Schikane, Stau und Schießbefehl

Von Bettina Ritter · 03.10.2008
Wer heutzutage mit dem Auto auf der A2 zwischen Berlin und Hannover unterwegs ist, der nimmt die Reste der deutsch-deutschen Grenze nur im Vorbeifahren wahr. Zu Zeiten der deutsch-deutschen Teilung hingegen musste sich der Transitreisende in Marienborn einer langwierigen Prozedur unterziehen.
Frau: "Sie fanden immer irgendwas. Entweder man fuhr zu schnell, man fuhr zu langsam, man fuhr zu weit rechts, man fuhr zu weit links. Man hatte schon das Gefühl, es war viel Schikane gewesen."

Küchenmeister: "Ich kann es in aller Eindeutigkeit noch mal sagen: So etwas wie einen Schießbefehl gab es, weil die Soldaten, die rausgeschickt wurden an die Grenze, die bekamen immer eine Formulierung: Grenzverletzer sind festzunehmen oder zu vernichten. Der Auftrag war eindeutig."

Dilling: "Nur zur Information - was wir hier behaupten und erzählen, können wir belegen. Es gibt einen Informationsplatz der GHR, wo meine Ausführungen als Horrorgeschichten und als Terrorberichte hingestellt werden. Wenn ich Ihnen heute erzähle, dass es einen Schießbefehl gab, dann kann ich das beweisen."

Die Grenzübergangsstelle Marienborn in Sachsen-Anhalt direkt an der A2. Ein riesiges, graues Betonfeld, insgesamt sieben Hektar groß. In der Mitte: ein hoher Lichtmast. In Zeiten der deutsch-deutschen Teilung leuchtet er mit bis zu 8000 Watt das Areal bis in den kleinsten Winkel aus. In mehreren hundert Metern Entfernung: ein Kommandoturm und graue Baracken. Der Wind pfeift über den glatten Boden, es ist kalt. Neben einem Bus auf dem Parkplatz: eine Gruppe von 48 Leuten. Sie umringen einen älteren, grauhaarigen Herrn im grünen Lodenjackett. Günther Dilling, 74, ehemaliger Leiter einer Gruppe Fluchthelfer.

Dilling: "Hier war das Bollwerk, das zeigen sollte, was wir können, oder, was die DDR konnte. Und wenn man hier ankam, da saß nicht etwa jemand, die Beine übereinander und die Mütze schief. Die Kameraden, die hier gesessen haben, die hatten die Mütze adrett auf dem Kopf, die Krawatte saß ordentlich, in jeder Baracke war ein Spiegel drin, dass die Uniformjacke auch ordentlich zugeknöpft war. Die waren immer korrekt gekleidet und haben sich ja auch fast immer korrekt verhalten."


Günter Dilling marschiert los in Richtung Passkontrollen. Die Gruppe hinterher. Zweimal im Jahr macht die Friedrich-Ebert-Stiftung in Potsdam eine Exkursion zu Mahnmalen der ehemaligen deutsch-deutschen Grenze. Der Titel: "Alles Geschichte, alles vorbei? Stätten deutscher Teilung nach 47 Jahren Mauerbau". Im Bus fahren die Teilnehmer - die meisten deutlich über 50 - zur Grenzübergangsstelle Marienborn und dem Grenzdenkmal Hötensleben. An der GüSt, so heißt die Grenzübergangsstelle im DDR-Abkürzungs-Deutsch, macht Günter Dilling ehrenamtlich Führungen. 1945, nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges, stehen hier nur ein paar Holzhütten, erzählt Dilling und macht eine weit ausholende Handbewegung. Dann kommt der 13. August 1961 und die Grenze wird dicht gemacht. Dilling zieht die Augenbrauen zusammen, schaut ernst.

Dilling: "Mauern, Stacheldraht, Metallplatten. Aber Marienborn war löchrig wie ein Schweizer Käse. Hier konnte man durch, wenn man ein bisschen geschickt war. Und da hat man 1968 gesagt, so geht das nicht weiter und hat eine neue Grenzübergangsstelle in Planung gegeben. Mit dem Bau dieser Grenzübergangsstelle wurde 1972 begonnen, 74 im Herbst eingeweiht, und da war also nichts mehr, wo man sagen könnte, da kann man irgendwo noch mal rumrutschen oder mal ne andere Spur fahren, hier war alles so gut abgeschirmt, dass keiner raus konnte, der nicht raus wollte."

