Schlaraffenland für Irving-Fans

28.05.2010
Als Kind war er Legastheniker, heute gehört er zu den ganz Großen der amerikanischen Literatur: John Irving, Jahrgang 1942. Fünf seiner bisher elf Romane wurden verfilmt, von "Garp und wie er die Welt sah" mit Robin Williams bis "Gottes Werk und Teufels Beitrag" mit Michael Caine, für den Irving das Drehbuch selbst schrieb und dafür mit einem Oscar ausgezeichnet wurde. 2005 erschien Irvings 11. Roman "Bis ich dich finde", über 1000 Seiten lang, nun ist Irvings neuer Roman "Letzte Nacht in Twisted River" auf Deutsch herausgekommen.
Am exzessiv mäandernden Anfang des 732-Seiten-Romans tut man sich ein bisschen schwer, hat das Gefühl eine Persiflage auf einen Irving-Roman zu lesen, bis man irgendwann begreift, dass es das wahrscheinlich tatsächlich ist; Irving persifliert sich zunächst selbst. Gegen Mitte des Romans wird der Grundton durchaus ernster, und am Ende der Verpuppung kommt ein Schmetterling heraus, der einen, - eigentlich wie immer bei Irving-Romanen -, traurig sein lässt, dass das Buch zu ende ist.

Es ist das bekannte Irving-Roman-Potpourri aus vielen bösen "F"-Wörtern, skurrilem Slapstick und schrillen Kalauern mit den typischen, in fast allen Irving-Romanen wiederkehrenden Motiven wie beispielsweise Bären, Hunde, Alkoholismus, körperliche Behinderungen, Sex mit älteren Frauen, tragische Unfälle, - für Irving-Fans ein literarisches Schlaraffenland.

Der Roman beginnt im Jahr 1954. Ein 12-jähriger Junge namens Daniel wächst in einer Holzfällersiedlung in New Hampshire namens Twisted River auf, wo sein Vater Koch ist; aus Versehen erschlägt Daniel mit einer Bratpfanne die Geliebte seines Vaters, weil er die 140 Kilo schwere indianische Tellerwäscherin beim Sex mit seinem Vater für einen Bären hält, der seinen Vater umbringen will. Dieser Totschlag nun ist die Ursache für eine Flucht von Vater und Sohn, die erst 2001 endet.

Man kann den Roman eine Familiensaga nennen, im Wesentlichen aber handelt es sich wieder, - wie meist bei Irving -, um einen sogenannten Entwicklungsroman, der die Entwicklung eines Kindes zum Erwachsenen schildert. Die zentrale Hauptfigur, - eben jener Junge namens Daniel Bacciagalupo -, avanciert im Verlauf der Handlung zu einem weltberühmten Schriftsteller, - übrigens mit eindeutig autobiografischen Details aus dem Leben des Autors Irving. "Letzte Nacht in Twisted River" endet im Jahr 2005, als der weltberühmte aber einsame Autor mit 63 Jahren endlich die Frau seiner Träume findet bzw. wieder findet, denn er hatte sie schon einmal 38 Jahre vorher als nackte Fallschirmspringerin erlebt.

Hardcore-Irving-Fans in den USA zeigten sich begeistert, andere Leser fanden den Roman zu wahllos, wie nach dem Gießkannenprinzip, komponiert. "Letzte Nacht in Twisted River" wurde von der "Los Angeles Times" als genial bezeichnet, weil Irving so extrem wie noch nie Fiktion mit autobiografischen Elementen mischt.

Nicht-Insider werden den Roman als zu heterogen empfinden, spielt er doch gnadenlos ausufernd mit Stilmitteln und manchmal auch mit der Geduld des Lesers. Wer sich aber auch durch langatmige Kapitel gearbeitet hat, der wird sich dafür am Ende mit einem großen Gefühl der Zufriedenheit belohnt fühlen. Und auf der letzten Seite erfahren wir, dass "Geschichten Wunder sind, die sich einfach nicht aufhalten lassen". Das nehme man als Gebrauchsanweisung für "Letzte Nacht in Twisted River".


Besprochen von Lutz Bunk


John Irving, Letzte Nacht in Twisted River,
aus dem Amerikanischen übersetzt von Hans M. Herzog,
Diogenes Verlag Zürich 2010, 732 Seiten, 26.90 Euro.