Schicksalsgemeinschaft freier Bürger?
Das ist wie bei Grippewellen: Sie kommen regelmäßig, stets in Begleitung von fiebrigen Erregungszuständen, man kennt die Auslöser nicht so ganz genau, und sie hinterlassen regelmäßig allgemeine Ratlosigkeit. So ist das auch mit den Leitkultur-Debatten.
Angefangen hat das alles mit Jörg Schönbohm. Der hat 1998 als Berliner Innensenator von der deutschen Leitkultur gesprochen. Zwar ist Schönbohm nicht verdächtig, wissenschaftliche Traktate zu lesen, aber irgendwie muss dieser Begriff aus Göttingen zu ihm rübergeweht sein. Professor Bassam Tibi hatte 98 in seinem Buch "Europa ohne Identität" eine "europäische Leitkultur" gefordert, die gegen einen vermeintlich wertneutralen Multikulturalismus gesetzt werden sollte. Der Kontext ist bei Tibi eindeutig: Gemeint ist die Abwehr islamistischer Strömungen. Seither gilt: "Leitkultur" ist ein Kampfbegriff, so harmlos er auch daherkommen mag.
So harmlos wie Tibis Definition, dessen "Leitkultur" sich an Aufklärung und französischer Revolution orientieren und einen gemeinsamen Nenner für das Zusammenleben von Migranten und Deutschen bilden soll. Wer würde dem widersprechen wollen: Jede Gesellschaft muss im lebendigen Dialog eine Basis finden, wie miteinander zu leben sei. Und dieser Dialog gerinnt üblicherweise in einer Satzung, in einer niedergeschriebenen Rechtsordnung. Ist das gemeint? Aber nein. Im politischen Diskurs wird das Drohpotential des Begriffs "Leitkultur" sehr wohl verstanden und operativ eingesetzt. "Es geht im Wesentlichen darum, dass die hier lebenden Ausländer auch bereit sind, sich einer deutschen Leitkultur anzuschließen." Das ist ein Satz von Friedrich Merz. Der im Jahre 2000 die Leitkultur-Debatte mit dieser Anschluss-Metaphorik auflud.
Angela Merkel versuchte, das alles zu verstehen, indem sie zunächst in allerschönster Geschichtsvergessenheit die Sozis als "vaterlandslose Gesellen" bezeichnete, dann die multi-kulturelle Gesellschaft für gescheitert erklärte und dann doch irgendwie merkte, dass was nicht stimmte. "Natürlich müssen wir überlegen, was bedeutet Leitkultur", sinnierte sie. Um hinzuzufügen: "Es ist in der Debatte, und deshalb muss es ausgefüllt werden." So funktioniert Politik: Erst die Worthülse, dann die Füllung. Im Herbst 2003, als der Fall Martin Hohmann die Union erschütterte, versprach Angela Merkel dann eine "Debatte über Nationalstolz und Patriotismus". Die wiederum im Nichts verebbte. Und nun, beim CDU-Grundsatzprogramm, wieder auftaucht.
Mit den bekannten verbalen Versatzstücken. Die heißen "Nation", "Patriotismus", "Schicksalsgemeinschaft". Stolz auf das Gemeinwesen und ein klares Bekenntnis zur "Schicksalsgemeinschaft freier Bürger" sind danach Voraussetzungen für Integration und Teilhabe. Was für ein Schmarren. Da feiert die verschmockte Sonntagsrede verkrampft fröhliche Urständ. Zwar wird so was nur im CDU-Programm stehen, tut also nicht besonders weh. Aber es soll ja allgemeinen Geltungsanspruch haben.
Das Dilemma dabei: Der Globalisierungsstress, das Migrantenproblem, der Abbau des Sozialstaates führen dazu, dass gesellschaftlicher Zusammenhalt sich nicht mehr über ökonomisches Wohlbefinden definiert. Also muss etwas "von oben" kommen, muss Ideologie, müssen Begriffe her. "Leitkultur" ist ein solcher, und weil er so ideologisch aufgeladen ist, ist er nicht zu retten. Denn er meint eben nicht Integration, sondern Assimilation, nicht Dialog, sondern Diktat. Noch hilfloser kann man das vermeintlich bedrohte Abendland nicht verteidigen.
Integration wäre dagegen etwas ganz anderes: Nämlich eine Verständigung über Selbstverständlichkeiten. In einer Gesellschaft dürfen alle tun, was sie wollen, solange sie die Rechtsordnung beachten. Alle müssen Steuern zahlen, ihr Auto anmelden, ihre Kinder zur Schule schicken. Es ist verboten, nach zehn Uhr Lärm zu machen, Fremde zu jagen, Bomben zu legen, Synagogen anzuzünden und Obdachlose zu töten. Für jeden deutschen Staatsbürger. Es ist verboten, sein Kind zu Tode zu quälen und in einer Tiefkühltruhe abzulegen. In Bremen und anderswo. Muslime dürfen Fleisch geschächteter Tiere essen, solange das Tierschutzgesetz nichts anderes sagt. Zwangsehen, Tötung von unwilligen Bräuten, Beschneidung von Mädchen, Zwangsprostitution, Zigarettenschmuggel, Altöl in der Frittenbude – all das ist verboten. Für alle. Ich muss keine nebulöse "Werteordnung" formulieren, keine "Leitkultur", solange das Grundgesetz und alle anderen Gesetze gelten. Und sie gelten. Niemand muss dazu ein Bekenntnis ablegen. Alle müssen sich daran halten. Nicht kulturelle Assimilation ist gefragt, sondern zivilisatorische Integration. Diese Selbstverständlichkeit immer wieder zu diskutieren und im Dialog aller mit allen zu affimieren, das macht eine Gesellschaft stark. Alles andere ist Geschwätz. Dazu will die CDU mal wieder einen kräftigen Beitrag leisten.