Dilling geht weiter. Zügiger Schritt, entschlossener Blick. Die Gruppe hastet hinterher. Insgesamt 35 Hektar groß ist das Gelände der GüSt Marienborn. Zwischen 1985 und 89 passieren mehr als 34 Millionen Reisende die Grenze. Bis zur Wende kontrollieren hier insgesamt 1000 Beamte Pässe, patrouillieren an der Grenze, untersuchen Autos. Die meisten lernen sich nie kennen, es gilt äußerste Geheimhaltung.

Dilling: "Die Dienstpläne waren so aufgestellt - wie gesagt, das ist belegbar, wir haben sie oben und die liegen auch in Berlin - die Dienstpläne waren so aufgestellt, dass man sich frühestens elf Monate später hier in Marienborn – nicht in der Baracke, sondern auf dem großen Gelände Marienborn – wieder treffen konnte."

Die Teilnehmer schauen erstaunt, manche legen ungläubig die Stirn in Falten. Um den Betonplatz stehen graue, flache Häuser. Unter anderem die ehemalige Kantine, die Zollkontrolle, eine Box, in der die Grenzer West-Autos auseinander nehmen und die Pass- und Zollkontrolle für Lkw und Busse. 40 ausgebildete Spürhunde suchen hier damals nach versteckten Personen und unerlaubten Gütern. Inge Buchenau aus West-Berlin erinnert sich. Nachdenklich legt die zarte 65-Jährige die Hand an ihre Wange.

Buchenau: "Man hat da immer die Hunde gehört. Daran erinnere ich mich ganz stark. Dass man immer dieses Hundegebell gehört hat. Und ich hab immer gedacht, wo sind bloß die ganzen Hunde. Bis man dann immer gesehen hat, die liefen ja überall drüber, drunter, die mussten ja auch überall schnuppern, die armen Tiere."

Günther Dilling bleibt vor acht überdachten, containerartigen Baracken stehen. Die Passkontrollen, sagt er und zeigt auf die niedrigen Blechhäuschen.

Dilling: "Man durfte ja nicht einfach reinfahren, man wurde reingewinkt. Und es passierte hier, da gibt es auch Protokolle, der BRD-Bürger hat sich renitent gezeigt, er ist nicht darauf eingegangen, zehn cm zurückzufahren. Es ging dann hier darum, dass man das Kennzeichen sehen konnte und auch die Visage von den einzelnen Leuten sehen konnte, und da hieß es, fahren Sie bitte zehn Zentimeter zurück, und dann ist er zwanzig Zentimeter gefahren, dann hieß es: Nein, wieder fünf Zentimeter nach vorne. Also, teilweise waren es Schikanen."

Die Teilnehmer der Gruppe nicken zustimmend. Viele von ihnen kennen das aus eigener Erfahrung. Auch Inge Buchenau. An Weihnachten, Ostern und Geburtstagen fährt sie immer wieder zu ihrer Familie nach Köln. An der GüSt Marienborn wartet sie im Winter bis zu fünf Stunden in ihrem eiskalten Auto, sagt sie und runzelt die Stirn.

Buchenau: "Funk, Waffen, Munition – wurde als erstes gefragt, ob man das dabei hat. Hatte man natürlich nicht dabei. Manchmal kam es auch vor, dass Leute direkt rausgewinkt wurden, fahr’n Sie mal rechts ran, die wurden dann besonders gefilzt. Das ist natürlich immer ein Moment, wo man in bisschen Schiss hat. Die konnten einen ja ohne Angabe von Gründen stundenlang festhalten."

Inge Buchenau folgt Günter Dilling in eine der acht Abfertigungsbaracken. Der zehn Quadratmeter kleine Raum wirkt eng und muffig. An den niedrigen Wänden: Regale und Fächer aus gelblichem Pressspan. Am Boden: abgenutzter, grüner Plastikbelag. Eine Besucherin schiebt eine Luke in der Wand auf und zu – hier werden zu DDR-Zeiten die Pässe durchgereicht. Sie lacht amüsiert, wirkt gleichzeitig fassungslos.

Frau 1: " Ach du liebe Zeit!"
Frau 2:" Andrea, blöd war’s auch immer, wenn du dann davor standest und hattest deine Sachen abgegeben, und dann ging das Ding wieder zu. Was passiert jetzt, ne?"
Frau 1: "Jetzt wird es erstmal vernichtet."
Frau 2: "Nie wieder!"

