Schloss im Spiegel

Von Stefan Keim |
Die Schauspieler sitzen am Tisch vor einem Spiegel und quasseln. Ach, das Publikum ist schon da, einer soll anfangen, hat aber keine rechte Lust. Entspannt beginnt Nurkan Erpulats Inszenierung von Franz Kafkas Romanfragment "Das Schloss".
Die kleinere Turbinenhalle hinter der Bochumer Jahrhunderthalle ist fast leer. Manchmal schweben Plexiglaswände von der Decke, die je nach Beleuchtung durchsichtig sind oder als Spiegel wirken. Optisch wirkt der Abend karg und zurückhaltend, und auch die Schauspieler fangen erst einmal an, das Buch vorzulesen.

Nach dem auf allen bedeutenden Festivals herum gereichten Überraschungshit "Verrücktes Blut" lasteten hohe Erwartungen auf der Premiere. Fast wirkt es so, als wollten Erpulat und Dramaturg Jens Hillje erst einmal alle Spannung raus nehmen - wie Fußballtrainer, die auf Stürmer verzichten und den Ball in den eigenen Reihen herum schieben lassen.

Wer von Erpulat als Exponent des "postmigrantischen Theaters" eine entsprechende Deutung des Romans erwartet hätte, wird ebenfalls enttäuscht. Wie Kafka lässt er alle Deutungsmöglichkeiten offen. Wer sehen will, dass dieser scheinbare Landvermesser K in einer geschlossenen Gesellschaft Asyl beantragt, die Herrschaft einer absurden Bürokratie und die Rückstufung zu einem Schuldiener in Kauf nimmt, findet manche Anknüpfungspunkte. Doch die Inszenierung lenkt den Blick keinesfalls in diese Richtung.

Sesede Terziyan, die grandiose Lehrerin aus "Verrücktes Blut", spielt diesmal Frieda, eine junge Frau aus der Dorfgemeinschaft, die mit K eine Partnerschaft beginnt. Während Kafkas Antiheld nicht von einem türkischstämmigen Schauspieler verkörpert wird, sondern von Moritz Grove. Er zeigt einen kämpferischen, selbst bewussten jungen Mann, über dessen Herkunft nichts verraten wird, der aber keine andere Hoffnung zu haben scheint, als sich in dieser seltsamen Welt eine Zukunft zu erarbeiten.

"Das Schloss" ist eine Koproduktion mit dem Deutschen Theater Berlin. Das Ensemble spielt dicht zusammen, immer wieder gelingen konzentrierte Szenen, wenn die Schauspieler psychologisch präzise in die Rollen eintauchen. Thorsten Hierse glänzt zum Beispiel in dunklem Kleid als Olga, die von ihrem Abstieg aus scheinbar gesichertem Bürgertum in die Armut erzählt. Ganz leise und voller Würde spielt Hierse, ohne auch nur ansatzweise ein Frauenklischee zu bedienen.


Erpulats körperbetonter Regiestil ist gelegentlich erkennbar. Ks Gehilfen (Tamer Arslan und wieder Thorsten Hierse) sind hundeähnliche Wesen, die erst nach ihrer Kündigung wieder zu Menschen mutieren. Doch im Kern ist diese Inszenierung ordentliches, kreuzbraves Handwerk. Erpulat und Hillje lassen ein paar Kapitel weg, folgen aber dem Handlungsverlauf, bis die Geschichte zerfasert und sich in einzelne Erzählungen auflöst.

Am Ende steht K vor dem Publikum und liest die letzte Seite, bis die Aufführung – wie der Roman – mitten im Satz endet. Das ist alles sehr ehrenwert, aber auch ein wenig mühsam. Zumal die Akustik der Halle nicht immer zu klarer Textverständlichkeit führt. Es fehlt die Dringlichkeit, die "Verrücktes Blut" auszeichnete, das ehrliche Bedürfnis, diese Geschichte zu erzählen und keine andere. Es bringt natürlich wenig, einen Regisseur mit seinem großen Wurf zu konfrontieren. So etwas lässt sich nicht beliebig wieder holen.

Es ist Erpulat und Hillje auch hoch anzurechnen, dass sie nicht den einfachen Weg gehen und die Migrantenthematik als Markenzeichen kultivieren. Dennoch bleibt die leise Enttäuschung, dass dieses "Schloss" einfach nur normales Stadttheater ist, ohne Überraschung und Aufregungspotenzial.


Service:
27. – 30. September, Ruhrtriennale, Turbinenhalle Bochum
Ab 8. Oktober, Deutsches Theater Berlin
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