Dr. Peter Zudeick, Journalist, Buchautor, langjähriger Korrespondent in Bonn und jetzt in Berlin, Buchveröffentlichungen u.a. "Der Hintern des Teufels. Ernst Bloch - Leben und Werk", "Alternative Schulen" und "Saba - Bilanz einer Aufgabe".
So harmlos wie Tibis Definition, dessen "Leitkultur" sich an Aufklärung und französischer Revolution orientieren und einen gemeinsamen Nenner für das Zusammenleben von Migranten und Deutschen bilden soll. Wer würde dem widersprechen wollen: Jede Gesellschaft muss im lebendigen Dialog eine Basis finden, wie miteinander zu leben sei. Und dieser Dialog gerinnt üblicherweise in einer Satzung, in einer niedergeschriebenen Rechtsordnung. Ist das gemeint? Aber nein. Im politischen Diskurs wird das Drohpotential des Begriffs "Leitkultur" sehr wohl verstanden und operativ eingesetzt. "Es geht im Wesentlichen darum, dass die hier lebenden Ausländer auch bereit sind, sich einer deutschen Leitkultur anzuschließen." Das ist ein Satz von Friedrich Merz. Der im Jahre 2000 die Leitkultur-Debatte mit dieser Anschluss-Metaphorik auflud.
Angela Merkel versuchte, das alles zu verstehen, indem sie zunächst in allerschönster Geschichtsvergessenheit die Sozis als "vaterlandslose Gesellen" bezeichnete, dann die multi-kulturelle Gesellschaft für gescheitert erklärte und dann doch irgendwie merkte, dass was nicht stimmte. "Natürlich müssen wir überlegen, was bedeutet Leitkultur", sinnierte sie. Um hinzuzufügen: "Es ist in der Debatte, und deshalb muss es ausgefüllt werden." So funktioniert Politik: Erst die Worthülse, dann die Füllung. Im Herbst 2003, als der Fall Martin Hohmann die Union erschütterte, versprach Angela Merkel dann eine "Debatte über Nationalstolz und Patriotismus". Die wiederum im Nichts verebbte. Und nun, beim CDU-Grundsatzprogramm, wieder auftaucht.
Mit den bekannten verbalen Versatzstücken. Die heißen "Nation", "Patriotismus", "Schicksalsgemeinschaft". Stolz auf das Gemeinwesen und ein klares Bekenntnis zur "Schicksalsgemeinschaft freier Bürger" sind danach Voraussetzungen für Integration und Teilhabe. Was für ein Schmarren. Da feiert die verschmockte Sonntagsrede verkrampft fröhliche Urständ. Zwar wird so was nur im CDU-Programm stehen, tut also nicht besonders weh. Aber es soll ja allgemeinen Geltungsanspruch haben.
Das Dilemma dabei: Der Globalisierungsstress, das Migrantenproblem, der Abbau des Sozialstaates führen dazu, dass gesellschaftlicher Zusammenhalt sich nicht mehr über ökonomisches Wohlbefinden definiert. Also muss etwas "von oben" kommen, muss Ideologie, müssen Begriffe her. "Leitkultur" ist ein solcher, und weil er so ideologisch aufgeladen ist, ist er nicht zu retten. Denn er meint eben nicht Integration, sondern Assimilation, nicht Dialog, sondern Diktat. Noch hilfloser kann man das vermeintlich bedrohte Abendland nicht verteidigen.
Integration wäre dagegen etwas ganz anderes: Nämlich eine Verständigung über Selbstverständlichkeiten. In einer Gesellschaft dürfen alle tun, was sie wollen, solange sie die Rechtsordnung beachten. Alle müssen Steuern zahlen, ihr Auto anmelden, ihre Kinder zur Schule schicken. Es ist verboten, nach zehn Uhr Lärm zu machen, Fremde zu jagen, Bomben zu legen, Synagogen anzuzünden und Obdachlose zu töten. Für jeden deutschen Staatsbürger. Es ist verboten, sein Kind zu Tode zu quälen und in einer Tiefkühltruhe abzulegen. In Bremen und anderswo. Muslime dürfen Fleisch geschächteter Tiere essen, solange das Tierschutzgesetz nichts anderes sagt. Zwangsehen, Tötung von unwilligen Bräuten, Beschneidung von Mädchen, Zwangsprostitution, Zigarettenschmuggel, Altöl in der Frittenbude – all das ist verboten. Für alle. Ich muss keine nebulöse "Werteordnung" formulieren, keine "Leitkultur", solange das Grundgesetz und alle anderen Gesetze gelten. Und sie gelten. Niemand muss dazu ein Bekenntnis ablegen. Alle müssen sich daran halten. Nicht kulturelle Assimilation ist gefragt, sondern zivilisatorische Integration. Diese Selbstverständlichkeit immer wieder zu diskutieren und im Dialog aller mit allen zu affimieren, das macht eine Gesellschaft stark. Alles andere ist Geschwätz. Dazu will die CDU mal wieder einen kräftigen Beitrag leisten.
Dr. Peter Zudeick, Journalist, Buchautor, langjähriger Korrespondent in Bonn und jetzt in Berlin, Buchveröffentlichungen u.a. "Der Hintern des Teufels. Ernst Bloch - Leben und Werk", "Alternative Schulen" und "Saba - Bilanz einer Aufgabe".

Peter Zudeick© WDR