Günter Dilling geht zum Schreibtisch neben dem Fenster. Über ein 50 Meter langes Förderband kommen hier die Pässe in einer roten Kunstledermappe an. Die Grenzer – alles Angehörige der Staatssicherheit – prüfen sie, halten sie unter eine Videokamera. Das Bild archiviert die Stasi. Dann werden die Dokumente in eines der unzähligen Holz- Fächer eingeordnet. Die sind beschriftet: unter anderem BRD für die Bundesrepublik, WB für West-Berlin und S für "Sonstige".

Dilling: "Dazu gehörte zum Beispiel Karl-Eduard von Schnitzler. Der ist ja nicht mit seinem Reisepass gefahren, sondern der ist mit seinem Diplomaten-Ausweis gefahren. Ja, aber man wollte ja auch wissen, ob der echt war. Auch Egon Krenz ist etliche Male über Marienborn gefahren, auch mit nem Diplomatenpass, und da wollte man natürlich sehen, ob der echt ist."

Dilling zeigt auf ein weiteres Fach. Blass erkennt man die Aufschrift: "Kairo". Hier landet damals auch Dillings Pass.
Dilling: "Kairo. Palästina. Unruhiges Land, unruhiger Staat, unruhige Leute, und du bist ja auch kein ganz Ruhiger gewesen. Aber hier lag auch Ulrike Meinhof. Und wenn das alles gut gegangen war, ging das alles hier raus, in den äußeren Glaskasten da, und dann kriegte man seine Papiere wieder, Stempel war drin, und dann durften Sie weiterfahren. Und dann gehen wir wieder raus."

Die Gruppe verlässt den Abfertigungscontainer. Eine Frau mit roten, kurzen Haaren bleibt noch einen Moment vor der Baracke stehen. Es ist Renate Schatt aus Berlin, 68. Bei der Grenzüberquerung in den Westen fühlt sie sich damals oft von den Sicherheitsbeamten schikaniert, hat ein mulmiges Gefühl, sagt sie und schaut ihre Freundin an.

Schatt: "Aber ich hab auch schon nette - ich hab gerade meiner Freundin erzählt - auch nette Sachen, positive Sachen. Ich hatte nen Triumph gehabt, und wenn der stand, dann wollte der nicht immer gleich anspringen. Und man musste ja immer so stückweise fahren, so zehn-Meter-weise, das hat er dann dreimal gemacht, beim vierten Mal sprang er dann nicht mehr an. Und da kamen dann auch VoPos und haben geschoben. Und haben mich sogar bis an die Grenze geschoben und haben gesagt, weiter dürfen sie hier jetzt leider nicht, den Rest müssen Sie bis wenigstens über die Grenze rüber schieben und dann müssen Sie sehen, was Sie dann da machen."

Renate Schatt und ihre Freundin laufen der Gruppe hinterher über den riesigen Betonplatz. Etwas abseits des Stabsgebäudes, der Kantine und der Wechselstube: Überreste einer weiteren, grauen Baracke. Hier steht zu Grenz-Zeiten die Gammakanone. Sie durchleuchtet mit radioaktiver Strahlung die Fahrzeuge nach versteckten Personen. Unterirdisch gibt es ein Tunnelsystem, erzählt Dilling, zweieinhalb Kilometer lang. Von hier haben die Grenzer zu allen Häusern Zugang, auch zu den Lichttürmen. Dann zeigt er auf ein weiteres Haus: Die Leichenhalle.

Dilling: "Ich hab meine Frau nach Berlin bringen wollen, links ist ein breiter Tisch, auf dem wurde der Sarg ausgepackt, aufgemacht, und dann wurde gefragt, ist das Ihre Frau. Ich sage: Ja. Sarg wieder zu, und dann konnten wir wieder weiterfahren. War bloß ein blödes Gefühl. Der griff so meiner Frau in den Arm, ob sie noch lebt. Dazu kam dann, dass wir nach der Wende erfahren haben, dass hier richtige Geschäfte gemacht worden sind. Ein Major der Staatssicherheit, der wohnt heute ein Stückchen weiter von hier, drei Kilometer weiter weg, und ein Bestattungsunternehmer aus Magdeburg haben hier Geschäfte gemacht. Für 11.000 D-Mark konnten Sie hier in den 70er Jahren eine gesunde, lebende Leiche durch Marienborn ausschleusen Richtung Westen."

