Schiitisches Recht ist reformierbar
Anders als der sunnitische Islam, dem 90 Prozent der Muslime angehören, kennt der schiitische Islam eine klerikale Hierarchie. Und es zählt zu den Grundlagen des schiitischen Glaubens, dass sich jeder Gläubige eine sogenannte "Quelle der Nachahmung" suchen muss, deren Anweisungen er Folge leisten muss.
Dem schiitischen Islam wohnt durch diese Autoritätsgläubigkeit ein größeres Potenzial zur Modernisierung inne als dem sunnitischen Islam. Denn er hat mehr Möglichkeiten, Veränderung von oben durchzusetzen. Ein Beispiel für die Anpassungsfähigkeit des schiitischen Rechts ist die Rechtsfortbildung, die der Mann betreibt, der vermutlich zurzeit über die größte Anhängerschaft unter den Schiiten verfügt. Die Rede ist von Ayatollah Ali Sistani, der im irakischen Najaf lebt. Sistani hat eine interessante Position zum säkularen Recht entwickelt. Historisch betrachtet ist auch hier die Bandbreite der Positionen groß. Ayatollah Khomeyni beispielsweise meinte, dass ausschließlich das islamische, göttliche Recht angewandt werden müsse. Ein Parlament sei keine gesetzgebende Instanz, sondern nur dazu da, sich mit den Fragen zu beschäftigen, zu denen sich das göttliche Recht nicht äußert - der Straßenverkehrsordnung zum Beispiel.
Ali Sistani sieht das anders: Eines seiner wirkungsmächtigsten Bücher ist sein rechtswissenschaftlicher Leitfaden für Muslime im Westen. Sistani sagt hier, dass die Gläubigen sich einer säkularen Gesetzgebung unterstellen dürfen. Denn wer mit einem Visum in ein Land gelange, habe sich dazu vertraglich verpflichtet. Andere Geistliche argumentieren dagegen, ein Muslim sei eben gerade nicht verpflichtet, sich an nicht-islamisches Recht zu halten und dürfe es umgehen. Doch laut Sistani sind nicht nur eklatante Gesetzesbrüche wie Diebstahl und Mord tabu. Bei Sistani heißt es im Detail: "Es ist niemandem erlaubt, etwas auf der Straße in einem muslimischen oder nicht-muslimischen Land zu hinterlassen, das den Fußgängern oder anderen schaden könnte." Oder: "Es ist einem Moslem nicht erlaubt, Plakate an Wände, die jemand anderem gehören, zu kleben oder sie zu beschreiben." Sistani verlangt vom Gläubigen, dass er sich an sämtliche Gesetze und Anordnungen ohne Ausnahme zu halten habe, denn: pacta sunt servanda. Und einmal geschlossene Verträge stehen für ihn sogar in der Hierarchie der einzuhaltenden Gebote über dem islamischen Recht. Man muss sich an säkulares Recht halten, auch wenn es das ist, was es ist, nämlich "nur" von Menschen gemachtes Recht.
Diese Haltung lässt Sistani als Modernisten erscheinen, der das islamische Recht fortentwickelt und den Gegebenheiten der Welt von heute anpasst. Rein theoretisch wäre durch die Art der Rechtsfortbildung, die Sistani betreibt, ein Rahmen gegeben, wie das islamische Recht mit vielen Errungenschaften des westlichen Rechtssystems in Einklang gebracht werden könnte. So könnten auch die vollständige Gleichberechtigung der Frau, Freiheitsrechte etc. mit dem Argument durchgesetzt werden, dass sie jetzt vertraglich festgelegt würden und niemand mehr dahinter zurückgehen dürfe.
Allerdings würde dies voraussetzen, dass Sistani liberaler ist, als er ist. Denn Sistani ist zwar Autorität genug, um Reformen durchzusetzen, und er hält als Meister seines Fachs alle Instrumente dazu in der Hand. Doch er ist ein Konservativer. In Fragen wie beispielsweise den Rechten von Homosexuellen ist auf Sistani nicht zu bauen. Dennoch belegt sein Beispiel, dass es grundsätzlich genug Instrumentarien zur Modernisierung des islamischen Rechts gibt.
Katajun Amirpur, geboren 1971 in Köln, wo sie als Journalistin arbeitet. Sie befasst sich vor allem mit schiitischer Theologie.
Ali Sistani sieht das anders: Eines seiner wirkungsmächtigsten Bücher ist sein rechtswissenschaftlicher Leitfaden für Muslime im Westen. Sistani sagt hier, dass die Gläubigen sich einer säkularen Gesetzgebung unterstellen dürfen. Denn wer mit einem Visum in ein Land gelange, habe sich dazu vertraglich verpflichtet. Andere Geistliche argumentieren dagegen, ein Muslim sei eben gerade nicht verpflichtet, sich an nicht-islamisches Recht zu halten und dürfe es umgehen. Doch laut Sistani sind nicht nur eklatante Gesetzesbrüche wie Diebstahl und Mord tabu. Bei Sistani heißt es im Detail: "Es ist niemandem erlaubt, etwas auf der Straße in einem muslimischen oder nicht-muslimischen Land zu hinterlassen, das den Fußgängern oder anderen schaden könnte." Oder: "Es ist einem Moslem nicht erlaubt, Plakate an Wände, die jemand anderem gehören, zu kleben oder sie zu beschreiben." Sistani verlangt vom Gläubigen, dass er sich an sämtliche Gesetze und Anordnungen ohne Ausnahme zu halten habe, denn: pacta sunt servanda. Und einmal geschlossene Verträge stehen für ihn sogar in der Hierarchie der einzuhaltenden Gebote über dem islamischen Recht. Man muss sich an säkulares Recht halten, auch wenn es das ist, was es ist, nämlich "nur" von Menschen gemachtes Recht.
Diese Haltung lässt Sistani als Modernisten erscheinen, der das islamische Recht fortentwickelt und den Gegebenheiten der Welt von heute anpasst. Rein theoretisch wäre durch die Art der Rechtsfortbildung, die Sistani betreibt, ein Rahmen gegeben, wie das islamische Recht mit vielen Errungenschaften des westlichen Rechtssystems in Einklang gebracht werden könnte. So könnten auch die vollständige Gleichberechtigung der Frau, Freiheitsrechte etc. mit dem Argument durchgesetzt werden, dass sie jetzt vertraglich festgelegt würden und niemand mehr dahinter zurückgehen dürfe.
Allerdings würde dies voraussetzen, dass Sistani liberaler ist, als er ist. Denn Sistani ist zwar Autorität genug, um Reformen durchzusetzen, und er hält als Meister seines Fachs alle Instrumente dazu in der Hand. Doch er ist ein Konservativer. In Fragen wie beispielsweise den Rechten von Homosexuellen ist auf Sistani nicht zu bauen. Dennoch belegt sein Beispiel, dass es grundsätzlich genug Instrumentarien zur Modernisierung des islamischen Rechts gibt.
Katajun Amirpur, geboren 1971 in Köln, wo sie als Journalistin arbeitet. Sie befasst sich vor allem mit schiitischer Theologie.