Schlagabtausch für eine Politik des Volkes

Von Jochen Stöckmann · 18.12.2011
Das Politikvertrauen ist in den Ländern der EU dramatisch abgesunken. Im Haus der Kulturen der Welt erörterte eine Veranstaltung mit Franziska Augstein, Friedrich von Borries, Carolin Emcke, Julia Encke, Romuald Karmakar, Nils Minkmar und anderen im Rahmen einer "Intervention" die Politikverdrossenheit und die Eurokrise.
"Ein Rettungsschirm, unter den vor allem die Banken kommen, um sich vor verlustreichem Regen zu schützen, während den Jugendlichen in Spanien, den Rentnern in Griechenland und den Arbeitslosen kreuz und quer durch Europa das Wasser bis zum Hals steht. Wenn es bei der Eurokrise nur um eine Krise des Euro ginge, wenn die Eurokrise nur eine Krise der Währung wäre, dann wäre ich nicht hier."

Nach dem ökonomischen Verständnis der Publizistin Carolin Emcke wäre "nur" eine Währungskrise für die Pensionskassen keine Bedrohung, würde auch die Zukunftsaussichten der kommenden Generation nicht weiter gefährden. Auch bei Franziska Augstein, Journalistin der "Süddeutschen Zeitung", schnurren komplexe Zusammenhänge zwischen Wirtschaft und Politik zusammen auf allzu plausible Vergleiche:

"Wenn da nicht viele Leute dranhängen, dann ergeht es den Politikern wie dem Fliegenden Robert im Struwwelpeter: Der Schirm fliegt davon mitsamt den Politikern, die sich daran festhalten - und unten stehen die Wähler und schauen zu."

Dieses Anrennen gegen schiefe Metaphern und irreführende Slogans produziert am Ende selbst wieder nur Sprachbilder, die politische Analysen oder historisch fundierte Einsichten verstellen. Etwa, wenn Franziska Augstein behauptet, dass vor der EU auch schon die EWG über die Köpfe der Bürger hinweg gegründet worden sei, dann aber über das Neue, Alarmierende und Besorgniserregende der gegenwärtigen Krise feuilletonistisch kalauernd hinweggeht:

"Die Regierungen schließen Verträge untereinander. Das Parlament und seine Kompetenzen sind ausgehebelt. Wir hören immer so viel von der Hebelwirkung von Geld, hier ist mal eine echte Hebelwirkung."

Über Hebelwirkungen und Abhängigkeiten hatte Jürgen Habermas in der FAZ pointiert konstatiert, dass Politiker als Marionetten an den Fäden der Finanzindustrie zappeln. Und wenn der Designexperte Friedrich von Borries nun Politiker als Waren beschreibt, als bewusst gestaltete Produkte, dann sollte man erkennen, dass eine "politische Haltung", eine angelesene Meinung oder der ausschließlich moralische Standpunkt einer dem argumentativen Streit verpflichteten Demokratie nicht angemessen sind. Der Sozialpsychologe Harald Welzer, Initiator der "Intervention", denkt da ganz anders:

"Es kommt glaube ich darauf an, zu einer Haltung zurückzukehren, nicht als Abnehmer von Worthülsen, sondern sich mal zuzumuten, dagegen etwas zu machen oder zu sagen."

Diese Zumutung bleibt dem Publikum im Berliner Haus der Kulturen der Welt erspart - leider. Nach dem Stakkato von zehn Statements ist eine Diskussion nicht mehr vorgesehen. Keine Gelegenheit also, die Warnung des Schriftstellers Ingo Schulze ernst zu nehmen und sich - nach beschwörenden Formeln wie "Gegenöffentlichkeit" oder "außerparlamentarische Opposition" - an die eigene Nase zu fassen:

"Ich habe den Eindruck, dass die Sprache, die im Kanzleramt oder im Bundestag gesprochen wird, nicht mehr der Wirklichkeit gerecht wird. Es ist eine Sprache der Selbstgewissheit, die sich an keinem Gegenüber mehr überprüft und relativiert."

Eine Replik wert gewesen, zur Richtigstellung herausgefordert hätte einiges, etwa die Behauptung Harald Welzers:

"Dass wir leider damit konfrontiert sind, dass wir einen Totalausfall an Zeitdiagnose haben. Die Deutungseliten, die eigentlich die Verantwortung haben, diese Gegenwartsprozesse zu analysieren mit ihren Instrumenten und das bitteschön auch mitzuteilen, tun das nicht."

Längst hat neben Jürgen Habermas auch Wolfgang Streeck, Direktor der Max-Planck-Instituts für Gesellschaftsforschung, in einem Aufsatz über "Die Krisen des demokratischen Kapitalismus" analysiert, wie durch die vom "Pumpkapitalismus" betriebene Staatsverschuldung Entscheidungen über politische Fragen einfach auf die lange Bank geschoben wurden. Darin bestand vor Jahren schon der "Angriff auf die Demokratie", die nicht mehr als ein an sozialer Gerechtigkeit orientierter Austragungsmodus von Interessenkonflikten begriffen wurde - und die heute von ihren Verteidigern anscheinend zu einer Frage des Lebensstils oder gar des persönlichen Geschmacks erklärt wird:

"Es geht um etwas - und es ist nicht mehr akzeptabel, zumindest dann, wenn man Demokratie gut findet, das alles hinzunehmen, in einer Haltung der Unzuständigkeit zu verharren und sich selber nicht ernst zu nehmen."

Ihre Zuständigkeit, ihre sachlich-argumentative Kompetenz unter Beweis zu stellen haben, die meisten Beteiligten der Berliner "Intervention" versäumt. Statt dessen hat manch einer sich selbst, seine persönliche Ansicht und Meinung allzu ernst genommen - zum Nachteil der gemeinsamen Sache.
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