Die Gruppe schaut bedrückt, verabschiedet sich, steigt in den Bus. Nächste Station: Hötensleben. 15 Minuten Fahrt in Richtung Süden, dann stehen die Exkursionsteilnehmer am Grenzdenkmal. Es ist ländlich: grüne Wiesen, viele Bäume. Eine Idylle, wäre da nicht die Sperranlage; in ihrer Größe die einzig original erhaltene in Deutschland. Knapp zwei Kilometer lang und 250 Meter breit. Zum Westen hin: Die drei Meter hohe Mauer.

Küchenmeister: "Ich frag Sie mal, ist das hoch, wenn man da jetzt hier rüberschaut?"

Daniel Küchenmeister, Historiker und Mitorganisator der Exkursion, zeigt auf die Mauer. Die Gruppe schätzt die Höhe ab – die drei Meter sieht man ihr aus dieser Entfernung nicht an.

Küchenmeister: "Würde sich das jemand von Ihnen zutrauen, wenn er es denn schon bis hierhin geschafft hätte, rüberzuklettern?"

Ein Teenager meldet sich. Jeans, Turnschuhe, hoch gegelte Haare. Er schlendert lässig auf die Mauer zu, Hände in den Hosentaschen.

Küchenmeister: "Dann geh mal vor bitte, stell dich mal bitte daneben, geh mal da rüber, da, wo der Weg ist, und dann spring mal hoch, ich will nämlich was demonstrieren. Mach mal. Nicht da, wo die Haken sind, komm mal weiter hier rüber."

Neben der Mauer sieht der Junge klein aus, reicht ungefähr bis zur Hälfte, versucht hochzuspringen – vergeblich.

Küchenmeister: "So, jetzt sieht die Welt schon ganz anders aus. Er versucht, darüber zu kommen."
Mann: "Das wird schwer."
Küchenmeister: "Und er wird es auch deshalb nicht schaffen, weil, oben auf der Mauer - die hat ne Höhe von drei Metern - sind diese Röhren, so dass es nicht möglich ist, rüber zu greifen."

Der Junge gibt nicht auf, versucht weiter, auf die Mauer zu kommen. Küchenmeister wendet sich der Gruppe zu. Die Grenzanlage heißt im Fachjargon "Pioniertechnische Anlage", sagt er. Der sportliche 52-Jährige mit den kurzen, grauen Haaren zeigt auf den breiten Streifen zwischen Hinterland- und Grenzmauer.

Küchenmeister: "Die Bevölkerung wurde meistens damit vertröstet, dass die Hinterlandsmauer dazu da ist, dass die Leute aus dem Westen sie nicht sehen können. Also, dass der Feind nicht einblicken kann. Aber die Hauptanstrengung der Grenztruppen bestand darin, die Bewegung von Ost nach West zu verhindern. Wenn man sich die Anlagen sehr genau anguckt, dann sieht man das."

Die Gruppe studiert schweigend die zwei Kilometer lange Anlage. Hinter der Mauer gen Osten: Stahlhöcker, um Fahrzeuge aufzuhalten. Ein sechs Meter breiter, frisch gepflügter Erdstreifen, um Fußspuren zu erkennen. Dahinter: ein unbewachsenes, gut einsehbares Gebiet mit schlanken, hohen Lichtmasten, das "Sicht- und Schussfeld für ungehinderte Sicht und Feuerführung". Dann ein 2,40 Meter hoher Grenzsicherungs- und Signalzaun aus Streckmetall und Signaldrähten. Noch ein Erdstreifen, um Fußspuren zu erkennen und schließlich die "Sichtblendmauer als Bewegungs- und Sichthindernis", drei Meter hoch und ebenfalls beleuchtet. Alles verteilt auf 250 Metern. Direkt hinter der Grenze auf der Ostseite: kleine Häuser. Hier beginnt die Ortschaft Hötensleben. Renate Schatt schüttelt entsetzt den Kopf.

Schatt: "Wie groß solch eine Anlage ist, wie viel man von dem Land eigentlich auch vergeudet hat, für ne Sicherung! Ein antifaschistischer Grenzstreifen, aber die Warnmeldungen waren auf der Ostseite, da hat man ja überhaupt noch nie so drüber nachgedacht. Die hätten ja auf der Westseite eigentlich sein müssen, denn sie hatten ja Angst, wir kommen rüber, und nicht umgekehrt, ne?"

Die Rentnerin folgt Daniel Küchenmeister einen grün bewachsenen Hügel hinauf. Hier steht der Wachturm, auch "Führungsstelle" genannt. Zehn Meter hoher Beton, oben eine Plattform mit Rundum-Fenstern, Flachdach. Von hier aus übersieht man die gesamte Grenzanlage. Küchenmeister schaut die Gruppe nachdenklich an. Er selbst war damals Grenzsoldat.

