, den kasachischen Poeten russischer Sprache? Sieht er seine Heimat Kasachstan als Teil der russischen Welt?
"Wenn es um die russische Welt im Sinne Wladimir Putins geht: Nein. Wenn wir aber von der russischen Welt im Sinne von russischer Kultur, Literatur, Musik und Ballet sprechen, dann: Teilweise Ja. Hier leben viele Künstler, Literaten und Musiker, die die Tradition der russischen Kunst fortführen und ihr eine kasachische Note verleihen. In diesem Sinne: Ja. Aber auf keinen Fall so, wie Mister Putin das versteht."
Streit gibt es auch über die Kosten der Schriftumstellung. Bannikov ist überzeugt, dass sie kolossal hoch sein werden. Aidos Sarym dagegen sagt, dank Automatisierung und Computern würden die Kosten gering sein.
In einem sind sich Pavel Bannikov und Aidos Sarym allerdings auch einig: Schriftumstellung für Kasachisch hin oder her - in Kasachstan wird Russisch eine wichtige Umgangssprache bleiben.

"Die Stadtbewohner schaffen die Umstellung"

Davon ist auch Alexander Morrison überzeugt. Der Enddreißiger mit runder Brille und Vollbart ist Brite und war lange Professor für Geschichte an der Nasarbayev-Universität. Das ist die staatliche Elite-Hochschule in Kasachstans ultramoderner Retorten-Hauptstadt Astana.
"Unser Dubai" nennt manch Einheimischer die aus der Steppe gestampfte Stadt scherzhaft, in der die berühmtesten Architekten der Welt in den vergangenen Jahren die kühnsten Neubauten hochgezogen haben.
Auch die Nasarbajew-Universität ist groß und modern – mit Palmen und Wasserspielen – viele Professoren kommen aus dem Ausland – Vorlesungen sind oft in Englisch.
Das Hauptgebäude der Nasarbayev-Universität in Astana ist eine riesige Halle mit Wasserspielen und Fahnen.
Das Hauptgebäude der Nasarbayev-Universität in Astana© Von Christian Siepmann
Russisch als zweite Sprache sieht Geschichts-Professor Morrison aber weiterhin als Gewinn für Kasachstan.
"Russisch ist sehr tief verwurzelt. Der wirtschaftliche oder kulturelle Nutzen, Russisch zu lernen, wenn man es nicht spricht, oder weiter auf Russisch zu kommunizieren, wenn es die Muttersprache ist, ist ganz deutlich. Ich kann mir deshalb nicht vorstellen, dass man hier irgendwann aufhört, Russisch zu sprechen".
Aber: Kasachisch und Russisch - das ist in Kasachstan auch eine Klassenfrage. Morrison richtet das Augenmerk auf eine andere Schicht als Pavel Bannikov. Auch sie werde unter der Schriftumstellung leiden.
"Ich glaube, die Umstellung wird genau den Leuten schaden, denen sie angeblich helfen soll: Den Kasachisch-Sprechern. Sehr viele von ihnen leben auf dem Land und kennen die lateinische Schrift nicht. Für unsere Studenten wird die Umstellung kein Problem sein, denn sie sprechen alle Englisch. Auch für die meisten Städter wird es nicht schwer sein, denn sie kennen die lateinische Schrift. In dieser Gruppe mag die Umstellung vielleicht sogar helfen, den Stand des Kasachischen zu verbessern. Aber Landbewohner, für die Kasachisch erste Sprache ist und die wenig Russisch und kein Englisch können, wird die Umstellung zu funktionellen Analphabeten machen."

Ablenkung vom Streit über Beziehung zu Russland

Warum Nasarbajew die schon so lange diskutierte Schriftumstellung dann nun trotzdem wahrmachen will? Einerseits wolle der alternde Präsident sich wohl ein Denkmal setzen, glaubt Professor Morrison. Nicht zuletzt aber wolle er mit diesem Schritt wohl auch von anderen, viel gravierenderen Streitpunkten ablenken.
"Ich denke, das ist eine Beruhigungspille für die Kasachisch-Lobby, die Nasarbajew gegenüber sehr kritisch war. Er tut ihrer Meinung nach nicht genug für die kasachische Sprache, ihnen geht es zu langsam voran. Sie kämpfen schon lange für die Schriftumstellung, um die Verbundenheit mit der türkischen Welt zu betonen und das Land von Russland abzutrennen. Ich glaube, Nasarbajew will sie zufriedenstellen, ohne dass die wirklich komplizierten Punkte zu einem Thema werden: der Gebrauch des Russischen als Umgangssprache und Kasachstans Beziehung zu Russland."
Diese Kasachisch-Lobby - das sind Leute wie Aidos Sarym. Aber die einfachen Kasachen, die so stolz auf ihr Land und ihre Sprache sind? Kenje Ali, der Fahrer, aus der Stadt Taras, zum Beispiel? Der gibt sich da sehr pragmatisch.
"Wenn das unserem Land hilft, sich weiter zu entwickeln und nützlich ist, begrüße ich das natürlich. Jeder sollte seinen Beitrag leisten, damit sich unser Land entwickelt und unsere Kinder besser leben."
Es ist - man erinnert sich - der allgemeine Modernisierungs-Diskurs des Präsidenten, den Kenje Ali da wiedergibt. Seine eigenen Kinder lernten übrigens schon die lateinischen Zeichen in der Schule, erzählt er. Und Kenje Ali selbst? Kann er lateinisch lesen?
"Nein, in meinem Beruf brauchte ich das nicht. Die Umstellung wird natürlich schwierig sein."
Mehr zum Thema