Küchenmeister: "Die Leute, die den Grenzdienst hier draußen ausgeübt haben, standen ständig unter Druck. Sie standen nicht nur ständig unter Druck durch diesen ständigen Wechsel des Rhythmus – Frühschicht, Spätschicht, Frühschicht usw., sondern sie standen auch psychisch unter Druck. Wenn man da oben steht oder sich zwischen diesen Mauern bewegt, überkommt einen doch so etwas wie Zweifel, Angst, Nachdenklichkeit, die man aber gleichzeitig verdrängt."

Die DDR-Grenzsoldaten sind zwischen 18 und 24, viele absolvieren hier ihren Grundwehrdienst. Sechs Monate Ausbildungslager, anschließend stehen sie zwölf Monate auf dem Turm. Den Dienst zu verweigern, traut sich fast niemand. Zu groß ist die Angst vor Verboten und Konsequenzen: Kein Studium, keine Ausbildung, keine Zukunft. Also nehmen die jungen Rekruten es auf sich, im Notfall schießen zu müssen. Auch auf Kameraden – insgesamt 3000 versuchen zu flüchten.

Küchenmeister: "Ich kann es in aller Eindeutigkeit noch mal sagen: So etwas wie einen Schießbefehl gab es, weil die Soldaten, die rausgeschickt wurden an die Grenze, die bekamen immer eine Formulierung: Grenzverletzer sind festzunehmen oder zu vernichten. Wenn man diese Anlage hier sieht, wenn man weiß, dass die Grenzsoldaten eine Maschinenpistole mit 60 Schuss mit sich hatten - der Auftrag war eindeutig."

Die Angaben über die Zahl der Mauertoten gehen weit auseinander. Manche sprechen von 450, andere von 1200, sagt Küchenmeister und steckt die Hände in seine dunkelblaue Allwetter-Jacke.

Küchenmeister: "Die Differenz ist ziemlich groß. Viele Tote an der Grenze hier wurden nicht als solche bezeichnet, sondern die Akten wurden so gefärbt, gefälscht, dass sie als Mauertote nicht erkennbar sind, auch heute, auch bei gründlicher Untersuchung. Die Zahl von 1200 scheint mir realistisch."

Küchenmeister: "Wir können mal hoch gehen."
Mann: "Der Führer geht voran."
Küchenmeister: "Folgendes: Aufwärts und Abstand zum Nächsten lassen, die Treppen sind sehr steil."

Der Wachturm von innen. Die Gruppe steigt die steile Treppe aus Metall hoch zum ersten Stock. In einem fensterlosen Raum stehen einfache Etagenbetten aus Holz. Weiter oben: die Aussichtsplattform. Die Teilnehmer der Gruppe drängen sich, stehen Schulter an Schulter in dem kleinen Raum, höchstens acht Quadratmeter. Ein Schreibtisch, eine Dachluke, rundherum Fenster. Küchenmeister geht einen Schritt zum Fenster, verharrt kurz, dann dreht er sich zu den Teilnehmern.

Küchenmeister: "Das ist hier ein typischer Turm, wie man ihn sich vorstellen kann. Das hier war auch ein Führungspunkt, wie es sich nannte, wo Offiziere bzw. Unteroffiziere den Grenzabschnitt in unterschiedlicher Länge – Terminus technicus – 'geführt' haben. Die Betten hier unten waren für die Alarmgruppe. Wenn es entsprechende Gründe gab, Auslösung eines Signalzauns oder dergleichen, dann fuhren die mit ihren Jeeps, Einsatzwagen, dann zu der Stelle."

Meist sind es Hasen, die den Alarm auslösen, sagt Küchenmeister. Die Besucher schauen durch die Fenster nach draußen auf das leere, frei vor ihnen liegende "Sicht- und Schussfeld". Reglose Gesichter. Acht Stunden lang schauen die Soldaten damals in eine einzige Richtung, zum Teil müssen sie raus aufs Dach, auch im Winter. Der Dienst ist unendlich langweilig, erzählt der Historiker und zeigt auf kleine Zeichen in der Betonwand.

Küchenmeister: "Hier steht zum Beispiel 'EK 35 A'. Also, hier geht’s einfach darum, wann ist Schluss, die Anzahl der Tage. Das wichtigste ist, klar, der Entlassungstermin. Aber hier spielte es ne doppelte Rolle, weil man der Situation entkommen wollte. Denn damit war man raus. Wir haben bei den Grenztruppen auch ne relativ höhere Rate als üblich an psychischen Erkrankungen und Selbstmorden. Die politische Auswahl hat auch das nicht kompensieren können. Das ist lange Zeit bestritten worden, aber entsprechende Untersuchungen belegen das."

Wieder draußen vorm Turm. Die Teilnehmer schauen bedrückt auf die riesige Grenzanlage. 45.000 Soldaten haben hier damals ihren Dienst verrichtet, alle Angehörige der NVA, der Nationalen Volksarmee. Viele davon im sogenannten rückwärtigen Dienst, Köche, Ärzte und Artillerieregimenter, sagt der Historiker. Er selbst, als ehemaliger Grenzsoldat, hat noch heute immer wieder den einen Traum – ein Relikt aus seiner Dienstzeit.

Küchenmeister: "Es war ungefähr 20 Jahre nach meiner Entlassung von der Armee, da wachte ich in unregelmäßigen Abständen aber über lange Zeit immer wieder auf und hatte das Gefühl, dass ich selber diese Luke von diesem Aufstieg öffne und ohne Ansehen, wer dort hoch kommt, sofort abdrücke. Das zeigt, dass wir, die wir hier, die wir zwischen den Zäunen standen, in einer psychischen Überforderung waren. Das ist eigentlich ein Traum einer Kriegsituation."

Die Besucher schweigen, manche haben ihr Kinn in die Hand gestützt, schauen skeptisch. Küchenmeister reagiert. Diese Bauwerke stehen für ein grausames Regime, sagt er, aber es waren Menschen, die sie betrieben haben.

Küchenmeister: "Darüber, denke ich, muss man reden: Was war es für eine Situation, in der junge Menschen zwischen diesen beiden Welten standen und eigentlich nicht wirklich nen Ausweg wussten. Jetzt sage ich nicht, bedauert mich, sondern ich sage, das muss man weitergeben. Solche Situationen dürfen nicht wieder eintreten."

Küchenmeister macht sich auf den Weg zurück zum Bus. Die Hälfte der Gruppe folgt ihm, die andere bleibt stehen, betrachtet noch eine Weile den Turm. Auch Renate Schatt.

Schatt: "Das erinnert mich ja an meine früheste Kindheit, als man in den Keller ging, wenn die Bomben fielen. Keine Fenster drin, gar nichts drin, alles dunkel, oben natürlich anders. Man kann das auch gar nicht nachvollziehen, wenn man da oben steht und man muss acht Stunden gucken und ist im Grunde genommen zur Untätigkeit verdonnert, aber zur untätigen Aufmerksamkeit, das finde ich ganz schön schwierig."

Die Rentnerin setzt sich auf eine Bank hinter dem Turm, lässt das Erlebte Revue passieren. Beeindruckt hebt sie die Augenbrauen. So eine Tour sollte man in den Stundenplan jedes Schülers aufnehmen, sagt sie.

Schatt: "Ganz besonders beeindruckend fand ich die Erzählung von dem Herrn Küchenmeister und seiner Zeit als Grenzsoldat. Man denkt ja immer, hier waren nur Leute, die 1000-prozentig waren, und die sich freiwillig als Grenzer gemeldet haben, damit sie mal so richtig loslegen konnten. Aber er hat’s ja nun ganz anders erzählt."

Renate Schatt steht auf, geht mit ihrer Freundin den Hügel hinab in Richtung Bus. Ein letzter Blick auf die Mauer, die Zäune, die frisch gepflügten Erdstreifen, die schlanken Lichtmasten.

Schatt: "Es kommen einem Erinnerungen wieder, was man eigentlich schon vergessen hatte, ne. Wenn man jetzt wieder diese Riesen-Anlage sieht, also, keiner von uns hat es sich vor siebzehneinhalb Jahren träumen lassen, dass das nicht für die Ewigkeit gebaut war. Das war ja zum Schluss so durchorganisiert, dass man gedacht hat, das ist für immer. Wenn Freunde gesagt haben, ach, die fällt auch irgendwann, die Mauer, dann hab ich gesagt, na ich erleb das ganz bestimmt nicht mehr. Das kann nicht sein."

Renate Schatt schüttelt den Kopf. Wie schnell man sich daran gewöhnt, dass die Mauer nicht mehr da ist. Dabei haben wir sie 30 Jahre lang als etwas ebenso Normales hingenommen, sagt sie und steigt schweigend in den Bus.